Die Parabel vom Sämann (eBook)

Das Meisterwerk in neuer Übersetzung - Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29252-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Parabel vom Sämann -  Octavia E. Butler
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Octavia Butlers Meisterwerk in neuer Übersetzung und mit einem Vorwort von N. K. Jemisin
Wir schreiben das Jahr 2024. Klimawandel, Wirtschaftskrisen und ein politischer Rechtsruck haben das Leben in den USA von Grund auf verändert. Lauren Olamina lebt mit ihrer Familie in Kalifornien, relativ sicher vor Plünderern hinter hohen Mauern. Wer überleben will, muss Stärke zeigen, deswegen hütet Lauren ihr Geheimnis sorgfältig: Sie leidet an Hyperempathie - sie empfindet die Emotionen eines anderen Menschen so tief, als wären es ihre eigenen. Doch wenn sie will, dass ihre Stimme gehört wird, darf sie sich nicht länger hinter den Mauern verstecken. Also macht sich Lauren auf die Reise nach Norden, wo es noch Sicherheit und Jobs gibt. Was als Kampf ums Überleben beginnt, wird schnell zu sehr viel mehr: Der Geburt einer neuen Religion - und einer atemberaubenden Vision für die Zukunft der Menschheit.

Octavia Estelle Butler (22. Juni 1947 - 24. Februar 2006) kam in Pasadena, Kalifornien zur Welt. Obwohl bei ihr als Kind Dyslexie festgestellt wurde, machte sie einen Abschluss am Pasadena City College und schrieb sich an der California State University in Los Angeles ein. Schon als Kind verfasste sie erste Kurzgeschichten, und 1969/70 besuchte sie zwei Autoren-Workshops, bei denen sie unter anderem mit Harlan Ellison in Kontakt kam, der ihr half, 1976 ihren ersten Roman bei einem Verlag unterzubringen. In ihrem mehrfach mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichneten Werk geht es immer wieder um Genderfragen und kulturelle Identität. Sie lebte und arbeitete bis zu ihrem Tod in Seattle, Washington.

2


Ein Geschenk von Gott

Kann voreilige Finger verbrennen.

EARTHSEED: DIE BÜCHER DER LEBENDEN

Sonntag, 21. Juli 2024


Seit mindestens drei Jahren ist der Gott meines Vaters nicht mehr mein Gott. Seine Kirche ist nicht mehr meine Kirche. Aber weil ich feige bin, wurde ich heute trotzdem in diese Kirche aufgenommen. Ich ließ mich von meinem Vater taufen, in allen drei Namen dieses Gottes, der nicht mehr der meine ist.

Mein Gott hat einen anderen Namen.

Wir sind an diesem Morgen früh aufgestanden, weil die Kirche am anderen Ende der Stadt liegt. Mein Vater hält an Sonntagen meist bei uns zu Hause einen Gottesdienst ab. Er ist Baptistenprediger, und obwohl nicht alle Nachbarn innerhalb unserer Mauer Baptisten sind, kommen diejenigen gerne zu uns, die in die Kirche gehen wollen. So müssen sie nicht nach draußen, wo alles so verrückt und gefährlich ist. Schlimm genug, dass manche Menschen – mein Vater zum Beispiel – mindestens einmal in der Woche zur Arbeit nach draußen müssen. Niemand von uns Kindern geht mehr draußen zur Schule. Die Erwachsenen haben Angst um uns.

Aber heute wurde eine Ausnahme gemacht. Für heute hatte mein Vater sich mit einem anderen Prediger verabredet – einem Freund, der noch immer eine richtige Kirche mit richtigem Taufbecken hat.

Früher hatte Dad auch so eine Kirche, die nur wenige Blocks außerhalb unserer Mauer lag. Er hatte dort angefangen, bevor es so viele Mauern gab. Aber dann übernachteten immer wieder Obdachlose darin, die Kirche wurde einige Male ausgeraubt und verwüstet, und schließlich hatte jemand im Innern und ringsherum Benzin ausgegossen und sie niedergebrannt. Sieben Obdachlose, die in jener letzten Nacht dort geschlafen haben, starben in den Flammen.

Irgendwie ist es Reverend Robinson, Dads Freund, gelungen, seine Kirche vor der Zerstörung zu bewahren. An diesem Morgen sind wir mit unseren Fahrrädern dorthin gefahren – ich, zwei meiner Brüder und vier andere Kinder aus der Nachbarschaft, die bereit für die Taufe waren, in Begleitung meines Vaters und einiger Erwachsener. Alle Erwachsenen waren bewaffnet. So lauten die Regeln. Nur als Gruppe nach draußen gehen, und bewaffnet.

Sie hätten mich auch zu Hause in der Badewanne taufen können. Das wäre billiger und weniger riskant und für mich völlig in Ordnung gewesen. Das sagte ich auch, aber niemand hörte mir zu. Nach draußen in die Kirche zu gehen, versetzte die Erwachsenen in die gute alte Zeit zurück, als es noch an jeder Ecke eine Kirche gab und zu viel Beleuchtung und Benzin dazu da war, Autos und Trucks aufzutanken, statt irgendetwas abzufackeln. Sie lassen sich keine Gelegenheit entgehen, die gute alte Zeit noch einmal zu erleben oder den Kindern zu erzählen, wie toll es wird, wenn das Land wieder auf die Beine kommt und alles wieder gut wird.

Na klar.

Für uns Kinder – zumindest für die meisten – war der Ausflug nur ein Abenteuer, eine Gelegenheit, hinter die Mauer zu kommen. Pflichtbewusst ließen wir uns taufen, oder vielleicht ging es auch um ein Zugehörigkeitsgefühl, aber die meisten von uns interessieren sich nicht mehr für Religion. Ich schon, nur eben für eine andere.

»Sicher ist sicher«, sagte mir Silvia Dunn vor ein paar Tagen. »Vielleicht ist ja was dran an diesem ganzen religiösen Quatsch.« Ihre Eltern glaubten es zumindest, also kam sie mit.

Mein Bruder Keith war auch dabei, obwohl er nichts von meinem Glauben teilt. Ihm war das alles völlig egal. Dad wollte eben, dass er getauft wurde, und wenn schon. Es gab nicht viel, was Keith interessierte. Er hing gerne mit seinen Freunden ab und tat so, als wäre er erwachsen, er schwänzte die Arbeit und schwänzte die Schule und schwänzte den Gottesdienst. Er ist erst zwölf, der älteste meiner Brüder. Ich mag ihn nicht sonderlich, aber er ist das Lieblingskind meiner Stiefmutter. Drei schlaue Söhne und ein dummer, und den dummen mag sie am liebsten.

Auf der Fahrt sah Keith sich am meisten um. Sein Plan, wenn man das so nennen kann, ist es, unserem Viertel den Rücken zu kehren und nach Los Angeles zu gehen. Was genau er da machen will, sagt er nicht. Er will einfach nur in der großen Stadt leben und das große Geld machen. Mein Vater sagt, die große Stadt wäre ein Kadaver, in dem zu viele Maden wühlen. Ich denke, er hat recht, aber nicht alle Maden sind in L.A. Hier gibt es auch welche.

Allerdings sind Maden für gewöhnlich keine Frühaufsteher. Wir fuhren an Menschen vorbei, die ausgestreckt auf dem Bürgersteig schliefen, ein paar wachten gerade auf, aber sie beachteten uns nicht. Ich sah mindestens drei Menschen, die nie wieder aufwachen würden. Einer von ihnen hatte keinen Kopf mehr. Ich erwischte mich dabei, wie ich nach dem Kopf Ausschau hielt. Danach versuchte ich, mich möglichst gar nicht mehr umzusehen.

Eine Frau, jung, nackt und verdreckt, stolperte an uns vorbei. Kurz sah ich ihr ausdrucksloses Gesicht und verstand, dass sie irgendwie benommen oder betrunken sein musste.

Vielleicht hatte man sie so oft vergewaltigt, dass sie verrückt geworden war. Ich kannte diese Geschichten. Vielleicht war sie auch einfach high. Die Jungs fielen bei diesem Anblick fast von den Rädern. Was für herrlich fromme Gedanken sie nun eine Weile haben würden.

Die nackte Frau sah uns nicht an. Nachdem wir an ihr vorbeigefahren waren, drehte ich mich noch einmal zu ihr um und sah, dass sie nun auf dem unkrautbewachsenen Boden saß und an einer fremden Nachbarschaftsmauer lehnte.

Unser Weg führte uns an einer Mauer nach der anderen vorbei. Manche sind einen Block lang, manche zwei, manche fünf. Oben auf dem Hügel gab es eingezäunte Anwesen – große Häuser und viele kleine Hütten, wo die Bediensteten lebten. An sowas kamen wir heute nicht vorbei. Manche Viertel, durch die wir fuhren, waren so arm, dass ihre Mauern aus losen Steinen bestanden, aus Betonbrocken und Müll. Und dann waren da noch die armseligen Wohngegenden ganz ohne Mauer. Viele Häuser waren völlig heruntergekommen – abgebrannt oder verwüstet oder von Säufern oder Junkies besetzt, oder es hausten obdachlose Familien mit ihren dreckigen, ausgezehrten, halb nackten Kindern darin. Die Kinder waren an diesem Morgen schon hellwach und beobachteten uns. Die Jüngeren tun mir leid, aber wenn sie älter oder im gleichen Alter sind wie ich, machen sie mich nervös. Wir fahren in der Mitte der aufgeplatzten Straße, und die Kinder kommen und stellen sich am Gehweg der Reihe nach auf, um uns anzuglotzen. Sie stehen einfach da und starren. Ich glaube, wenn wir allein oder zu zweit wären oder sie unsere Waffen nicht sehen könnten, würden sie vielleicht versuchen, sich auf uns zu stürzen, um unsere Räder zu klauen, unsere Kleidung, unsere Schuhe, was auch immer. Und dann? Würden sie uns vergewaltigen? Uns umbringen? Wir könnten wie die nackte Frau enden: Benommen wegstolpern, vielleicht verletzt, der lauernden Gefahr schutzlos ausgeliefert, wenn sie sich nichts zum Anziehen geklaut hat. Ich wünschte, wir hätten ihr etwas geben können.

Meine Stiefmutter sagt, sie und mein Vater hätten einmal angehalten, um einer verletzten Frau zu helfen, und die Männer, denen sie ihre Verletzungen zu verdanken hatte, wären hinter einer Mauer hervorgesprungen und hätten sie beinahe umgebracht.

Das hier ist Robledo – zwanzig Meilen von Los Angeles entfernt, und laut Dad eine einstmals reiche grüne Kleinstadt ohne Mauern, aus der er als junger Mann nichts wie abhauen wollte. Genau wie Keith wollte er das öde Robledo verlassen, ab in die aufregende Großstadt. Damals ging es in L.A. noch nicht so schlimm zu – weniger tödlich. Einundzwanzig Jahre hat er dort verbracht. Aber 2010 wurden seine Eltern umgebracht und er erbte das Haus. Die Mörder hatten sie ausgeraubt und die Möbel zertrümmert, aber angezündet wurde nichts. Damals gab es noch keine Nachbarschaftsmauer.

Ein verrückter Gedanke, ohne Mauer zu leben, die einen beschützt. Selbst in Robledo sind die meisten Leute gefährlich, die auf der Straße leben – Squatter, Alkis, Junkies, Obdachlose im Allgemeinen. Sie sind verzweifelt oder verrückt oder beides. Das reicht, um jeden zu einer Bedrohung zu machen.

Das Schlimmste für mich ist, dass ihnen häufig etwas fehlt. Sie schneiden sich gegenseitig die Ohren ab, die Arme oder die Beine. Ihre Krankheiten bleiben unbehandelt, und ihre Wunden entzünden sich. Sie haben kein Geld für Wasser, mit dem sie sich waschen könnten, sodass selbst die Gesunden Geschwüre bekommen. Sie haben nicht genug zu essen und sind unterernährt – oder ihr Essen ist verdorben und vergiftet sie. Ich gab mein Bestes, mich auf der Fahrt nicht umzuschauen, aber ich kam nicht umhin, etwas von dem allgemeinen Elend zu sehen – und es aufzunehmen.

Ich kann einiges an Schmerzen ertragen, bevor ich zusammenbreche. Das musste ich lernen. Aber heute war es schwer, weiter in die Pedale zu treten und nicht von den anderen abgehängt zu werden, obwohl es mir mit jedem Menschen, den ich sah, schlechter und schlechter ging.

Mein Vater drehte sich dann und wann zu mir um. Ständig sagt er mir: »Du bist stärker als das. Du musst dich dagegen wehren.« Er hat schon immer so getan, als wäre mein Hyperempathie-Syndrom etwas, das ich einfach abschütteln und vergessen könnte. Oder vielleicht glaubt er es tatsächlich. Denn natürlich ist das Teilen nicht real. Es handelt sich nicht um Zauberei oder eine extrasinnliche Wahrnehmung, die mich das Leid oder die Freude anderer Menschen teilen lässt. Es ist wahngeistig. Das gebe ich selber zu. Früher hat mein Bruder Keith so getan, als wäre er verletzt, eine Finte, um seinen angeblichen Schmerz an mich weiterzugeben. Einmal nahm er rote...

Erscheint lt. Verlag 12.7.2023
Reihe/Serie Parabel
Übersetzer Dietlind Falk
Sprache deutsch
Original-Titel Parable of the Sower
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte 2023 • Afrofuturismus • Black lives matter • diezukunft.de • Dystopie • Earthseed Serie • eBooks • Feminismus • Feministische Dystopie • feministische Science-Fiction • Klassiker der Science-Fiction • Near future • Neuerscheinung • N. K. Jemisin • Rassismus • Rechtsruck
ISBN-10 3-641-29252-2 / 3641292522
ISBN-13 978-3-641-29252-2 / 9783641292522
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