Gezeitenmord (eBook)
368 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30398-8 (ISBN)
Dennis Jürgensen, geboren 1961, ist einer der beliebtesten dänischen Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014 startete er mit dem ersten von sechs Bänden seiner Krimireihe um den Kriminalhauptkommissar Roland Triel, die in Dänemark verfilmt wurde. »Gezeitenmord« ist der Beginn einer neuen Reihe, die in zahlreichen Ländern erscheint.
Dennis Jürgensen, geboren 1961, ist einer der beliebtesten dänischen Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht. 2014 startete er mit dem ersten von sechs Bänden seiner Krimireihe um den Kriminalhauptkommissar Roland Triel, die in Dänemark verfilmt wurde. »Gezeitenmord« ist der Beginn einer neuen Reihe, die in zahlreichen Ländern erscheint. Ulrich Sonnenberg, geboren 1955 in Hannover, arbeitet als freier Übersetzer und Herausgeber in Frankfurt/Main. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats. Er übersetzte u.a. Bücher von Hans Christian Andersen, Carsten Jensen, Karl Ove Knausgård und Jens Andersens Astrid-Lindgren-Biografie.
6
Lykke schluckte und drückte den Rücken durch, als Kresten Osmann das Tuch entfernte und der Körper sich im scharfen Obduktionslicht zeigte. Sie hatte gedacht, sie würde Bjarke Laumann auf der Stelle wiedererkennen, aber dies hier konnte irgendein jüngerer Mann sein. Sie verdrängte ihr Unbehagen und konzentrierte sich darauf, welche Fakten sich von dem Erscheinungsbild der Leiche ableiten ließen.
Sie glich einer Sandskulptur, einem Golem, aber tatsächlich verbarg sich unter dem Sand ein toter Mensch. Ein Mann, mit dem sie gelacht und gegessen hatte, den sie charmant gefunden und mit dem sie geschlafen hatte.
Es gab keinen Zweifel, dass Bjarke Laumanns letzte Augenblicke qualvoll gewesen sein mussten. Er war vollständig bekleidet. Der Kopf und der Rest des Körpers waren mit einer grauen Schicht aus Millionen Sandkörnern überzogen. Das Haar war mittelblond gewesen, hatte aber jetzt die Farbe eines Greises. Das Gesicht war in verzerrten Krämpfen erstarrt, mit eingefallenen Augen und einem offenen Mund voller Sand. Er bedeckte die Zunge und den sichtbaren Teil der Zähne.
»Also, was können wir aus diesem Albtraum schlussfolgern?«, wollte Rudi wissen. »Kennen wir, um damit zu beginnen, mit Sicherheit die Identität des Toten? Lykke, du hast Bjarke Laumann mehrfach in Kopenhagen verhört, oder?«
Sie riss sich von dem sandigen Grauen los.
»Ich glaube schon, dass er es ist«, hörte sie ihre eigene tonlose Stimme. »Es würde helfen, wenn ich sein Gesicht besser sehen könnte. Können Sie den Sand wegwischen?«
Der Rechtsmediziner ging ans Ende des Obduktionstisches, an dem es ein tiefes Spülbecken mit dazugehörigem Duschkopf gab.
»Sicher. Ich muss ihn vor der Obduktion ohnehin säubern und die Kleidung entfernen.«
Osmann drehte das Wasser auf und hielt den Duschkopf über den Kopf der Leiche. Schweigend sahen sie zu, wie der Sand fortgespült wurde und das bleiche Gesicht darunter freigab. Es entstand eine Art Illusion von Leben, als der Strahl auf die Lippen traf und sie vibrieren ließ, als wollte der Leichnam etwas sagen. Der Mund füllte sich mit Wasser, das den Sand herausspülte, die Zähne wurden sauber. Als der ganze Kopf sandfrei war, war Lykke sich bereits sicher, aber dennoch suchte sie auf ihrem Telefon nach einem Polizeifoto aus dem Archiv.
»Es ist Bjarke Laumann.«
Sie zeigte den anderen das Display.
»Was können Sie uns über ihn erzählen?«, fragte Mogens Krogh.
»Er ist ein alter Bekannter der Kopenhagener Polizei, verurteilt wegen Drogenhandels, Hehlerei und Einbruchs. Wir haben eine längere Akte über ihn, aber es gibt keinerlei Beweise, dass er in Gewaltverbrechen verwickelt war.«
»Der Name wird durch eine Versichertenkarte bestätigt, die in seiner Tasche steckte, als er uns gebracht wurde«, warf Kresten Osmann ein und nahm eine versiegelte Tüte der Polizei aus einer Schale. »Bjarke Laumann und eine Adresse in Kopenha…«
Mogens Krogh riss ihm die Tüte aus der Hand. Er studierte die Karte und reichte die Tüte weiter an seinen Assistenten.
»Mach weiter, Kresten.«
Rudi warf Lykke einen Blick zu, sagte aber nichts. Der Rechtsmediziner räusperte sich sichtlich irritiert.
»Die Umstände sind ungewöhnlich. Es musste schnell gehen, um den Körper vor der nächsten Flut zu bergen. Frank Joven, der Chef der Kriminaltechnik, und seine Männer haben die Fundstelle des Leichnams draußen im Watt und die Details der Bergung natürlich fotografiert. Ich werde Ihnen einen Link mit einem Passwort für die Homepage des Instituts zur Verfügung stellen. Im Anschluss an diese Leichenschau werde ich den Rest des Körpers vom Sand befreien und die Obduktion vornehmen. Wie deutlich sichtbar ist, gibt es eine größere Verletzung am Hinterkopf, die von einer unbekannten Schlagwaffe herrührt. Daran ist er vermutlich nicht gestorben, aber er wurde bewusstlos geschlagen.«
»Erzählst du mir gerade, dass er lebendig begraben wurde?«, fragte Krogh mit gerunzelter Stirn.
»Es sieht alles danach aus, aber ich warte mit meinen endgültigen Schlussfolgerungen bis zum Abschluss der Obduktion. Er könnte einen Herzinfarkt oder eine Gehirnblutung bekommen haben, was ich für ihn hoffe.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Rudi wissen.
»Zwei Personen«, antwortete Mogens Krogh.
Lykke wartete darauf, dass er weiterredete, aber der widerwillige Kommissar starrte auf den Leichnam.
»Könnten Sie das ausführen?«
Krogh zog mit einem abweisenden Gesichtsausdruck seine Hose hoch.
»Der Mann ist ein achtundzwanzigjähriger Lehrer, der in Melum wohnt. Er heißt Lasse Espersen. Er hatte einen seiner Schüler, Villads Geertsen, auf der Wattwanderung dabei. Sie wurden von der Flut überrascht, nachdem sie die Leiche gefunden hatten. Der Lehrer wurde festgenommen.«
»Aus welchem Grund?«
»Verdacht auf eine mögliche Entführung.«
»Entführung? Von wem?«
Krogh seufzte, als würde er mit einem retardierten Kind sprechen.
»Von Villads Geertsen. Er ist verschwunden, okay? Seit vorgestern suchen wir ihn. Ich dachte, man hätte Sie gebrieft?«
»Eigentlich war es so gedacht, dass Sie uns auf den neuesten Stand bringen«, erwiderte Rudi. »Darf ich um einen etwas genaueren Bericht bitten?«
»Das Operative Kommando der Marine sucht Villads zusammen mit dem ganzen Dorf und anderen Privatleuten«, erklärte Jannick Johansen eifrig. »Hunderte von Kindern und Erwachsenen haben Scheunen, Keller, leere Gebäude, Wälder, Dünen und Felder durchsucht. Es erinnert an den Fall Rosa Molberg, sie verschwand …«
Jannick hielt inne, sein Vorgesetzter hatte ihm einen grimmigen Blick zugeworfen.
»Ich verstehe nicht ganz«, wandte sich Lykke an die beiden Beamten. »Der Tote wurde von dem Lehrer und seinem Schüler gefunden. Warum wird der Lehrer jetzt verdächtigt, den Schüler entführt zu haben?«
»Lasse Espersen hat erklärt, er sei von einem unbekannten Mann bewusstlos geschlagen worden«, antwortete Jannick Johansen. »Als er wieder zu sich kam, waren der Junge und der Mann verschwunden. Wir sind der Meinung, dass es eigenartig klingt, deshalb haben wir ihn verhaftet, bis alles geklärt ist. Es ist zu seinem eigenen Schutz. Die Menschen in Melum sind ziemlich aufgebracht.«
Mogens Krogh sah noch unwilliger aus, wenn dies überhaupt möglich war.
»Können wir bitte eins nach dem anderen besprechen? Im Moment geht’s hier um die Obduktion, briefen kann ich Sie später.«
»Die eigentliche Obduktion braucht Zeit«, erklärte der Rechtsmediziner. »Und ich ziehe es gewöhnlich vor, dabei allein zu sein. Das Wichtigste war, die Identität des Toten festzustellen.«
Kresten Osmann sah aus, als würde er die Anwesenheit von Mogens Krogh gern auf ein absolutes Minimum beschränken, und Krogh schien mindestens ebenso gern den Raum verlassen zu wollen.
»Wir überlassen dich jetzt deiner Arbeit. Ich erwarte den Bericht spätestens morgen …«
»Augenblick«, unterbrach ihn Rudi. »Es gibt da ein paar Fakten, aus denen wir bereits hier und jetzt schlussfolgern können.«
Mogens Krogh glotzte, als hätte ihm der Deutsche auf die Uniform gespuckt.
»Was?«
»Dieser Mann wog mindestens fünfundachtzig Kilo, als er starb. Nach dem, was ich der Landkarte und den mangelhaften Informationen, die wir bekommen haben, entnehmen konnte, wurde Laumann mindestens einen Kilometer draußen im Watt gefunden. Das bedeutet mehreres.«
Er sah Lykke an, die ebenfalls ihre Überlegungen anstellte.
»Gab es Reifenspuren in der Nähe der Leiche, als sie ausgegraben wurde?«, fragte sie.
»Nein.«
»In der Zwischenzeit war Flut«, erklärte Jannick Johansen. »Die Spuren wären verwischt, wenn es sie gegeben hätte.«
Lykke nickte.
»Guter Punkt, Jannick.«
Krogh warf ihr einen scheelen Blick zu.
»Entweder wurde Bjarke Laumann zum Fundort gefahren, oder er ist selbst dorthin gegangen, freiwillig oder unter Zwang«, fuhr sie fort. »Sonst hätte ihn der Täter tragen oder ziehen müssen – immerhin ein Gewicht von achtzig, neunzig Kilo – über einen Kilometer durch den Sand und ohne dass er dabei von Zeugen beobachtet wurde. Das erscheint mir recht unwahrscheinlich.«
»Die Leiche könnte während der Flut mit einem Boot dorthin gebracht und im Meer versenkt worden sein«, schlug Krogh vor.
»Das ist nicht unmöglich, aber dann hätte der Täter riskiert, dass der Tote abgetrieben wird«, widersprach Rudi. »Und der Täter hätte später noch einmal hinausgehen müssen, um den Körper einzugraben. Das konnte er bei Flut nicht.«
»Die Unterströmungen haben ihn mit Sand bedeckt.«
»Als er gefunden wurde, war er so tief eingegraben, dass so etwas kaum vorstellbar ist, soweit ich es verstanden habe.«
»Warum wählt jemand überhaupt ein so schwieriges Versteck?« Lykke stellte die Frage in den Raum. »Warum hat der Täter die Leiche nicht in einem Wald oder einer Düne vergraben?«
»Ich glaube, weil es draußen im Watt zu einem Streit kam. Es war für den Täter am einfachsten, sein Opfer dort zu verstecken. Er hat die Leiche nur nicht tief genug vergraben.«
»Danke, Rudi. Das war genau meine Pointe.«
Mogens Krogh biss sich beinahe die Zunge ab.
»All right, diese Möglichkeit werde ich in meine Überlegungen einfließen lassen.«
Kresten Osmann klatschte ungeduldig mit den Gummihandschuhen auf seine Schürze.
»Könnten Sie den Stand der Ermittlungen bitte woanders diskutieren? Ich würde gern mit meinem Teil der Arbeit beginnen.«
»Ich gebe Ihnen meine Mailadresse,...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2022 |
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Reihe/Serie | Deutsch-dänische Grenzfälle | Deutsch-dänische Grenzfälle |
Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | ann kathrin klaasen ermittelt • Bestseller • Dänemark • dänemark krimi serie • dänischer Bestseller • Dänischer Krimi • Deutsch-dänische Grenzfälle • Flensburg • Grenzkrimi • Jütland • Kindesentführung • Klaus Peter Wolf • Kommissarin Lykke Teit • Kommissar Rudi Lehmann • Krimi Neuerscheinungen 2022 • Krimi-Neuerscheinungen 2022 • krimireihen deutschland • neue Krimireihe • Neue Thrillerreihe • Nordsee-Krimi • Ostfriesenkrimi • ostfriesensturm • Thriller Neuerscheinungen 2022 • weibliche Ermittlerin • whodunit krimis • whodunits |
ISBN-10 | 3-462-30398-8 / 3462303988 |
ISBN-13 | 978-3-462-30398-8 / 9783462303988 |
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