Unten am Fluss versteckt sich ein Biest. Flüsternd erzählt es einer Krähe von dem Mädchen, das aufgehört hat zu atmen, obwohl es doch nur mit ihr kuscheln wollte. Das Biest heißt Leon und niemand weiß, woher Leon seine übermenschlichen Kräfte hat. Seine Mutter und sein bester Freund Mirko wissen aber, wie schwer es ihm fällt, sie zu kontrollieren. Die Geschichte, die dazu geführt hat, dass sich Leon jetzt am Fluss verstecken muss, handelt von Einsamkeit und Verzweiflung, von wilder Liebe und davon, wie in einer einzigen Nacht alles schiefgehen kann. Es ist die Nacht, die Mirko und Leon für den Rest ihres Lebens aneinander bindet.
'Biest' ist tragisch, aufregend, warmherzig und humorvoll. Eine modernes Märchen über das Anderssein und die Geschichte einer schicksalhaften Freundschaft.
Ane Riel, Studium der Kunstgeschichte, wurde 1971 in Aarhus geboren. Ihr Debütroman »Blutwurst und Zimtschnecken« wurde als bester dänischer Krimiroman des Jahres ausgezeichnet. Für ihren zweiten Roman »Harz« hat sie gleich alle vier wichtigen skandinavischen Krimipreise bekommen: den dänischen, norwegischen, schwedischen Krimipreis sowie den Preis für den besten Kriminalroman Skandinaviens insgesamt.
AM FLUSS
Es ist schon ein bisschen ärgerlich, dass ich sie immer totmache. Sie sind ja auch wirklich nicht gefährlich. Es ist nur so schön, sie zu streicheln. Und sie sind klein genug für die Hosentasche. Magst du Mäuse auch gern?
Du frisst sie wahrscheinlich.
Stell dir vor, so klein zu sein, dass du in ein Loch in der Erde flitzen und darin verschwinden kannst. Das würd ich auch gern können, nur so ab und zu. Ich falle den Leuten immer auf, weil ich so groß bin. »Schau dir den da an«, sagen sie und zeigen auf mich. Es ist zwar gut, groß zu sein, wenn man Bauholz schleppen oder Kornsäcke verladen soll, aber nicht, wenn man die Anweisung bekommen hat, sich zu verstecken. Jetzt gerade wär ich lieber eine Maus als ein Mensch.
Erinnerst du dich an Mirko, der letztes Mal mit mir zusammen war? Auf den warte ich. Er war’s auch, der gesagt hat, ich soll weglaufen und mich hier am Fluss verstecken, wenn auf dem Hof was schiefgeht. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass was schiefgeht, wo doch zwei Wochen lang alles gut gegangen ist. Aber dann hab ich ein bisschen zu fest zugedrückt. Ich hab es nicht mit Absicht gemacht.
Es war nur, weil sie geschrien hat. Das Mädchen.
Ansonsten war sie so nett zu mir. Ich glaub wirklich, sie mochte mich. Es war auch schön, sie anzufassen, ganz unglaublich weich. Wenn sie in meiner Tasche Platz gehabt hätte, hätte ich sie wohl mitgenommen.
Mirko ist der netteste Mensch, den ich kenne. Wenn man so will, auch der einzige. Er ist jedenfalls der Einzige, der mich richtig kennt. Wenn ich Mirko jemals was Schlimmes antun würde, hätte ich keine Ahnung, was ich danach machen sollte. Wahrscheinlich würde ich sterben.
Vielleicht würde ich so ähnlich werden wie dieser junge Mann mit den eingefallenen Wangen und den vorstehenden Augen, den wir mal getroffen haben. Den werde ich nie vergessen. Das war auf einer der kleinen Straßen im Süden, glaub ich. Auf jeden Fall war es unerträglich heiß, und das schon lange, denn das ganze Tal war von Norden bis Süden staubtrocken.
Mirko und ich hatten uns unter einen Baum in den Schatten gestellt, als wir den Mann kommen sahen. Er zog die Beine ganz seltsam über den Kies und ging beim Gehen fast in die Knie. »Schau dir den da an«, hab ich zu Mirko gesagt. »Der fällt ja gleich um.«
»Da hast du recht«, sagte Mirko, und dann hat er dem Mann zugerufen: »Hallo, Kamerad, du musst dich ausruhen. Setz dich hier in den Schatten und trink ein bisschen Wasser.«
Der Mann blieb stehen, aber egal, wie sehr Mirko ihn lockte, er wollte sich weder in den Schatten setzen noch etwas zu trinken haben. Er hatte seine Verlobte bei einem Brand verloren, erzählte er. Und es war alles seine Schuld! Er hat beim Sprechen gepfiffen. Wie ein müder, alter Esel. Er sah auch aus wie ein müder, alter Esel.
Der Typ hat nicht verraten, was er getan hatte – ärgerlicherweise, denn ich hätte es schon gern gewusst. Aber er hat erzählt, dass er weiter der Sonne entgegengehen wollte, bis die Hitze das Leben aus ihm herausquälen würde. Stell dir vor, das hat er gesagt. Ich weiß nicht, ob es ihm gelungen ist, auf diese Art zu sterben, aber schön sah es nicht aus. Seine Augen standen so weit aus seinem Kopf hervor, dass sie ihm fast voraus waren.
Als er weiter die Landstraße entlangstolperte, dachte ich mehrere Male, er würde hinfallen, aber das ist nicht passiert. Mirko sagte, wir sollten ihn gehen lassen. Es sieht Mirko ansonsten gar nicht ähnlich, jemanden so leiden zu lassen.
Wir saßen lange da und haben dem Mann nachgeschaut, bis er nur noch ein zitterndes schwarzes Insekt war, das im Licht verschwand.
»Wollte er wirklich sterben, weil er nicht ohne seine Verlobte leben konnte?«, hab ich Mirko hinterher gefragt. »Die muss aber echt nett gewesen sein.«
»Es ging bestimmt eher darum, dass er nicht mit der Schuld leben konnte«, hat Mirko geantwortet, und dann wollte er nicht mehr weiter darüber reden. Er war für den Rest des Tages merkwürdig still.
Ich will nicht von der Sonne verbrannt werden. Es muss bessere Arten geben zu sterben, wenn man wirklich will. Man könnte sich zum Beispiel in einem Fluss ertränken. Wenn ich jetzt hier an der tiefsten Stelle hineinspringen würde, wär ich wohl in einer Sekunde tot. Es ist momentan massenhaft Wasser im Fluss, viel mehr als beim letzten Mal, als wir hier waren. Ich wette, die Strömung würde mich zur Biegung an der großen Trauerweide spülen, wo ich an den Wurzeln hängen bleiben würde, die aus dem Wasser ragen. Dort würde man mich dann finden, und ich wäre genauso tot wie der Vogel, nach dem Mirko mich benannt hat.
Er ist nicht nur tot, sagt er. Er ist ausgestorben. Ich bin nicht ganz sicher, wie lange man tot sein muss, bis man ausgestorben ist, aber wenn ich nun erst nach einer Woche gefunden würde?
Dronte heißt er. Mirko nennt mich jetzt Dodo. Das ist nur ein anderer Name für den gleichen Vogel, sagt er, und er ist leichter zu sagen, wenn man mich ruft. Das macht er dauernd. Ich selbst bin überhaupt nicht leicht, im Gegenteil, ich bin von Natur aus eher schwer. Ein bisschen schwierig, sagt Mirko.
Und manchmal verdammt beschwerlich.
Zum Glück hat er schon lange aufgehört, mich Leon zu nennen! So hieß ich, als ich klein war. Wenn es dunkel ist und ich noch nicht ganz eingeschlafen bin, kann ich manchmal meine Mutter rufen hören: Leon, nein, das darfst du nicht! Nein, Leon, nein! So was hat sie gesagt. Das mochte ich nicht.
Sie hat auch manchmal geschrien.
Das ist jetzt lange her, und ich kann mich kaum daran erinnern. Ich weiß auch gar nicht richtig, ob ich das will.
Wann Mirko wohl auftaucht? Er hat mir versprochen zu kommen. Und ich hab ihm versprochen, mich hinter diesem Gebüsch zu verstecken, wo man mich nur von der Flussseite aus sehen kann – zum Beispiel, wenn man eine Krähe ist, die da hinten auf einem Ast sitzt und alles im Auge behält. Ich wünschte, du würdest näher rankommen, sodass ich dich besser sehen kann. Du bist zwischen all den Schatten fast versteckt.
Ich tu dir nichts.
Stell dir vor, wenn Mirko findet, dass ich nach der Sache mit dem Mädchen so beschwerlich geworden bin, dass er gar nicht kommt. Ich glaube, dann müsste ich mich ertränken. Aber erst mal warte ich einfach. Ich sitze gern da und schaue auf den Fluss hinaus, wenn er in der Sonne glitzert, so wie jetzt. Das ist so eine schöne Zeit am Tag, auch wenn es verdammt heiß ist.
Ich glaube, ich zieh mir mein Hemd erst mal nicht wieder an. Ich hab es einfach nicht geschafft reinzuschlüpfen, als ich weggerannt bin. Das musste alles so schnell gehen.
Du, wenn man sich wirklich ertränken will, ist es sicher ein Vorteil, nicht schwimmen zu können. Ich kann es nicht, also hab ich da wohl Glück. Mirko hat allerdings mal versucht, es mir beizubringen, als wir ganz bis zur Küste gereist waren, um Tintenfische zu putzen.
»Du musst dich nur richtig bewegen«, hat er immer wieder gesagt, und mir dabei gezeigt, wie ich mit den Beinen strampeln und gleichzeitig die Arme bewegen sollte. »Komm schon, Dodo, es ist ganz einfach. Wenn die Tintenfische das können, kannst du es auch.«
Die haben ja verdammt noch mal nur Arme, an die sie denken müssen!
Da konnte ich echt darauf verzichten, also bin ich einfach im knietiefen Wasser stehen geblieben und hab Mirko angestarrt, bis er schließlich aufgab.
Mann, du hättest wirklich diese Tänzerin sehen sollen, die wir uns letztens in einem der Orte angeschaut haben. Der Wahnsinn, wie die alles auf einmal bewegen konnte! Mirko hat erzählt, sie konnte noch viel mehr als das! Das hat er jedenfalls gesagt, nachdem er mit ihr oben in einem Zimmer im ersten Stock war. Um zu reden.
Während sie das gemacht haben, bin ich in der Gasse hinter dem Haus herumgelaufen und hab nach Mäusen gesucht. Ja, wie gesagt mag ich Mäuse sehr gern, warme Mäuse mit weichem Fell. Die müssen da oben lange geredet haben, denn ich hab es in der Zeit geschafft, tatsächlich drei Mäuse zu fangen. Zwei sind sofort gestorben, also hab ich sie wieder weggeschmissen, aber die dritte hab ich in der Hosentasche mitgenommen. Es war eine hübsche Maus, das konnte ich fühlen, wenn ich sie in der Tasche gestreichelt hab. Dann ist sie auch gestorben.
Ich hab sie weggeworfen, bevor Mirko was gemerkt hat. Er mochte Fell nie ganz so gern wie ich, aber er mochte es wirklich gern, mit dieser Tänzerin zu reden. Hinterher hab ich aus ihm rausgekriegt, dass sie da oben hinter den Vorhängen über Vögel und Bienen und Blumen geredet haben. Was glaubst du, wie ich mich da geärgert hab, dass ich nicht dabei war!
Bienen haben auch eine Art Fell, hast du daran schon mal gedacht? Ich hab einmal versucht, eine zu streicheln, die auf einer Sonnenblume saß. Da hat sie mich gestochen, und dann ist sie gestorben. Ganz von allein. Bum! Mitten auf der Sonnenblume. Es war nicht meine Schuld.
Ich möchte mal wissen, wie es ist zu sterben.
Ich würde nicht gern in der Dunkelheit in einer Hosentasche sterben. Oder im Heu, in einer Scheune liegend und schreiend. Und eigentlich auch nicht in der Hitze auf einer Landstraße. Aber vielleicht ist es nicht so schlimm, auf einer großen gelben Sonnenblume zu sterben. Oder in einem Fluss, der in der Nachmittagssonne glitzert.
Oh, das erinnert mich daran, dass ich ein Geschenk für dich habe! Ich hab es hier in der Hosentasche … Schau, es ist ein Herz! Von dem jungen Mädchen. Sie hatte es an einer Kette um den Hals, aber die Kette ist kaputtgegangen, als ich sie angefasst hab. So ähnlich wie der Hals. Schau mal, wie es...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2022 |
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Übersetzer | Julia Gschwilm |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | BÆST |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2022 • Dänemark • Dorf • eBooks • Freundschaft • John Steinbeck • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mary Shelley • Neuerscheinung • Provinz |
ISBN-10 | 3-641-26401-4 / 3641264014 |
ISBN-13 | 978-3-641-26401-7 / 9783641264017 |
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