Der Fremde (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022
464 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-27049-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fremde -  Caitlin Wahrer
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Als ihr Schwager Nick nach einem brutalen sexuellen Übergriff im Krankenhaus liegt, ist Anwältin Julia fassungslos.

Der Zwanzigjährige hat mit physischen Verletzungen und einem massiven Trauma zu kämpfen - und Julias Mann Tony, der sein Leben lang wie ein Vater für Nick gesorgt hat, wird von Wut und Verzweiflung aufgefressen. Der Verdächtige wird schnell gefunden, doch er bestreitet Nicks Aussage.

Gleichzeitig verschlechtert sich Nicks psychischer Zustand dramatisch. Julia bemüht sich, ihre Familie zusammen- und den ermittelnden Polizisten Detective Rice auf Abstand zu halten. Doch Tonys Rachegefühle geraten außer Kontrolle, er macht Julia immer mehr Angst.

Und schließlich muss sie sich fragen, wie weit Tony gehen wird, um seine Familie zu beschützen ...

Caitlin Wahrer wurde als Tochter zweier Hippies in einer Kleinstadt in Maine geboren. Sie verließ Neuengland für das College, kehrte aber zurück, um Jura zu studieren. Als praktizierende Anwältin bearbeitet sie täglich Fälle wie den von Nick in »Der Fremde«. Sie lebt mit ihrem Mann im südlichen Maine. »Der Fremde« ist ihr Debütroman.

»Eine der aufregendsten Neuerscheinungen dieser Saison.« New York Times

Kapitel 1
Julia Hall, 2019


Das Haus des sterbenden Detective war ein hohes dunkelblaues Gebäude mit absplitternden Ornament-Verzierungen und Fensterläden. Es hob sich hinter den Schneeverwehungen am Straßenrand gegen den hellen Himmel ab. Obwohl das Haus noch bedeckt war vom Schneefall der letzten Nacht, war die schwarze Dreiundzwanzig über der Tür gut zu erkennen.

In der schmalen Einfahrt war noch Platz, dennoch parkte sie auf der Straße. Julia Hall rutschte auf ihrem Sitz her­um, um an die Tasche ihres dicken Wintermantels zu gelangen. Sie schob die Hand tief hin­ein, bis ihre Finger die Ränder des gefalteten Zettels streiften. Als sie ihn her­auszog, hoffte sie inständig, dass etwas anderes als diese Adresse darauf stehen würde – irgendetwas, das ihr erlauben würde, weiterzufahren und das Haus vielleicht niemals zu finden. Auf das zerknitterte Papier hatte sie 23 Maple Drive, Cape Elizabeth geschrieben, und hier war sie nun.

»Geh einfach«, ­­sagte sie laut und warf einen Blick auf das Haus.

Fenster säumten die Haustür, und durch die heruntergelassenen Rollläden wirkte es verlassen, leer. Dann hatte er sie zumindest nicht beobachtet, als sie mit sich selbst geredet hatte.

Der Wind entriss Julia fast die Tür, als sie aus ihrem SUV stieg. Der Winter war bisher bitterkalt gewesen. Mit zunehmendem Alter fand sie die Kälte jedes Jahr ein bisschen unerträglicher. Sie zog sich die Mütze fester über die Ohren und drehte sich zum Auto um. Ohne nachzudenken, schlug sie die Tür fest zu. Sie zuckte zusammen, als der Klang über die ansonsten ruhige Straße schallte, und dachte an ihren alten Subaru, der eine etwas gröbere Behandlung verlangt hatte. Den sie gefahren hatte, als sie zum letzten Mal mit dem Mann gesprochen hatte, der im Haus auf sie wartete.

Der Weg zum Haus war frisch geräumt. Hatte er das für sie getan? Der Pfad und die Stufen zur Veranda waren mit Salz gestreut, und sie konzentrierte sich auf das Knirschen unter ihren Schuhen, als sie sich auf das Gebäude zubewegte.

Sie schüttelte ihre Hände aus und klingelte.

Noch bevor das Geräusch verklungen war, wurde die Haustür schwungvoll geöffnet.

»Julia«, ­­sagte die Gestalt vor ihr. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«

So wie es aussah, besser als dem Mann vor ihr. Es war eindeutig Detective Rice, auch wenn sein Körper nur noch wie eine Hülle wirkte. Sein einst imposanter Körper schien in sich zusammengesunken zu sein wie ein verwelkter Blumenstiel. Sein Gesicht war blassgelb, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Eine Red-Sox-Kappe saß auf seinem vollkommen kahlen Kopf.

»Gut, Detective Rice. Es geht mir gut.«

Sie schüttelten einander unbeholfen die Hände, nachdem er sich vorgebeugt hatte, als wollte er sie umarmen.

»Nun, möchten Sie reinkommen?«

Jeden Tag, seitdem Sie mich angerufen haben, habe ich mein Frühstück erbrochen, war das, was sie eigentlich darauf erwidern wollte. Doch stattdessen lächelte sie und log. »Ja, natürlich.«

»Und bitte nennen Sie mich doch John«, ­­sagte er, während er wackelig ein paar Schritte rückwärts machte, damit sie eintreten konnte. In den letzten drei Jahren war er stark gealtert, vielleicht durch den Krebs.

Nicht, dass es bei ihr viel besser war. Den Großteil ihres Lebens hatte Julia jung für ihr Alter ausgesehen. Irgendwann hatte sich das jedoch geändert. Sie sah nun aus wie neununddreißig.

Während sie die Stiefel auszog, schaute sie sich in Detective Rice’ kleinem Eingangsbereich um, und eine leise Stimme in ihrem Kopf machte sie darauf aufmerksam, wie merkwürdig es war, überhaupt hier zu stehen.

Die Bank, auf der sie saß, war stabil und praktisch. Je ein Paar Arbeitsstiefel und Anzugschuhe standen darunter, rechts daneben ein Eimer Salz und eine nasse Schaufel, die an der Wand lehnte. Zu ihrer Linken befand sich der einzig auffällige Gegenstand: ein filigranes Regal, gefüllt mit Gartenbüchern. Als sie den Detective damals kennengelernt hatte, hätte sie ihn niemals als jemanden eingeschätzt, der gern im Garten arbeitete. Dazu fehlte es ihm an der nötigen Derbheit.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, erwiderte sie, als sie sich erhob. »Ich glaube, Sie werden immer Detective Rice für mich sein.«

Er grinste sie an und zuckte mit den Schultern.

Sie folgte ihm durch einen schmalen Flur, der gesäumt war von Familienfotos und religiösen Artefakten. Es gab auch mehrere Porträts von Detective Rice in jüngeren Jahren, zusammen mit seiner verstorbenen Frau, wie Julia vermutete, und drei Kindern; ein Kruzifix und ein getrockneter Palmzweig; ein Foto von einem Enkelkind – wahrscheinlich – neben einem Bild von Jesus.

Detective Rice murmelte etwas vor sich hin, während er sie den Flur entlangführte.

»Was?«

Er sah sie über die Schulter hinweg an. »Ich habe nur angemerkt, dass Sie ein neues Auto haben.«

»O ja.« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ich habe wohl etwas aufgerüstet, seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe.«

Sie musterte seinen schmalen Körper. Er war noch immer ein hochgewachsener Mann, dachte sie, während sie ihm folgte, aber seine Krankheit hatte ihm mehrere Zentimeter geraubt.

»Ich dachte, wir setzen uns hierher.« Er deutete in den ersten Raum, den sie erreichten.

Es war eindeutig eine Art Salon – etwas, das Julia bisher nur in Häusern von älteren Menschen gesehen hatte. Wie so oft in solchen Zimmern herrschte eine zugeknöpfte Atmosphäre, trotz des Zweckes, hier Gäste zu empfangen. In der Mitte standen zwei Lehnsessel, dazwischen befand sich ein kleiner Tisch.

Detective Rice bedeutete Julia, im rechten Sessel Platz zu nehmen, während er selbst zu einem anderen Raum weiterging.

Sie wartete ein paar Sekunden und steckte dann den Kopf durch die Tür zum Flur hin­aus. Rechts befand sich noch eine weitere Tür. Die Küche lag ganz am Ende des Ganges. Julia lauschte, hörte aber nichts, drehte sich wieder um.

Tief durchatmen, dachte sie und holte Luft. Dann ging sie auf das Panoramafenster auf der anderen Seite des Zimmers zu. Es zeigte zum Maple Drive, gegenüber war ein großes Haus zu sehen. Die Scheibe sandte eine gleichmäßige Kälte aus, und Julia berührte mit einem zitternden Finger das Glas. Kaum sonst irgendwo herrschten so raue Wetterverhältnisse wie im Februar in Maine. Die kalten Monate waren schwer; das waren sie schon immer gewesen. Jedes Jahr musste sich Julia der Realität des Herbstes und Winters in Maine stellen, und keines von beidem passte jemals zu den von Nostalgie geprägten Erinnerungen in ihrem Kopf. Normalerweise begann es im Dezember zu schneien und hörte im April auf. Und nach jenem Winter – dem Winter, in dem sie Detective Rice zuletzt gesehen hatte – hatte jeder folgende etwas ausgesprochen Melancholisches an sich, das zusammen mit dem Schnee weggeschaufelt werden musste.

»Endlos, nicht wahr?«

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hinter sich hörte.

Er stand wieder im Türrahmen und lächelte sie an. In den Händen hielt er zwei Tassen. Er hatte nur Kaffee geholt.

Sie atmete aus, wahrscheinlich voller offensichtlicher Erleichterung.

Er deutete zu den Sesseln, und diesmal setzte sie sich. Sie nahm eine Tasse entgegen und sah zu, wie er es sich auf seinem Platz bequem machte. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, war aber doch nicht der von Kaffee, sondern von Tee. Sie probierte ihn und stellte überrascht fest, dass er stark gesüßt war.

»Wie geht es Ihren Kindern?«, ­­fragte Detective Rice, nachdem er einen kleinen Schluck aus seiner Tasse genommen hatte.

»Gut, danke.«

»Wie alt sind sie mittlerweile?«

»Äh, zehn und acht.«

»Man ist nie bereit dafür, dass sie erwachsen werden.«

Irgendetwas hatte er an sich, das einen leicht vergessen ließ, dass er selbst Kinder hatte – erwachsene Kinder –, sogar Enkelkinder, nach den Bildern im Flur zu urteilen. Es lag nicht an seinem Charakter, sondern an seinem Beruf. Die Tatsache, dass er Detective war, überdeckte, dass er auch ein Privatleben führte.

Julia nickte und wartete darauf, dass er sie fragen würde, wie es Tony ging.

»Ich nehme an, Sie waren überrascht, letzte Woche von mir zu hören.«

Damit wäre das geklärt, dachte sie. Dass er über ihren Mann hinwegging, fühlte sich an wie ein persönlicher Affront, besonders, wenn man bedachte, was alles geschehen war. Dennoch hielt sie sich davon ab, verärgert die Stirn zu runzeln.

Sie war tatsächlich überrascht gewesen, als sie am Donnerstag nach einem langen Morgen im Gericht ihr Handy hervor­geholt und eine einzige Nachricht auf ihrer Mailbox entdeckt hatte. Normalerweise versprach es ein einfacher Tag zu werden, wenn sie bis mittags nur einen verpassten Anruf hatte. Sie hatte dem Ordner an der Tür einen Abschiedsgruß zugerufen und hörte die Nachricht ab, während sie sich zügigen Schrittes vom Gerichtsgebäude entfernte. Angesichts der krächzenden Stimme, die aus dem Handy ertönte, war sie abrupt stehen geblieben; sie klang schleppend, aber unverkennbar. Eine Stimme, die sie zu fürchten gelernt hatte. Vor ein paar Jahren war sie immer, wenn ihr Telefon geklingelt oder eine Mailbox-Nachricht aufgeleuchtet hatte, kurz davor gewesen, in Panik auszubrechen aus Angst, dass seine Stimme am anderen Ende der Leitung erklingen würde.

»Ich war in der Tat überrascht, von Ihnen zu...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2022
Übersetzer Melike Karamustafa
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel THE DAMAGE (vorher A KINDNESS, Autorenname Regan Rose)
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte bester Roman • Bester Thriller • Bruder • Bruderliebe • Erschütternd • Familie • Geheimnis • Homosexualität • Julie Clark • Page Turner • The Damage • Thriller • Twist • Verbrechen • Vergewaltigung
ISBN-10 3-641-27049-9 / 3641270499
ISBN-13 978-3-641-27049-0 / 9783641270490
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