Land aus Schnee und Asche (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
300 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77067-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Land aus Schnee und Asche - Petra Rautiainen
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Finnland 1947: Die Journalistin und Fotografin Inkeri lässt sich in einem kleinen Ort in Westlappland nieder, um den Wiederaufbau des durch den Krieg verwüsteten Landes zu dokumentieren. Die junge Samí Bigga-Maja und ihr Großvater eröffnen Inkeri den Einblick in eine Kultur und Lebensweise, die im Zuge des Wiederaufbaus von den Finnen unterdrückt zu werden droht. Und gleichzeitig ist Inkeri aus persönlichen Motiven in Lappland: Sie will herausfinden, was mit ihrem Mann geschehen ist, der während des Krieges spurlos verschwand. Als ihr ein Tagebuch aus Kriegszeiten in die Hände fällt, scheint sie das Rätsel endlich lösen zu können ...

In Petra Rautiainens kraftvollem und bewegenden Debüt steht die Schönheit des arktischen Lapplands den brutalen Machenschaften der Nazis und ihrer finnischen Kollaborateure gegenüber. Ein spannungsgeladener und gleichzeitig tief poetischer Roman, der sich der Wahrheit der Vergangenheit stellt und geschehenes Unrecht wiedergutzumachen versucht.



<p>Petra Rautiainen, geboren 1988 in einem kleinen Dorf in Ostfinnland, hat Geschichte und Kulturwissenschaft studiert und promoviert aktuell über die mediale Repräsentation der Samí. <em>Land aus Schnee und Asche</em> ist ihr Debütroman.</p>

ENONTEKIÖ, 1947


Es war Viertel vor elf, als Inkeri vor dem ochsenblutroten Haus hielt. Die Mitternachtssonne stand auf der Höhe der Fjells. Sie warfen Schatten auf den See, der hinter dem Haus glitzerte. Eine Zufahrt gab es nicht, nur einen undefinierten Trampelpfad, daher musste Inkeri ihr Auto weit vor dem Haus parken. Sie betrachtete es durch die staubige Windschutzscheibe, ohne Details zu erkennen. In der Hand hielt sie das Foto, aufgrund dessen sie das Haus gekauft hatte, und nun versuchte sie, es mit dem zu vergleichen, was sie vor sich sah. Inkeri biss sich auf die Lippe und ließ das Bild sinken. Ihr Blick glitt vom Haus zu dem weißen Pelzquast mit dem leichten Goldschimmer, der am Rückspiegel hing. Sie streichelte ihn mit dem Zeigefinger. Angekommen, flüsterte sie ihm zu und lächelte ein trostloses Lächeln. Sie nahm die runde schwarze Sonnenbrille ab. Ihre Augen schmerzten. Brannten. Sie wünschte sich, woanders zu sein.

Die Fahrt aus Helsinki war lang gewesen. Sie hatte nicht nur mehrere Tage gedauert, Inkeri hatte zudem oft anhalten müssen, um wieder zu Atem zu kommen. Die Straßen waren schlecht, an einigen Stellen sogar lebensgefährlich. Die Autos rasten in alle Richtungen, und die Fahrer kümmerte es nicht, in welchem Zustand sie sich ans Steuer setzten. Auch wenn es unbedeutend schien: Das Unangenehmste war der Sandstaub. In Afrika waren Inkeri große Mengen Sand begegnet. Sie hatte dort Trockenheit und starken Wind erlebt. Sie hatte riesige Sandstürme ausgestanden, einem waren im Frühjahr 1932 mehrere ihrer Plantagenarbeiter zum Opfer gefallen. Inkeri hatte gelernt, dass Sand gefährlich war. Sie wusste, dass die fein zermahlenen Körnchen in Nase und Ohren dringen konnten, die Augen austrockneten und im schlimmsten Fall dazu führten, dass später lebenslang das Gefühl zurückblieb, etwas im Auge zu haben. Aber Inkeri hatte nicht damit gerechnet, dass es auch hier so sein würde. Überall war sie von einem unsichtbaren Staub umgeben, der heftige Hustenanfälle auslöste. Selbst die aus Schweden mitgebrachten Apfelsinen waren in Lappland innerhalb weniger Stunden vollkommen grau geworden. Erst später kam Inkeri in den Sinn, dass der Staub vielleicht Asche war.

Sie rieb sich die Augen und fokussierte ihren Blick auf das Haus. Zu ihrer Überraschung lehnte an der Wand ein alter Schweinetrog, der mit bunten Blumen bepflanzt war. Sie traute ihren Augen kaum. Auf dem Weg hierher hatte sie nirgends Blumen gesehen. Nicht mal Löwenzahn. Sie versuchte, die staubige Windschutzscheibe sauber zu wischen, doch ohne Erfolg. Sie öffnete die Tür und nahm die Kamera vom Beifahrersitz.

Es war still.

Die kleinen Blätter der Stiefmütterchen, Geranien und anderen Blumen bewegten sich im Sommerwind. Die Blüten waren so schön, dass Inkeri einen Moment lang vergaß, wo sie war und warum, aber dann drang ihr der Geruch nach verbranntem Kerosin in die Nase. Sie legte die Kamera zurück auf den Beifahrersitz, nahm eine Zigarette aus ihrer Brusttasche und holte aus dem Handschuhfach einen Flachmann. Sie stieg aus, nahm einen Schluck und zündete sich die Zigarette an. Irgendwo rief ein Vogel. Ein Kuckuck. Sein Gesang trug weit über den klaren, spiegelglatten See. Eine Stunde bis Mitternacht.

»Was stehst du da rum und lässt dich von den Mücken auffressen?«

Inkeri schreckte zusammen, als sie die schnarrende Stimme hinter sich hörte.

»Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Die Stimme lachte auf, und Inkeri drehte sich um. Vor ihr stand ein etwa siebzigjähriger Mann. Inkeri hatte sein Alter im Kaufvertrag nachgelesen. Sie zupfte ihr Hemd zurecht und stellte fest, dass ihre maßgeschneiderte schwedische Reisekleidung nach Schweiß roch.

»Hallo. Ich bin Inkeri. Inkeri Lindqvist.« Sie streckte die Hand aus.

»Ah. Du bist also die Frau Lindqvist. Die neue Hausbesitzerin.« Der Mann ergriff ihre Hand. Er trug eine blaue Sámi-Mütze mit vier Spitzen, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Inkeri kannte sie von Postkarten für Touristen.

»Ich bin Piera. Ich wollte eigentlich nur am Brunnen Wasser holen.« Er zeigte mit dem Kopf nach hinten, wo Inkeri vor einem alten Stall und dem Klohäuschen einen Brunnen erkennen konnte. Als sie den rostfarbenen Baum neben dem Brunnen sah, hob sie fragend die Augenbrauen. Der Mann warf einen kurzen Blick nach hinten.

»Man erzählt sich hier, der Baum wächst auf einer Wasserader und ist deswegen so krumm gewachsen. Auch das Haus steht anscheinend zur Hälfte auf der Ader. Also wenn man an so was glaubt, sollte man sich eine Kupferplatte unters Bett legen.«

»Ich glaube nicht an so was.« Inkeri hob das Kinn.

»Gut. Ich auch nicht«, sagte Piera fröhlich und blickte voller Neugier auf den Flachmann. »Ist das etwa richtiger, echter Schnaps?«

»Ja. Das ist Schnaps«, sagte Inkeri. Sie sah den Mann an und dann die Flasche. »Mal probieren?«

»Einen Schluck könnt ich schon vertragen. Immerhin ist es Jahre her, dass man das Zeug hier in der Gegend zuletzt bekommen hat«, sagte Piera und griff nach der Flasche. »Und? Wie war die Fahrt? Lagen an der Strecke viele Leichen?«

Er hielt Inkeri den Flachmann wieder hin. Sie nahm einen Schluck und hüstelte. Sie nickte. Auf der Route hatten viele Kreuze gestanden, die am Straßenrand für die Toten errichtet waren, für Menschen und für Tiere. Auf dem Weg von Rovaniemi nach Muonio hatte Inkeri mindestens drei Leichen an der Straße liegen sehen, dazu einige Rentiere, von denen eins halb aufgefressen war, die anderen fast komplett. Sie waren überall. Minen und Leichen.

Inkeri hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Aus dem dämmerigen Licht trat ein noch junger Mann, der auf der obersten Treppenstufe stehen blieb. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sie prüfend an. Inkeri warf einen Blick auf Piera. Er hatte einen Eimer in die Hand genommen und wollte schon an ihr vorbeigehen. Erst jetzt fiel Inkeri auf, dass Piera an der linken Hand drei Finger fehlten. Der Rest der Hand sah verbrannt aus. Piera sah Inkeris Blick.

»Bin mal vom Blitz getroffen worden«, sagte er augenzwinkernd und steckte sich eine Pfeife in den Mund. Inkeri wandte ihren Blick dem jungen Mann zu.

»Und du bist Olavi? Olavi Heiskanen?«

»Ich wollte gerade ins Bett, da hab ich Stimmen gehört«, brummelte er und kam heran, um Inkeri die Hand zu geben.

»Habe ich das richtig verstanden, dass du hier wohnen bleiben willst, als Mieter, obwohl ich selbst hier einziehe? Dann bin ich jetzt wohl deine Vermieterin.«

»Jawohl, meine Dame. Wenn es irgendwie geht«, sagte der Mann. Sie sahen sich an. Olavi nahm eine Zigarette aus der Tasche, steckte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie mit einem silbernen Feuerzeug an. Inkeri sagte nichts.

»Hier herrscht überall Wohnungsnot. Nichts ist fertig. Der Krieg hat alles zerstört. Es gibt kaum Wohnraum, für niemanden. Die Quäker, die für den Sommer aus Amerika hergekommen sind, schlafen in Zelten. Piera zieht zu seinem Sohn, der zwanzig Kilometer weiter weg wohnt. Sie haben dort ein Haus gebaut.«

»Ja. Heute Nacht bin ich nur hier, weil ich auf der Kirchenbaustelle helfe«, lächelte Piera mit der Pfeife im Mund. Inkeri legte sich die Hand zum Schutz vor der mitternächtlichen Sonne wie einen Schirm über die Augen und betrachtete beide. Den jungen Mann musterte sie lange von Kopf bis Fuß.

»Das wird gehen. Du zahlst dasselbe wie an Piera«, sagte Inkeri. »Aber mehr Bewohner möchte ich im Haus nicht haben. Ich will meine Ruhe. Und wenn es irgendwelche Probleme beim Zusammenwohnen gibt, besprechen wir sie und einigen uns. Nicht wahr?«

Olavi sah nach unten, Inkeri meinte, ein kleines Lächeln zu bemerken. Dann nickte der Mann.

»Alles klar.«

Inkeri warf einen Blick auf den Schweinetrog und war kurz davor, etwas über die Blumen zu sagen, doch stattdessen zündete sie sich eine Zigarette an. Wenn in diesem Land der Zwergbirken früher...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2021
Übersetzer Tanja Küddelsmann
Sprache deutsch
Original-Titel Tuhkaan piiretty maa
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeitslager • Debut • Debüt • Finnland • Karen Blixen • Lappland • neues Buch • Russland • Samen • Samí • Savonia-Preis • Tagebuch • Tania Blixen • Tuhkaan piiretty maa deutsch • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-458-77067-4 / 3458770674
ISBN-13 978-3-458-77067-1 / 9783458770671
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