606 (eBook)
467 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76993-5 (ISBN)
Die größte Menschenjagd in der US-Geschichte beginnt.
Doch für einen der Flüchtigen, John Kradle, ist dies die einzige Chance, endlich seine Unschuld zu beweisen, fünf Jahre nach dem Mord an seiner Frau und seinem Kind. Er muss den Strafverfolgungsbehörden nur immer einen Schritt voraus sein.
Allerdings hat sich auch eine Aufseherin des Todestrakts, Celine Osbourne, an seine Fersen geheftet. Sie hat sehr persönliche Gründe, ihn zu hassen — und sie weiß anscheinend ganz genau, wo er hin will ...
Candice Fox stammt aus einer eher exzentrischen Familie, die sie zu manchen ihrer literarischen Figuren inspirierte. Nach einer nicht so braven Jugend und einem kurzen Zwischenspiel bei der Royal Australian Navy widmet sie sich jetzt der Literatur, mit akademischen Weihen und sehr unakademischen Romanen. Für den ersten und zweiten Teil ihrer Trilogie, Hades und Eden, wurde sie 2014 und 2015 mit dem Ned Kelly Award ausgezeichnet.
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Herausgeber der »global crime«-Reihe metro in Kooperation mit dem Unionsverlag (1999 – 2007), der Reihe »Penser Pulp« bei Diaphanes (2013-2014). Gründete 2013 zusammen mit Zoë Beck und Jan Karsten den (E-Book-)Verlag CulturBooks und gibt ein eigenes Krimi-Programm für Suhrkamp heraus. Co-Herausgeber des Online-Feuilletons CULTurMAG.
Andrea O’Brien, geboren 1967 in Wilhelmshaven, übersetzt zeitgenössische britische, irische, australische und amerikanische Literatur. Ihre Übersetzungen wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern (2016) und mit dem Literaturstipendium der Stadt München (2019). O’Brien lebt und arbeitet in München.
Ein elektrisierender Katz-und-Maus-Thriller in der Wüste von Nevada.
2
Celine Osbourne roch Rauch. Im Todestrakt von Pronghorn wurde die Abgabe von Tabak streng kontrolliert. Er wurde zwar geschmuggelt, aber diejenigen, die damit erwischt wurden, kassierten dieselbe harte Strafe wie für Koks, Heroin, Weed oder Ice. Sie blieb mitten im Gang stehen, direkt vor der Zelle des Serienmörders Lionel Forber, und reckte die Nase in die Luft. Der mittlerweile siebenundsiebzigjährige Schwerverbrecher lag zusammengerollt unter einer Decke auf seiner Koje und schlief. Wie eine Schlange unter einem Stein. Celine folgte dem Geruch, vorbei an dem Deckchen häkelnden Serienvergewaltiger, dem in seinen Nackenbeißer vertieften Kindermörder und dem gebannt auf den Fernseher starrenden Polizistenmörder. Es roch nicht nach Tabak, wie sie jetzt feststellte, sondern nach verbranntem Holz. Und als sie die Quelle entdeckte, ging ein böses Lächeln über ihr Gesicht.
»Woher hab ich nur gewusst, dass du dafür verantwortlich bist?«, höhnte sie.
John Kradle hatte sich über das kleine, an seiner Zellenwand befestigte Metallregal gebeugt, das ihm als Schreibtisch diente. Auf dem Boden, zwischen seinen Füßen, befand sich ein verbeulter Toaster, dessen Kabel sich aus der Zelle heraus über den Flur schlängelte und um die nächste Ecke verschwand. Kradle hatte ein glattes Kiefernholzbrett auf seinem Schreibtisch und benutzte einen aus dem Toaster ragenden Draht als improvisierten Lötkolben, um damit verschnörkelte Buchstaben ins Holz zu brennen.
»Woher was?«, brummte Kradle, ohne aufzuschauen.
»Woher ich wusste, dass du dafür verantwortlich bist«, wiederholte Celine. »Ich habe Rauch gerochen und sofort gewusst, dass jemand Mist baut. Und musste dabei gleich an dich denken.«
Celine betrachtete das Werkzeug in seiner Hand. Kradle hatte anscheinend aus Drahtresten, Holzstücken, Klebeband, Gummibändern und einem gefalteten Stück Karton ein Löteisen mit Griff gebastelt. Er brannte das Wort »Schuhe« ins Brett und war gerade bei der Rundung des Buchstabens »e«. Der Rest der Aufforderung, »abtreten«, hatte er sich mit einem Stift vorgezeichnet. Die Buchstaben waren perfekt geformt, das Schriftbild sehr dekorativ.
»Keine Ahnung. Aber wenn ich raten sollte, würde ich darauf tippen, dass Sie von mir besessen sind«, sagte Kradle und zog das Werkzeug schwungvoll nach oben, um das »e« mit einer feinen Linie zu vollenden. Ein zarter Rauchkringel stieg in die Luft. »Ihre Gedanken kreisen ständig um mich. Wenn Sie Rauch riechen, denken Sie: John Kradle. Sie riechen Essen und denken: John Kradle. Sie riechen das Aftershave Ihres Partners und denken: John Kradle.«
Der Toaster vor seinen Füßen ploppte hoch, und der gerade noch glutrote Draht seines Lötkolbens wurde langsam dunkel. Mit der Schuhspitze drückte er den Hebel herunter, und der Draht begann erneut zu glühen.
»Ist das die Fantasie, die dir in kalten Nächten das Herz erwärmt?«, fragte Celine. »Die meisten Typen wenden sich an Gott, Kradle, das ist realistischer.«
»Tja.«
»Wer hat das Ding für dich eingestöpselt?«
Kradle musterte sie zum ersten Mal durch die Gitterstäbe seiner Zelle mit dem gelangweilten Blick eines klugen Häftlings, der niemanden verpfeift, nicht mal Wärter, und wenn sie das bis jetzt nicht kapiert hatte, war ihr auch nicht mehr zu helfen. Celine seufzte.
»Her damit!« Sie hielt die Hand auf.
»Nee.« Kradle strich sich die grauen Strähnen aus dem Gesicht und setzte den Lötkolben erneut an, um sich dem Rest seiner Botschaft zu widmen.
»Nee? Haben Sie vergessen, mit wem Sie reden, Häftling Kradle? Her mit dem Brett und dem Kolben. Das ist ein Befehl!«
»Sie müssen warten, bis Sie dran sind. Heute muss ich dieses Schild fertig machen.« Er nickte in Richtung Brett.
Celine biss sich auf die Zunge, wandte sich ab und lächelte. Dieses Lächeln barg keinerlei Wärme, war vielmehr eine automatische Reaktion, die sie sich über viele Jahre im Strafvollzug antrainiert hatte. Zeige ihnen nie, wie wütend du bist. Wenn du wütend bist, lächle. Vermittle ihnen den Eindruck, dass du die Kontrolle hast. Dass du nichts anderes erwartet hast. Dass alles genau nach Plan läuft und du deswegen hochzufrieden bist. Aber sogar ihr falsches Lächeln war noch zu gut für einen wie John Kradle.
»Sie glauben bestimmt, Sie könnten Ihre Wut hinter Ihrem dämlichen Grinsen verbergen«, sagte Kradle hinter ihr, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sie fuhr herum. Er beugte sich immer noch über seine Arbeit, seine großen Hände bewegten sich flink und geschickt. »Aber da irren Sie sich. Ich weiß genau, dass Sie innerlich kochen.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ja. Weil Sie wissen, wer dieses Ding für mich eingestöpselt hat. Und Sie wissen, für wen ich hier arbeite. Das Schild ist für das Büro der Direktorin. Es ist die freundliche Geste eines gewissen Kollegen, der die Anweisung seiner Chefin aus dem Rundbrief an die Mitarbeiter ernst genommen hat. Sie will nicht, dass ihre Leute ihr ständig Sand ins Büro tragen.«
Der Toaster ploppte hoch. Kradle drückte den Hebel wieder hinunter.
»Außerdem macht es Sie rasend, dass das Schild richtig gut geworden ist. Dekorativ«, fuhr er fort, dann blies er sich sanft die vom Holz aufsteigenden Rauchkringel aus dem Gesicht. »Sie toben, weil die Direktorin das Schild garantiert aufhängt, obwohl sie genau weiß, dass es ein Häftling gemacht hat. Weil es einfach zu schön ist. Und Sie werden dieses Schild jeden Tag vor Augen haben, für die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Immer, wenn Sie im Büro der Direktorin antreten müssen, wegen einer Beförderung, weil eine Prüfung Ihres Sektors oder ein Treffen der Captains ansteht oder warum auch immer, werden Sie dieses Schild sehen und sich daran erinnern, dass der Insasse, den sie am meisten hassen, es gemacht hat, und Sie nichts dagegen tun konnten.«
»Das ist aber eine komplexe Geschichte, die sich dein Erbsenhirn da ausgedacht hat«, bemerkte Celine. »Am besten gibst du mir das Brett und legst dich ein bisschen hin.«
»Holen Sie’s sich doch!«
Celine ergriff das Toasterkabel und riss es aus der Verlängerungssteckdose. Dann stürmte sie auf den Kontrollraum zu.
Kurz vor der Zelle von Burke David Schmitz verlangsamte sie ihre Schritte jedoch. Der Neonazi und Terrorist saß wegen eines Massakers in Celines Trakt. Von allen hier Inhaftierten hatte er die meisten Opfer auf dem Gewissen, aber der Mann zeigte keinerlei Reue. In seiner Nähe schien sich die Luft zu verdichten und rapide abzukühlen. Das wirkte sich sogar auf die Nachbarzellen aus, als wäre diese Kälte direkt ins Mauerwerk gekrochen. Beide waren leer. Beim Vorbeigehen warf sie einen raschen Seitenblick auf Schmitz und sah ihn wie so oft mit gestrafftem Rücken und leerem Blick auf seiner Koje sitzen. Der junge blonde Mann vermittelte Celine den Eindruck, er sähe mehr als das, was sich direkt vor ihm befand.
Lieutenant James Jackson saß wie erwartet auf seinem Drehstuhl im Kontrollraum, die Füße auf dem Bedienpult, und klickte sich von Kamera zu Kamera. Die von Schmitz ausgegangene Kälte wirkte nicht mehr, Celine kochte wieder vor Wut.
»Haben Sie John Kradle einen Lötkolben gegeben?«, fragte sie. Jacksons rundliches Gesicht war von den Überwachungsmonitoren erleuchtet, das Licht betonte seine Tränensäcke.
»Von mir hat er den nicht, der ist selbst gebaut.«
»Aber Sie haben ihm das Material gegeben. Den Toaster zum Beispiel«, sagte Celine. »Der stammt aus unserem Aufenthaltsraum. Den hatten wir ausrangiert, weil er kaputt war.«
»Na, im Arschloch eines Besuchers ist er sicher nicht reingeschmuggelt worden, aber mehr kann ich dazu auch nicht sagen, Captain«, erwiderte Jackson. Seine Assistentin Liz Savva verschluckte sich an ihrem Kaffee.
Celine blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. »Vielleicht können Sie mir ...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2021 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Chase |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ausbruch aus dem Gefängnis • Größte Verbrecherjagd der US-Geschichte • Jagd auf entflohene Häftlinge • Krimi • Nevada Wüste • New York Times Bestseller • Spannung • Thriller • USA |
ISBN-10 | 3-518-76993-6 / 3518769936 |
ISBN-13 | 978-3-518-76993-5 / 9783518769935 |
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