Mondfäden und Märchengarn (eBook)

Geschichten von heimlichen Heldinnen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
318 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30706-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mondfäden und Märchengarn -  Scharuk Husain
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Sie legen Kleider und Juwelen ab, sind Meisterinnen der Verwandlung und leben wild und gefährlich. Sie sind geschickte Jägerinnen, furchtlose Kämpferinnen und gewandte Händlerinnen, dinieren mit Königen, Bauern und Seemännern. Sie brechen auf in Wüsten voller Fantasiestaub, treffen auf Zauberstuten, Dämonen und Menschenfresserinnen. Wenn der Schleier der Nacht sich über die Welt legt, lassen sie den Mond schmelzen, und wenn das Blut der Sonne den Himmel rot färbt, ziehen sie in den Krieg. Mit Wagemut und Fantasie finden die Frauen in diesen Märchen ihren Weg, so verschlungen er auch sein mag. Scharuk Husain hat ihnen nachgespürt und ihre Geschichten aus allen Ecken der Welt zusammengetragen.

Scharuk Husain, geboren 1950 in Karatschi, Pakistan, ist Autorin und Psychotherapeutin. Ihre Kindheit verbrachte sie in Pakistan und studierte im Anschluss Orientalistik und Afrikanistik in London. Sie hat Theaterstücke, Belletristik und Sachbücher für Erwachsene und Kinder verfasst und an Drehbüchern für Merchant Ivory und Disney mitgearbeitet. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit Mythen und Folklore aus aller Welt und sammelt Märchen. Husain ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in London.

Scharuk Husain, geboren 1950 in Karatschi, Pakistan, ist Autorin und Psychotherapeutin. Ihre Kindheit verbrachte sie in Pakistan und studierte im Anschluss Orientalistik und Afrikanistik in London. Sie hat Theaterstücke, Belletristik und Sachbücher für Erwachsene und Kinder verfasst und an Drehbüchern für Merchant Ivory und Disney mitgearbeitet. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit Mythen und Folklore aus aller Welt und sammelt Märchen. Husain ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in London.

Königsrätsel


Wasili Wasiljewitsch? Wasilissa Wasiljewna? Ist es eine Frau? Ist es ein Mann? Des Priesters Tochter? Des Priesters Sohn? König Barakat stand vor einem Rätsel. Er war so verdutzt, dass er gar den Hinterhof des Palastes aufsuchte, um sich von der alten Hexe, die dort wohnte, Rat zu holen. Und auf diese Weise erfuhr Wasilissas Diener von seiner Verwirrung und seiner Neugier.

Wasilissa Wasiljewna schlug sich auf die Schenkel und lachte. »Der König will also wissen, ob ich eine Frau bin. Mich wundert, dass ihn das so beschäftigt!«

»Nun«, antwortete der Diener, »ich vermute, das ist kein Wunder. Wo, sagtet Ihr, ist er Euch begegnet?«

»Ich bin ihm begegnet«, verbesserte Wasilissa ihren Diener. »Ich war im Wald auf Jagd, und er auch. Hinter mir, über dem Rücken meiner grauen Stute – du weißt schon, die mit der grauen Mähne –, hing ein Sack voll Wild, als plötzlich der König mit ganz ordentlicher Jagdbeute auftauchte. Ich grüßte ihn von fern und ritt meines Weges.«

»Dann«, schloss der Diener an Wasilissas Stelle, »ist es tatsächlich kein Wunder. Ihr rittet davon, ohne innezuhalten, um den König zu grüßen, wie andere es tun würden. Da wurde er neugierig und fragte seinen Reitknecht: ›Wer ist der junge Mann?‹, und der Reitknecht antwortete: ›Nicht ein Mann, Herr, sondern eine Frau – die Tochter des Priesters –, Wasilissa Wasiljewna.‹ Und genau zur gleichen Zeit sagte ein anderer Begleiter: ›Das ist der tüchtige Jäger Wasili Wasiljewitsch.‹ Also war der König verwirrt.«

Wasilissa lachte laut auf. »›Wer ist dieser Mann‹, was? Überraschend ist es wohl nicht, aus dieser Entfernung und bei meiner Jagdkleidung. Er ist bestimmt nicht der Erste, und er wird auch nicht der Letzte sein. Es ist ja für viele ein Rätsel. Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Wenn ich eine Frau bin, warum trage ich Reithosen? Jeder will eine Antwort. Nur ich selbst habe noch nie darüber nachgedacht!«

Sie stand auf, kippte ihr übliches Glas Wodka, gab ein scharfes Zischen von sich, als er ihr durch die Kehle rann, und spannte die Lippen über den Zähnen. Sie liebte dieses Gefühl von Hitze, das sich in ihrer Brust ausbreitete, wenn der Wodka ihren Hals hinunterjagte. Sie nahm es mit den trinkfestesten Männern auf, jawohl, sie, Wasilissa Wasiljewna, obgleich ihr Vater, der sanfte Priester Wasili, sie ständig mahnte, dass es sich für eine Frau nicht schicke, Wodka zu trinken.

»Wir werden wahrscheinlich noch mehr vom König hören, obwohl ich mir nicht so recht vorstellen kann, was er von der alten Hexe zu erfahren hofft – außer einem Haufen abergläubischen Mumpitz.«

Sie lachte leise in sich hinein, während sie aufstand und sich die Hosen glatt strich. Ihr Vater sah sie gerne hübsch und ordentlich, und sie selbst achtete peinlich auf ihr Aussehen. Noch immer lachend, schlenderte sie zum Studierzimmer des alten Wasili. Er würde Gefallen an der Geschichte finden, da war sie sich sicher.

Sie trat ein, wie immer, ohne anzuklopfen; der Priester war dabei, einen Brief zu lesen – siehe da!, mit dem königlichen Wappen.

»Ein Brief des Königs?«, fragte Wasilissa, ohne eine Spur von Überraschung in der Stimme.

»Woher weißt du das?«, entgegnete ihr Vater erstaunt.

»Nun, Vater, ich habe sozusagen erwartet, von ihm zu hören.«

Der alte Wasili schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. »Tochter, Tochter«, verkündete er, »ich wage es nicht, dich nach dem Grund für so eine Erwartung zu fragen.«

»Das ist aber schade, Vater«, lachte Wasilissa, »weil ich nämlich hergekommen bin, um es dir zu erzählen.«

Der Priester gab sich geschlagen: »Nun, dann sprich.«

Also erzählte Wasilissa ihrem Vater von der Begegnung, nahm dann den Brief und las. »Ehrwürdiger Priester Wasili«, schrieb König Barakat, »ich wünsche, dass Ihr Eurem Sohn Wasili Wasiljewitsch gestattet, mich in meinem Palast zu besuchen und am königlichen Tisch mit mir das Brot zu brechen.« Wasilissa lachte laut heraus.

»Wünscht er nun mit einer Frau zu dinieren«, fragte der Priester scharfsinnig, »oder mit einem Jäger seines Ranges?«

»Ein guter Jäger bin ich allemal, ganz gleich, ob man mich nun einen Mann oder eine Frau nennt. Aber genau deswegen, weil er das eben nicht weiß, möchte Barakat, dass ich mit ihm speise. Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Bin ich der Sohn des Priesters? Oder seine Tochter? Armer König Barakat! Er ist so verzweifelt, dass er schon alte Weiber um Rat bittet. Und dabei sind es doch immer die Frauen, über die man ihrer eitlen Neugier wegen herzieht.«

Wasilissa Wasiljewna? Wasili Wasiljewitsch? Mann oder Frau? Des Priesters Tochter, des Priesters Sohn? Wasilissa konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als Barakat, seinen Argwohn meisterhaft verbergend, sie höflich begrüßte. Beim Eintreten verneigte sich Wasilissa tief, bekreuzigte sich und hob ihre Hände zum Gebet, und der König war über ihre formelle und korrekte Begrüßung hocherfreut. Tatsächlich war er den ganzen Abend über so gastfreundlich und charmant, dass Wasilissa ihrer Täuschung wegen einen Anflug von Schuldgefühl verspürte – doch nicht lange. Schließlich hoffte Barakat seinerseits, sie zu überlisten, indem er vorgab, bezüglich ihres Geschlechts nicht verwirrt zu sein oder sich den Kopf zu zerbrechen. So blieb Wasilissa auf der Hut vor der Falle, die er auf den Rat der Alten hin für sie ausgelegt hatte und die er irgendwann würde zuschnappen lassen. Doch nichts dergleichen geschah, und der Abend ging friedlich zu Ende.

Schließlich begleitete der König Wasilissa zur Eingangshalle, dankte ihr für ihren Besuch und sagte, wie sehr er den Abend genossen habe. Und als sie seinen Dank und die Komplimente erwiderte, fiel ihr Blick auf einen Wandteppich, der neben einer Sammlung von Gewehren, Schwertern und anderen Waffen an der Wand hing. Ein auffälliges, merkwürdig grobes Stück, das man eher im Haus eines Bauern erwartet hätte: Die einzelnen Elemente standen im Widerstreit miteinander – die Farben grell, die Stickerei jedoch exquisit, die Gedanken edel, die Umsetzung aber plump. Der Wandteppich war nur deshalb bemerkenswert, weil er unter einer Sammlung von Kampfgerät hing, und da der Wodka Wasilissa in gelöste Stimmung versetzt hatte, sprach sie ungehemmt.

»Wie seltsam, einen Wandteppich zu Euren Schwertern zu hängen, König Barakat«, bemerkte sie. »Und dazu noch einen, den ich in einem Palast nicht erwarten würde! Im Haus meines Vaters fändet Ihr keinen wertlosen, mädchenhaften Tand dieser Art. Das würden wir nicht dulden, weder Vater noch ich.«

Und ehe der König sprechen konnte, verschwand Wasilissa Wasiljewna.

»Der König hat wieder die alte Hexe besucht«, berichtete ihr Diener, der nun zum Spion geworden war. »Er sagte, ihr Plan sei fehlgeschlagen.«

»Welcher Plan?«, fragte Wasilissa.

»Nun, anscheinend hatte die alte Frau dem König gesagt, er solle den Wandteppich aufhängen. ›Ist es eine Frau‹, behauptete sie, ›wird er ihr sofort auffallen; ist es ein Mann, werden ihm die Gewehre auffallen.‹ Nach diesem Rat hat der König gehandelt, aber es hat ihm nicht weitergeholfen.«

»Das kann man wohl sagen«, prustete Wasilissa, und der Schalk blitzte in ihren Augen. »Die Gewehre erwähnte ich kaum, den Wandteppich dagegen sehr wohl, bedachte ihn jedoch nur mit Spott. Armer König Barakat.«

Es dauerte keine ganze Woche, da sandte der König erneut eine Einladung für Wasilissa. Wie es sich schickte, war die Bitte, Wasili Wasiljewitsch zum Abendessen laden zu dürfen, an ihren Vater gerichtet. Wieder sattelte Wasilissa ihre graue Stute, schwang sich auf den Rücken des treuen Tieres und machte sich auf zum Palast. Und auch diesmal konnte sie bei der Erinnerung an die vergebliche List des Königs ihre diebische Freude kaum verbergen. Den ganzen Abend über blieb sie wachsam, um nicht in eine Falle zu tappen. Sie genoss die Unterhaltung und des Königs Gesellschaft, doch das Essen war diesmal nicht so schmackhaft wie bei der ersten Einladung. Jedes Mal, wenn sie einen Bissen nahm, stießen ihre Zähne auf harte Knollen. Zuerst war Wasilissa höflich, spuckte sie verstohlen in ihre Hand und warf sie unter den Tisch. Schließlich aber untersuchte sie einen vollen Löffel mit verstohlenem Blick genau, während sie mit dem König sprach, um ihn abzulenken. Die störenden Knollen waren rund und schimmerten.

»Perlen!«, erkannte sie zu ihrem Erstaunen. »Er hat die Speise mit Perlen versetzen lassen. Was für eine furchtbare Verschwendung!«

Mittlerweile hatten König Barakats angenehme Gesellschaft, seine Gastfreundschaft und der Wodka Wasilissas Zunge gelöst, und sie beklagte sich offen. »Gibt man bei Euch Perlen in die Kascha, König Barakat? Die Zähne könnte man sich daran ausbeißen! Solch mädchenhaften Luxus würden mein Vater und ich in unserem Hause nicht dulden, des seid versichert. Aber ich danke Euch trotz allem für Eure Gastfreundschaft.«

Und Wasilissa Wasiljewna rauschte aus dem Palast, ehe der König seinen Mund öffnen konnte, um ihr zu antworten.

Wieder ließ Wasilissa König Barakat in einem Zustand der Verwirrung zurück. Wieder ging er zu der alten Hexe, und wieder wurde Wasilissa berichtet, dass der König wegen seines erneuten...

Erscheint lt. Verlag 28.3.2022
Übersetzer Ruth Melcer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte China • Frau • Gender • Geschlecht • Indien • Legenden • Märchen • Pakistan • Russland • Sagen • Verwandlung • Volksmärchen • Zauber
ISBN-10 3-293-30706-X / 329330706X
ISBN-13 978-3-293-30706-3 / 9783293307063
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