Strandfeuer (eBook)
384 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-29250-8 (ISBN)
Hendrik Berg wurde 1964 in Hamburg geboren. Nach einem Studium der Geschichte in Hamburg und Madrid arbeitete er zunächst als Journalist und Werbetexter. Seit 1996 verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Köln.
1
Nordsee, 12. März 1822
Yorick war ein mutiger Mann. Wenn der Schöpfer ihn über das Meer schickte und er im prasselnden Regen die dunklen Wasserberge vor sich aufragen sah, breitete er die Arme aus, lachte und brüllte seinen Spott in den schwarzen Himmel. Sollten sich seine Kameraden zitternd vor Furcht an die Reling oder an die Rettungsseile klammern und wimmernd unter Deck verstecken, er beugte sich nicht. Mit seiner Wollmütze auf dem großen Schädel hielt er die Stellung am Ruder, egal, was passierte – selbst in der dunkelsten Nacht, selbst im schlimmsten Orkan.
Yorick hatte vor nichts Angst. Doch die grenzenlose Wut dieses Sturms, des heftigsten, den er jemals erlebt hatte, ließ sogar den hünenhaften Seemann verstummen.
Schon den zweiten Tag und die zweite Nacht kämpfte die Mannschaft der Edda mit den entfesselten Elementen. Kirchturmhohe Brecher krachten ununterbrochen von achtern auf das Deck des Frachtseglers, warfen das Schiff wie ein Stück Treibholz umher. Ein wütendes Grollen hallte durch die nasse Welt, als wäre ein gewaltiges Ungeheuer aus den Fluten gestiegen, um die Seeleute hinab zu sich in die eisige Tiefe zu ziehen.
Dabei hatten sie es fast geschafft. Vier Monate war es jetzt her, seit die Edda bei strahlendem Sonnenschein den Hafen von Triest verlassen hatte. Die Galeasse hatte Italien umrundet und Livorno an der Westküste angesteuert. Sie waren nach Marseille gesegelt, dann weiter Richtung Süden. Nach kurzem Aufenthalt in Valencia waren sie durch die Straße von Gibraltar in den Hafen von Lissabon gelangt. Schließlich ging ihre Reise entlang der Küste gen Norden. Schon in der Biskaya hatten sie mit schwerer See zu kämpfen. Dann erreichten sie den Ärmelkanal und die Nordsee – und gerieten mitten in einen der fürchterlichsten Orkane seit Menschengedenken!
Ihr holländischer Kapitän, Mathis van Dijk, hatte besorgt in den immer dunkleren Himmel hinaufgeschaut, als sie die Küste vor Dover passierten.
»Wir sollten einen Hafen anlaufen«, sagte er und strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel.
Der junge Eigner der Edda, Heinrich Schönbeck, der sie seit Triest begleitete, schüttelte den Kopf. »Wir haben zu viel Zeit verschenkt. Wir sind schon seit drei Monaten unterwegs. Da werden wir die letzten paar Tage wohl auch noch schaffen.«
Die Mannschaft murrte, doch niemand wagte einen Einwand vorzubringen.
»Der Käpt’n hat recht«, sagte schließlich Yorick.
»Nun hört schon auf, ihr Feiglinge!«, lachte Schönbeck. Er wandte sich ab und sah zum Horizont. »Man kann den Michel doch praktisch schon sehen. Nein, wir fahren weiter.«
Die falsche Entscheidung.
Tatsächlich war es bis Hamburg nicht mehr weit. Aber die brave Edda war nicht für solch ein Unwetter gebaut, die achtköpfige Mannschaft nach der langen Reise müde und erschöpft. Sie konnten gerade die schmale Linie der ersten westfriesischen Inseln auf Steuerbord sehen, als das Gaffelsegel unter der Wucht des Sturms riss. Die Takelung des Großmastes stürzte zischend wie eine große Schlange herab und begrub den jungen Sören unter sich. Ein schwerer Haken fuhr in seine Schulter, drohte, ihn zusammen mit der rutschenden Takelage über Bord zu ziehen. Erst im letzten Moment gelang es seinen Kameraden, ihn festzuhalten. Im strömenden Regen sah Yorick, dass der Haken Sörens Arm fast abgerissen hatte. Der Käpt’n hatte ihm befohlen, unter Deck zu bleiben. Hätte der Junge nur auf ihn gehört!
Umkehren war nicht mehr möglich. Der wütende Orkan drückte von hinten gegen das steile Heck, trieb das schwerfällige Schiff vor sich her, immer weiter hinaus auf das offene Meer. Als Steuermann stand Yorick auf dem Achterdeck. Er hatte sich an das Ruder gebunden, um nicht von Bord gespült zu werden. Mit aller Macht versuchte er zu verhindern, dass die hohen Wellen das Schiff längsseits trafen. Bei dem geringen Tiefgang der Edda hätte das ihr sofortiges Kentern bedeutet.
Yorick war ein Hüne von einem Mann, aber mittlerweile am Ende seiner Kräfte. Mit den in der eisigen Kälte steif gefrorenen Fingern konnte er das Ruder kaum halten. Der Käpt’n half ihm, hatte sich ebenfalls an den Ruderschaft gebunden. Gemeinsam versuchten sie, das Schiff vor den immer wieder über sie herabstürzenden Wellen auf Kurs zu halten.
»Nur Mut, Männer!«, brüllte der in den Rettungsseilen hängende Schönbeck, war unter der Kapuze seines schweren Ledermantels aber kaum zu verstehen. »Die Elbmündung kann nicht mehr weit sein! Hamburg erwartet uns.«
Van Dijk wechselte einen stummen Blick mit Yorick. Der wusste, was der Käpt’n meinte. Schon seit vielen Stunden hatten sie die Küste nicht mehr gesehen. Sie waren verloren, allein auf der Nordsee, ohne Orientierung in einem tosenden Albtraum aus Wogen und eisiger Gischt. Kein Stern zu erkennen. Die tiefen Wolken rasten wie vom Teufel gejagt über den Himmel. Kaum vorstellbar, dass sie noch einmal eine Küste zu sehen bekamen.
Yorick schimpfte, wischte sich mit dem Arm den Regen aus dem Gesicht und stemmte seinen ganzen Körper gegen den Druck des Ruders.
Auf ihrer Fahrt lag ein Fluch! Von Anfang an, schon seit sie den Hafen von Triest verlassen hatten, damals vor drei Monaten in einem anderen Leben. Der Ruderbruch vor Sardinien. Die Ruhr, die fast die ganze Mannschaft in Marseille erwischt hatte. Tagelang hatten die Männer stöhnend in ihren Hängematten gelegen. Die Diebe, die in Lissabon versucht hatten, ihre Ladung zu klauen. Yorick selbst hatte sie auf dem Abgang zum Laderaum erwischt und mit einem Knüppel von Bord gejagt. Dann der Sturm. Das Ende schien gekommen.
Irgendjemand hatte etwas dagegen, dass sie Hamburg erreichten. Yorick wusste genau, warum.
Sie hatten den Tod an Bord!
Er blickte zum Käpt’n, dessen kahler Kopf im flackernden Licht der kleinen, heftig hin- und herpendelnden Laterne aussah, als würde er in Flammen stehen.
Yorick erinnerte sich an den Tag vor der Abfahrt. Er war sofort zu van Dijk gegangen, nachdem er erfahren hatte, was da in den fast hundert Kisten in ihrem Laderaum lag. Doch der Alte hatte nur gelacht.
»Ausgerechnet du machst dir deshalb in die Hose? Ich dachte, du spuckst sogar dem Teufel ins Gesicht?«
»Aye, Käpt’n. Aber wenn der Leibhaftige von Anfang an mit auf dem Schiff ist, hilft das auch nicht mehr.«
Der Alte hatte ihn mit plötzlich ernster Miene in eine Ecke gedrängt. »Halt bloß die Klappe! Ich will nicht, dass du die Männer mit deinem Gerede verrückt machst. Kapiert?«
Ja, Yorick hatte kapiert und während der langen Fahrt den Mund gehalten, obwohl er wusste, dass die Kameraden längst ahnten, dass mit ihrer Fahrt irgendetwas nicht stimmte.
Und er hatte recht behalten. Die Edda war verflucht. Und jetzt erwartete sie ihr Schicksal. Das Schiff würde den sicheren Hafen in Hamburg nie erreichen.
»Aufpassen!«
Es war Schönbeck, der ihn aus seinen dunklen Gedanken riss. Im nächsten Moment stürzte die Edda fast senkrecht in ein Wellental, raste durch spritzende Gischt hinab, bis der breite Bug tief in die kochende See tauchte. Einen langen Moment war alles nur Wasser und Schmerz, dann sprang der Frachtsegler wieder nach oben an die Luft wie ein Korken, schwankte, torkelte, drohte zu kippen, richtete sich dann aber wieder auf.
»Ha, seht ihr, der blanke Hans wird uns nicht besiegen, niemals!«, prustete Schönbeck mit irrem Grinsen.
Yorick lachte nicht. Diese dämliche Landratte hatte ihnen diesen Albtraum eingebrockt. Er verfluchte den Tag, an dem er bei ihm angeheuert hatte. Auch der Käpt’n wollte die Begeisterung des milchgesichtigen Reeders nicht teilen.
»Wir können uns nicht mehr lange halten!«, brüllte er heiser durch den Regen.
»Ach was, die Edda ist ein gutes Schiff, die hält das aus!«
»Ach ja?«, rief Yorick. »Wir werden alle verrecken!«
»Nicht, wenn du das Ruder weiter auf Kurs hältst.«
»Welchen Kurs? Wir haben keinen Kurs, wir …«
Yorick stockte. Vor ihnen erhob sich eine riesige Wasserwand. Wie ein Geist, der einer Truhe entstieg, wuchs sie an, wurde größer und größer. Auf einmal erfüllte ein dröhnendes Brausen die Luft. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Yorick, wie der Bug der Edda sich langsam erhob, dann immer steiler Richtung Himmel stieg.
Plötzlich ein lautes Krachen und ein brutales Knirschen. Das Schiff bebte.
»Donner?« Schönbecks Stimme war im Unwetter kaum zu verstehen.
»Nein, das ist kein Donner«, erwiderte der Alte und blickte sich um. »Das kam aus dem Laderaum.«
Das schwer beladene Schiff hatte den Wellenkamm erreicht. Vor ihnen tat sich erneut ein endloser Abgrund auf. Groß genug, um Hunderte Eddas zu verschlingen.
»Hol mich der Teufel«, stammelte Schönbeck.
»Der Herr sei unseren Seelen gnädig«, flüsterte van Dijk und hielt sich mit beiden Händen am Ruderschaft fest.
Von einem Moment zum anderen legte sich die Edda auf die Seite. Das Vorsegel klatschte wie ein riesiger Lappen auf die See. Yorick hörte, wie der Käpt’n Kommandos brüllte. Die Edda musste sich wieder aufrichten, unbedingt!
Aber es war zu spät. Innerhalb weniger Augenblicke lief das Schiff voll Wasser. Welle auf Welle krachte auf sie herab. Schreie gellten durch das Tosen des Sturms. Dann brach die Edda mit einem lauten Krachen entzwei, sank gurgelnd in die dunklen Fluten und wurde von der...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2022 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Theo Krumme | Ein Fall für Theo Krumme |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • eBooks • Heimatkrimi • Kommissar Krumme • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Neuerscheinung Krimi Thriller • Nordsee • Regionalkrimi • Sankt Peter-Ording • Softcover • spannende Bücher • Taschenbuch |
ISBN-10 | 3-641-29250-6 / 3641292506 |
ISBN-13 | 978-3-641-29250-8 / 9783641292508 |
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