Ramón Cabot wird am hellichten Tag im voll besetzten Sóller-Express erstochen. Der Fall scheint klar: Cabot hat sich während der Fahrt mit seinem Erzfeind Pablo Rivera gestritten. Sargento Lluc Casasnovas übernimmt den Fall. Es soll der krönende Abschluss seiner Karriere werden, bevor er in Frühpension gehen und sich endlich seinem sträflich vernachlässigten Garten widmen kann. Doch so einfach ist das nicht: Es scheint einfach keine Zeugen zu geben, genauso wenig wie eine Tatwaffe. Und dann ist da auch noch Llucs Nachfolgerin Josefina García, die ihm ständig dazwischen pfuscht.
Geboren und aufgewachsen in Hannover, hat Lilly Alonso in Berlin studiert und gelebt, bis die Liebe sie schließlich nach Mallorca geführt hat. Hier genießt sie seit fast 20 Jahren das Inselleben, arbeitet als Zahnärztin, beobachtet Land und Leute und schreibt Krimis.
3
Ein lautloser Schrei entfuhr dem dünnen Mädchen, noch bevor es über Bord gestoßen wurde.
Wo ihr Körper die glatte Meeresoberfläche durchbrach, entstand eine weiße Fontäne, die Millionen von Wassertropfen in die Luft schleuderte.
Lluc Casasnovas duckte sich, wie um dem Schauer auszuweichen, obwohl sein Boot mehrere Hundert Meter entfernt vor Anker lag.
Er senkte das Fernglas.
»Bei der Sunseeker dort drüben stimmt etwas nicht. Wir sollten nachsehen …«
»Du bist nicht im Dienst, Lluc.« Juan verharrte in seiner meditativen Haltung und sah nicht einmal auf, während er sprach.
»Mein Pflichtbewusstsein hänge ich nicht mit der Uniformjacke an den Garderobenhaken.«
Juan seufzte und öffnete ein Auge. »Junge Leute, die Arschbomben vom Boot machen. Keine Terroristen, keine Drogenschmuggler. Du musst lernen, dich zu entspannen. Das ist das Alpha und Omega des Angelns.«
Lluc setzte erneut den Feldstecher an. Das Mädchen kletterte nun mühsam die Badeleiter ins Boot zurück und zog sich die verrutschte, am Körper klebende Hose zurecht. Einer ihrer Begleiter stieg auf die Reling, sprang in die Höhe und ließ sich mit angezogenen Knien ins Meer plumpsen. Die daraus resultierende Wasserbewegung drohte einen Minitsunami auszulösen. Arschbombe 2.0. Die perfektionierte Version.
Widerwillig legte Lluc das Fernglas in den wasserabweisenden Segeltuchbeutel zurück. Sein Freund behielt recht. Die jungen Leute amüsierten sich. Und das sollte er eigentlich auch tun.
Denn heute begann die letzte Woche seines Lebens.
Seines alten Lebens.
Alles würde vorbei sein: sein Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Job. Die erbärmliche Freizeitgestaltung – hier musste er allerdings die einsamen Abendessen mit seiner Lieblingsnachrichtendame des ersten Programms ausklammern, die ihm lächelnd vom Bildschirm Gesellschaft leistete. Sie trug die Meldungen des Tages in so charmanter Weise vor, dass selbst das Scheitern der spanischen Regierungsbildung und die brennenden Proteste in Katalonien wie hoffnungsvolle Botschaften klangen. Das würde bleiben.
Der heutige Morgen stellte den Auftakt der neuen Ära dar, ein Probefreizeiten sozusagen, der Pilotfilm für die Serie der grandiosen Tage, die ihm in Zukunft bevorstanden. Er sollte also besser auf Juan hören und sich entspannen.
Re-nais-sance.
Ein wundervolles Wort. Er ließ es sich auf der Zunge zergehen wie die Meersalzschokolade aus dem Trüffelladen in Palma, die er sich in wochenweisen Riegelportionen streng rationierte.
Die weiße Llaüt – ein traditionelles balearisches Fischerboot aus Holz – schaukelte sanft auf den kurzen Wellen, ein leichtes Rollen wie das rhythmische Wippen einer Wiege. Nur ein von einer weiblichen Stimme gesummtes Schlaflied fehlte noch zum perfekten Schlummer. Lluc schloss die Augen. Die Angelrute wog schwer in seiner Hand, und er verstärkte den Griff, um sie nicht versehentlich loszulassen, sollte der Schlaf ihn tatsächlich überkommen.
Das hysterische Kreischen eines Vogels holte ihn aus seinem entspannten Dämmerzustand.
Vom Inselfelsen des Morro de Sant Joan, einen Steinwurf entfernt von der Stelle, an der sie ankerten, erhob sich eine Korallenmöwe in die Luft, stürzte im Sinkflug auf das türkisblaue Wasser und tauchte den roten Schnabel zielgerichtet zwischen zwei Wellen. Sie verschwand in den Lüften, ohne dass Lluc ihre Beute genau erkennen konnte.
Aber da hatte etwas in ihrem Schnabel gehangen, was auf Lebensformen in diesem Gewässer hindeutete. Fische. Lluc brauchte nur über die Bordkante des Holzbootes zu sehen, um selbst mit bloßem Auge ganze Schwärme in unterschiedlichen Größen und Formen im klaren Wasser zu erkennen.
Warum bissen sie dann nicht an?
Er drehte den Kopf zu Juan, der still neben ihm hockte und eine Ruhe ausstrahlte wie ein zufriedener Buddha. Stämmig und breitschultrig, mit der majestätischen Stabilität einer Pyramide, während die einzige Bewegung in dem Spiel des Windes durch die Spitzen seiner langsam ergrauenden hellbraunen Haare bestand. Das mussten auch die Fische bemerkt haben und seiner Angelrute gefolgt sein wie einem Licht am Ende des Tunnels.
Lluc sah betreten in seinen leeren Eimer, der blanke Plastikboden ein mahnender Hinweis auf seine mangelnde Angelkunst. Ganz im Gegensatz zu Juans Kübel. Eine dicke Llampuga starrte ihm dort vorwurfsvoll aus toten Augen entgegen, die regenbogenfarbenen Schuppen sonnenlichtbrechende Miniprismen. Der Fisch wog bestimmt fünf Pfund, doch Juan hatte ihn lachend als Zufallsfang abgetan. Der Grund, aus dem sie schon kurz vor der Morgendämmerung hier gesessen hatten, befand sich in Juans zweitem Eimer: Calamares.
Fünf alabasterfarbene Körper, die wie Geister im Wasser schwebten.
»Calamares sind nachtaktiv, also am besten abends oder vor Sonnenaufgang zu fischen«, hatte Juan mit dieser dunklen Stimme erklärt, die bei genauer Betrachtung ebenfalls für das Summen von Schlafliedern geeignet war. »Ab September ist Hauptfangsaison, weswegen du theoretisch auch zu anderen Tageszeiten welche angeln kannst.«
Theoretisch.
Juans Erfolg hing zweifellos mit dieser Entspanntheit zusammen, die selbst Lluc fast körperlich spüren konnte.
Also schloss er die Augen und tauchte in der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern nach der Perle der Ruhe, die sich dort irgendwo befinden musste. Schließlich hatte Juan sie auch gefunden. Offensichtlich suchte Lluc an der falschen Stelle, oder seine Suchmethode war verkehrt, denn da war kein Frieden. Keine wohlige Entspannung oder zufriedene Akzeptanz. Das Einzige, das sich breitmachte wie ein unerwünschter Besucher, war grenzenlose Langeweile.
Und die Gedanken an die öden Fälle, die ihm heute Nachmittag bevorstehen würden – womit er wieder bei der Langeweile ankam: die letzte Woche im Delikatessenladen des Carrer de Sa Luna entwendete Lieferung des Dattel-Balsamicos und der teuren Sonderedition des aus Sóller stammenden Cabraboc-Gins. Die Einzigartigkeit des Gins mit seinem Bouquet von Anis und Orangen war nicht zu leugnen, obwohl er selbst die reguläre Variante bevorzugte, die über ein stärkeres Zitrusaroma verfügte. Dennoch hatte gestohlener Alkohol, egal welcher Exzellenzstufe, nicht ganz oben auf seiner Liste der Aktivitäten gestanden, als er den Chefposten der Dienststelle in Sóller angetreten hatte.
Er rieb sich nachdenklich über das borstige Kinn, wo er an diesem Morgen graue Stoppeln in dem dichten Bartwuchs entdeckt hatte. Nein, das brauchte er mit Anfang fünfzig nicht mehr.
Ebenso wenig das Abzeichnen der Protokolle der Barschlägerei an der Rambla im Puerto, die mit zwei gebrochenen Nasen und einer Platzwunde den Flamencoabend mit Livemusik beendet hatte. Natürlich fühlten sich die Anwohner gestört, weil drei Konzertgitarren und vier im Takt der rauchigen Gitano-Stimme klatschende Hände – allesamt mikrofonverstärkt – nicht unbedingt die Nachtruhe förderten. Aber ein Anruf bei der Policía Local hätte ausgereicht, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Von den entlaufenen Katzen, Hunden, Pferden und manchmal auch aus dem Altersheim für Demenzerkrankungen entwischten Patienten ganz zu schweigen. Erst letzte Woche hatten sie María Francisca, die Schwiegermutter des Metzgers aus der Sa Lluna, oben auf dem Friedhof aufgesammelt. Sie hatte mitten auf dem Grabstein der Familiengruft der Colls gesessen. Zwischen den noch frischen Gladiolen und getopften Chrysanthemen der kürzlich stattgefundenen Beerdigung und mit Blick aufs Alfabia-Gebirge in aller Seelenruhe ihre Coca de verduras gekaut, die sie vom Mittagessen unverpackt in ihrer Jackentasche transportiert hatte.
In den seltenen Momenten der Wahrhaftigkeit, wenn die Langeweile stark genug war und keine andere Ablenkung ihr schillerndes Gefieder präsentierte, hinter dem er sich verstecken konnte, wusste Lluc, dass das nicht der wahre Grund seiner Verdrossenheit war. Aber mit der Wahrheit verhielt es sich wie mit zahlreichen anderen Dingen im Leben. Es hing davon ab, wie viele Stufen man bereit war, ins Kellergeschoss des eigenen Bewusstseins hinabzusteigen, in dem die Unzufriedenheit hauste. Die Treppen bis zum ersten Absatz waren noch leicht. Die Luft wohltemperiert und trocken.
Natürlich konnte man Sóller kriminaltechnisch nicht gerade mit Chicago oder der Bronx vergleichen. Lluc hatte gewusst, worauf er sich einließ, als er vor zehn Jahren den Posten angetreten hatte. Mit knapp über vierzehntausend Einwohnern war Sóller ein Dorf an der Nordwestküste Mallorcas, selbst wenn es als Kleinstadt galt. Selbstverständlich kannte Lluc nicht sämtliche Bewohner, aber viele waren ihm vertraut. Es war mühsam, Neutralität zu wahren und seinem Job nachzugehen, wenn die Leute einen richterlichen Spruch von ihm erwarteten, um dann mit Missbilligung und bösen Blicken in der Bar Plaza gestraft zu werden.
Irgendjemandes Fuß befand sich immer unter Llucs Sohle des Gesetzes. Er war es müde, in ihre Geschichten hineingezogen zu werden.
Nur eine Stufe tiefer auf der Treppe des Bewusstseins veränderte sich das Klima. Modrige, feuchte Wärme schlug ihm hier entgegen. Lluc wusste, nur einen Schritt weiter war die Luft so abgestanden, dass es ihm die Kehle zuschnüren und das Atmen schwerfallen würde. Also blieb er, wo er war.
Außerdem war es so langweilig auch wieder nicht.
Das laute Motorgeräusch eines nahenden Bootes zerrte Lluc aus seinen Gedanken. Noch bevor der runde Rumpf eines grauen RIB Boots am Buchteingang erschien, wusste er, welcher von Sóllers...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2022 |
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Reihe/Serie | Casasnovas ermittelt auf Mallorca | Casasnovas ermittelt auf Mallorca |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • aktuelle bestseller • außergewöhnlicher Ermittler • eBooks • Jean-Luc Bannalec • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Luis Sellano • Mallorca • Mord im Orientexpress • neue Krimis 2022 • Neuerscheinung • Pierre Martin • Regionalkrimi • Remi Eyssen • Sophie Bonnet • Spanien • Urlaubskrimi |
ISBN-10 | 3-641-27238-6 / 3641272386 |
ISBN-13 | 978-3-641-27238-8 / 9783641272388 |
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