Die Sammlerin der verlorenen Wörter (eBook)

Roman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-27236-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sammlerin der verlorenen Wörter -  Pip Williams
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Oxford, Ende des 19. Jahrhunderts. Esme wächst in einer Welt der Wörter auf. Unter dem Schreibtisch ihres Vaters, der als Lexikograph am ersten Oxford English Dictionary arbeitet, liest sie neugierig heruntergefallene Papiere auf. Nach und nach erkennt sie, was die männlichen Gelehrten oft achtlos verwerfen und nicht in das Wörterbuch aufnehmen: Es sind allesamt Begriffe, die Frauen betreffen. Entschlossen legt Esme ihre eigene Sammlung an, will die Wörter festhalten, die fern der Universität wirklich gesprochen werden. Sie stürzt sich ins Leben, findet Verbündete, entdeckt die Liebe und beginnt für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

»Eine wunderschöne Erkundung der Geschichte und der Macht der Sprache. Dieser subversive Roman verwebt stimmungsvoll Liebe, Verlust und Literatur - für alle, die Wörter lieben und feiern.« Reese Witherspoon

Pip Williams, geboren in London, aufgewachsen in Sydney, lebt mit ihrer Familie in Südaustralien. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und neben ihrer Forschung leidenschaftliche Autorin eines Reisememoirs, von Artikeln, Buchrezensionen, Flash Fiction und Gedichten. Ihre Faszination für Sprache und ihre Recherchen in den Archiven des Oxford English Dictionary inspirierten ihren ersten Roman »Die Sammlerin der verlorenen Wörter«, der ein Nr.-1-Sensationserfolg in ihrer australischen Heimat wurde. Mehrfach preisgekrönt, stand dieser Roman auf der Shortlist für den Walter Scott Prize for Historical Fiction. Auch »Die Buchbinderin von Oxford« wurde zum Nr.-1-Bestseller in Australien.

Mai 1887

Scriptorium. Das klingt, als wäre es ein beeindruckendes Gebäude gewesen, in dem noch die leisesten Schritte zwischen Marmorboden und vergoldeter Kuppel widerhallen. Aber es war nur ein Schuppen im rückwärtigen Garten eines Hauses in Oxford.

Doch statt Schaufel und Rechen enthielt der Gartenschuppen Wörter. Jedes Wort der englischen Sprache war auf postkartengroßen Zetteln notiert. Freiwillige Mitarbeiter aus aller Welt schickten sie ein, woraufhin sie zu Bündeln geordnet in den Hunderten von Regalfächern aufbewahrt wurden, die die Wände des Schuppens säumten. Dr. Murray war der Einzige, der scriptorium sagte – bestimmt fand er es beschämend, dass die englische Sprache in einem Gartenschuppen gelagert wurde –, alle anderen, die dort arbeiteten, nannten es einfach bloß Scrippy. Alle bis auf mich. Mir gefiel, wie es sich anfühlte, das Wort scriptorium in den Mund zu nehmen, meine Lippen sanft darum zu wölben. Ich brauchte lange, bis ich es aussprechen konnte, und als es endlich so weit war, kam nichts anderes mehr infrage.

Vater half mir einmal dabei, in den Fächern nach scriptorium zu suchen. Wir fanden fünf Belegzettel mit Beispielen für den Gebrauch des Wortes, und alle Zitate reichten kaum mehr als hundert Jahre zurück. Sie lauteten mehr oder weniger gleich, und keines bezog sich auf einen Schuppen im rückwärtigen Garten eines Hauses in Oxford. Ein scriptorium, so die Belegzettel, sei eine Schreibstube in einem Kloster.

Trotzdem konnte ich verstehen, warum Dr. Murray dieses Wort ausgesucht hatte. Seine Assistenten und er waren auch ein bisschen so wie Mönche, und als ich fünf Jahre alt war, konnte ich mir leicht vorstellen, dass das Wörterbuch ihre Heilige Schrift war. Als Dr. Murray mir erklärte, dass es eine Lebensaufgabe war, all die Wörter zusammenzutragen, fragte ich mich: wessen Lebensaufgabe? Sein Haar war bereits aschgrau, und erst die Hälfte des Buchstabens B war erfasst.

* * *

Vater und Dr. Murray hatten als Lehrer in Schottland gearbeitet – lange bevor es ein Skriptorium gab. Und weil sie Freunde waren, weil ich keine Mutter hatte, die sich um mich kümmerte, weil Vater einer von Dr. Murrays bewährtesten Lexikographen war, drückten alle ein Auge zu, wenn auch ich mich im Skriptorium aufhielt.

Das Skriptorium war ein magischer Ort – ganz so, als würde alles, was es jemals gab und geben würde, an ihm aufbewahrt. Bücher türmten sich auf jeder freien Fläche. Frühere Wörterbücher, historische Texte und uralte Sagen füllten die Regale, die einen Schreibtisch vom anderen trennten oder eine Nische bildeten, in der ein Stuhl stand. Ihre Fächer reichten vom Boden bis zur Decke. Sie waren voller Zettel, und Vater meinte mal, dass ich nach ihrer Lektüre die Bedeutung von allem kennen würde.

In der Mitte stand der Sortiertisch. An einem Ende saß Vater, während an jeder Seite Platz für drei Assistenten war. Am anderen Ende befand sich Dr. Murrays Stehpult, mit Blick auf all die Wörter und Männer, die ihm halfen, sie zu definieren.

Wir waren stets vor den anderen Lexikographen da, und in dieser kurzen Zeit hatte ich Vater und die Wörter ganz für mich allein. Ich saß auf seinem Schoß am Sortiertisch und half ihm beim Ordnen der Zettel. Immer wenn wir auf ein Wort stießen, das ich nicht kannte, las er das dazugehörige Zitat vor und half mir, seine Bedeutung zu verstehen. Wenn ich die richtigen Fragen stellte, versuchte er, das Buch zu finden, aus dem das Zitat stammte, um mir noch mehr daraus vorzulesen. Es war wie eine Schatzsuche, und manchmal fand ich Gold.

»This boy had been a scatter-brained scapegrace from his birth.« – »Dieser Junge war von Geburt an ein zerstreuter Taugenichts.« Vater las das Zitat von einem Zettel ab, den er gerade aus einem Umschlag gezogen hatte.

»Bin ich ein zerstreuter Taugenichts?«, fragte ich.

»Manchmal.« Vater kitzelte mich.

Dann fragte ich, wer dieser Junge sei, und Vater zeigte mir, was oben auf dem Zettel stand.

»Ala-ed-Din and the Wonderful Lamp« – »Aladin und die Wunderlampe«, las er.

Wenn die anderen Assistenten kamen, kroch ich unter den Sortiertisch.

»Sei mäuschenstill und komm uns nicht in die Quere«, ermahnte mich Vater.

Es war leicht, sich zu verstecken.

Am Ende dieses Tages saß ich in der Wärme des Kamins auf Vaters Schoß, und wir lasen »Aladin und die Wunderlampe«. Eine ganz alte Geschichte, wie mir Vater erklärte. Sie handelte von einem Jungen aus China. Als ich fragte, ob es noch mehr solche Geschichten gebe, meinte er, noch tausend mehr. Diese Geschichte war anders als alles, was ich bisher gehört hatte, sie spielte an einem Ort, an dem ich noch nie gewesen war, und handelte von niemandem, den ich kannte. Ich schaute mich im Skriptorium um und stellte mir vor, es wäre die Lampe eines Geistes. Von außen sah es ganz gewöhnlich aus, doch von innen war es voller Wunder. Und vieles war nicht das, wonach es aussah.

Nachdem ich Vater am nächsten Tag mit den Zetteln geholfen hatte, bettelte ich um eine neue Geschichte. In meiner Begeisterung vergaß ich mäuschenstill zu sein und kam ihm in die Quere.

»Ein Taugenichts wird hier nicht bleiben dürfen!«, warnte mich Vater, und ich stellte mir vor, in Aladins Höhle verbannt zu werden. Den Rest des Tages verbrachte ich unter dem Sortiertisch, wo mich ein kleiner Schatz erwartete.

Es war ein Wort, das vom Tischende kam. Wenn es in meiner Nähe landet, so sagte ich mir, werde ich es retten und Dr. Murray höchstpersönlich übergeben.

Ich schaute ihm zu. Eine Ewigkeit beobachtete ich, wie es auf unsichtbaren Luftströmungen einherschwebte. Ich ging davon aus, dass es auf dem ungefegten Boden landen würde, doch das tat es mitnichten. Es flatterte durch die Luft wie ein Vogel, setzte beinahe auf, um dann einen Salto schlagend emporzuwirbeln, als wäre es von einem Geist gebissen worden. Nie hätte ich damit gerechnet, dass es in meinem Schoß landen, dass es so weit fliegen würde. Doch genau das tat es.

Das Wort lag in den Falten meines Kleides wie ein funkelndes Himmelsgeschenk. Ich wagte nicht, es zu berühren. Nur in Vaters Beisein durfte ich die Wörter halten. Ich wollte schon nach ihm rufen, doch etwas ließ mich innehalten. Lange saß ich so mit dem Wort da, wollte es anfassen und dann doch wieder nicht. Was war das für ein Wort? Wem gehörte es? Niemand bückte sich, um es zurückzufordern.

Irgendwann griff ich danach und achtete darauf, seine silbrigen Flügel nicht zu zerknittern. Ich hielt es mir ganz nah vors Gesicht. Im Dämmerlicht meines Verstecks war es nur schwer zu entziffern. Ich rutschte in Richtung eines Vorhangs aus flimmerndem Staub, der zwischen zwei Stühlen hing.

Ich hielt das Wort ins Licht. Schwarze Tinte auf weißem Papier. Acht Buchstaben; der erste war ein Bienen-B. Ich formte den Rest mit den Lippen, wie Vater es mir beigebracht hatte. O für Orange, N für naseweis, D für Dachs, M für Murray, A für Apfel, I für Insel und noch mal D für Dachs. Ich flüsterte die Buchstaben. Der Anfang war leicht: bond. Für den Rest brauchte ich etwas länger, aber dann fiel mir wieder ein, dass A und I zusammengezogen werden können. Maid.

Das Wort hieß bondmaid – leibeigene Magd. Darunter standen andere Wörter, die sich verflochten wie ein Wollfaden. Ich konnte nicht beurteilen, ob sie sich zu einem Zitat zusammensetzten, das ein freiwilliger Mitarbeiter eingeschickt hatte, oder zu einer Definition, die von einem von Dr. Murrays Assistenten notiert worden war. Vater sagte immer, all die Stunden, die er im Skriptorium verbringe, dienten dazu, schlau aus den Wörtern zu werden, die von Freiwilligen eingesandt wurden. Mit dem Ziel, die Bedeutung ebendieser Wörter im Wörterbuch zu definieren. Das sei wichtig und sorge auch dafür, dass ich eine Ausbildung und drei warme Mahlzeiten am Tag erhalte, damit einmal eine reizende junge Dame aus mir werde. Die Wörter, so meinte er, seien für mich.

»Wird man sie alle definieren?«, fragte ich ihn einmal.

»Manche wird man weglassen«, erwiderte Vater.

»Warum?«

Er schwieg. »Sie sind einfach nicht zuverlässig genug belegt.« Ich runzelte die Stirn, und er sagte: »Weil sie von zu wenigen Leuten aufgeschrieben wurden.«

»Und was passiert mit diesen weggelassenen Wörtern?«

»Die kommen zurück in die Fächer. Gibt es nicht genug Informationen darüber, werden sie aussortiert.«

»Aber wenn sie nicht ins Wörterbuch kommen, werden sie vielleicht vergessen!«

Er neigte den Kopf und sah mich an, als hätte ich etwas Wichtiges gesagt. »Ja, das ist gut möglich.«

Ich wusste also, was passierte, wenn ein Wort aussortiert wurde. Ich faltete bondmaid sorgfältig zusammen und steckte es in meine Schürzentasche.

Kurz darauf tauchte Vaters Gesicht unter dem Sortiertisch auf. »Beeil dich, Esme! Lizzie wartet schon auf dich.«

Ich spähte zwischen den vielen Beinen hindurch – zwischen denen von Stühlen, Tischen und Männern – und sah Murrays junges Dienstmädchen in der offenen Tür stehen, die Schürze straff um die Taille gebunden, zu viel Stoff darüber und zu viel Stoff darunter. Sie wachse erst noch in ihre Uniform hinein, erklärte sie mir, doch von meiner Warte aus kam sie mir vor wie jemand, der Verkleiden spielt. Ich krabbelte zwischen den verschiedenen Beinen hindurch und eilte zu ihr.

»Das nächste Mal...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Christiane Burkhardt
Sprache deutsch
Original-Titel The Dictionary of Lost Words
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 19. Jahrhundert Roman • 2022 • eBooks • Frauenbewegung Roman • Geschenk für Bibliophile • Geschenk für Buchliebhaber • Historische Romane • Historischer Roman • Neuerscheinung • Nr.-1-Bestseller • oed • Oxford English Dictionary • Roman zum Verschenken • Sprachgeschichte Roman
ISBN-10 3-641-27236-X / 364127236X
ISBN-13 978-3-641-27236-4 / 9783641272364
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