Bei Einbruch der Nacht (eBook)
416 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-28950-8 (ISBN)
Im Nationalpark Mercantour in den französischen Seealpen ist die Natur wild und ungezähmt, genau wie die Wölfe, die hier in Freiheit leben. Das gefällt nicht allen. Als nachts immer mehr Schafe gerissen werden, rebellieren die Landwirte - und bald kursiert ein gruseliges Gerücht. Sind die Schafe nicht einem Raubtier, sondern dem sagenumwobenen Wolfsmenschen zum Opfer gefallen? Dann findet man die Bäuerin Suzanne grausam ermordet im Schafgehege und Aberglaube wird zu Panik. Zusammen mit Suzannes Sohn sucht die Dorfbewohnerin Camille auf eigene Faust nach dem Schuldigen. Doch der scheint immer einen Schritt voraus und so entschließt sich Camille schweren Herzens, einen Mann aus ihrer Vergangenheit um Hilfe zu bitten: Kommissar Adamsberg, den verschrobenen und doch genialen Ermittler, der seine ganz eigenen Theorien zum Monster von Mercantour hat ...
»Fred Vargas' Krimis sind etwas Besonderes - eigenwillig, mit geradezu genialem Plot und viel französischem Esprit!« Bestsellerautorin Sophie Bonnet
»Lässig, klug, anarchisch und manchmal ziemlich abgedreht - die Krimis von Fred Vargas sind sehr französisch und zum Niederknien gut.« Bestsellerautor Cay Rademacher
»Fred Vargas erschafft nicht nur Figuren, sondern echte Charaktere. Sie kennt die Abgründe, die Sehnsüchte und die Geheimnisse der Menschen - und Commissaire Adamsberg ist für mich einer der spannendsten Ermittler in der zeitgenössischen Literatur.« Bestsellerautor Alexander Oetker
Wenn Ihnen die Krimis um Kommissar Adamsberg gefallen, lesen Sie auch die Evangelisten-Reihe unserer internationalen Bestseller-Autorin Fred Vargas!
Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für »Fliehe weit und schnell« den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk und 2016 den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International für »Das barmherzige Fallbeil«.
3
Lawrence Donald Johnstone stieg erst Freitag gegen elf Uhr abends wieder ins Dorf hinunter.
Zwischen eins und vier machten die Männer des Mercantour-Nationalparks im Schatten von Baracken aus Trockenmauerwerk, die man hier und da an den Hängen fand, eine lange Pause, während der sie lasen oder dösten. Lawrence hatte sich unweit des neuen Reviers von Marcus einen leerstehenden Schafstall angeeignet, dessen Boden er von uraltem und eigentlich geruchlosem Mist befreit hatte. Es ging ums Prinzip. Der große Kanadier, der es eher gewohnt war, seinen nackten Oberkörper mit Schneeklumpen zu waschen als sich, klebrig von altem Schweiß, in Schafsscheiße zu wälzen, fand die Franzosen schmuddelig. Paris, das er rasch wieder verlassen hatte, hatte ihm schwere Schwaden von Pisse und Schweiß entgegengehaucht, üble Gerüche von Knoblauch und Wein. Aber in Paris war er Camille begegnet, und so war Paris entschuldigt. Auch dieser überhitzte Mercantour und das Dorf Saint-Victor-du-Mont waren entschuldigt, wo er sich vorläufig mit ihr niedergelassen hatte. Aber trotzdem waren sie schmuddelig, vor allem die Männer. Er konnte sich nicht an schwarze Fingernägel, klebriges Haar oder unförmige, vor Schmutz grau gewordene Unterhemden gewöhnen.
In seinem gesäuberten alten Schafstall legte sich Lawrence jeden Nachmittag auf ein großes Leintuch, das er auf dem gestampften Boden ausbreitete. Er ordnete seine Notizen, sah die Aufnahmen vom Vormittag durch, bereitete die Beobachtungen des Abends vor. In den letzten Wochen jagte ein alter, völlig erschöpfter Wolf, ein etwa fünfzehn Jahre alter Einzelgänger, der ehrwürdige Augustus, am Mont Mounier. Er kam nur frühmorgens hervor, wenn es noch kühl war, und Lawrence wollte ihn nicht verpassen. Denn der greise Vater versuchte eher zu überleben als zu jagen. Seine schwindenden Kräfte ließen ihn selbst die einfachste Beute verlieren. Lawrence fragte sich, wie lange der Alte wohl noch durchhielt und wie das enden würde. Und wie lange er, Lawrence, noch durchhielt, bis er für den alten Augustus etwas Fleisch wildern und damit die Gesetze des Naturparks brechen würde, die vorschrieben, dass die Tiere sich allein durchschlagen oder krepieren sollten wie zu Anbeginn der Welt. Wenn Lawrence dem Alten einen Hasen brächte, würde das den Planeten doch wohl nicht aus dem Gleichgewicht bringen, oder? Wie dem auch sei, wenn schon, dann müsste er es tun, ohne den französischen Kollegen auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Die Kollegen waren der festen Ansicht, dass Hilfe die Tiere verweichlichen und die Gesetze der Natur zerrütten würde. Sicher, aber Augustus war schon verweichlicht, und die Gesetze der Natur waren schon zerrüttet. Was würde das also ändern?
Nachdem er Brot, Wasser und Wurst verschlungen hatte, streckte sich Lawrence auf dem Boden im Kühlen aus, die Hände im Nacken verschränkt, und dachte an Camille, dachte an ihren Körper und an ihr Lächeln. Camille war sauber, Camille duftete, und vor allem verfügte Camille über eine unbegreifliche Anmut, die einem Hände, Bauch und Lippen erzittern ließ. Niemals hätte Lawrence sich vorstellen können, für ein so braunes Mädchen mit glatten schwarzen Haaren, das Kleopatra ähnelte, erzittern zu können. Immerhin, dachte er, Kleopatra ist jetzt zweitausend Jahre tot, aber sie bleibt noch immer der Archetypus jener stolzen braunen Mädchen mit gerader Nase, zartem Hals, reinem Teint. Ja, ganz schön stark, diese alte Kleopatra. Im Grunde wusste er nichts über sie und nicht sehr viel über Camille, außer dass sie keine Königin war und ihr Leben mal mit Musik, mal mit Klempnerarbeiten bestritt.
Dann musste er sich von diesen Bildern lösen, die ihn daran hinderten, sich auszuruhen, und er konzentrierte sich auf den Lärm der Insekten. Diese Viecher schafften ganz schön was weg. Neulich hatte ihm Jean Mercier am Fuß der Berge seine erste Zikade gezeigt. Dick wie ein Fingernagel, viel Lärm um fast nichts. Lawrence mochte die Stille.
Heute Morgen hatte er Jean Mercier gekränkt. Aber im Ernst, es war wirklich Marcus.
Marcus mit der gelben Strähne am Hals. Vielversprechend, dieser Wolf. Kräftig, guter Spürsinn, gefräßig. Lawrence hatte ihn im Verdacht, im vergangenen Herbst eine ordentliche Zahl Lämmer im Kanton von Trévaux gefressen zu haben. Die klare Arbeit eines Räubers, überall im Gras Blut um die zu Dutzenden zerrissenen Felle, eine Tat, die die Leute vom Nationalpark verzweifeln ließ. Die Verluste waren ersetzt worden, aber die Gemüter der Schafzüchter erhitzten sich, sie besorgten sich Schutzhunde, und im letzten Winter wäre es beinahe zur allgemeinen Treibjagd gekommen. Seit Ende Februar, seit die Wintermeute sich zerstreut hatte, hatten sich die Wogen wieder geglättet. Ruhe.
Lawrence stand aufseiten der Wölfe. Er war der Ansicht, dass die Tiere dem armseligen Frankreich Ehre erwiesen hatten, indem sie wagemutig, wie würdevolle Schatten aus der Vergangenheit, die Alpen überquerten. Es kam überhaupt nicht in Frage, sie von kleinen, hitzigen Männern massakrieren zu lassen. Aber wie jeder nomadische Jäger war der Kanadier ein vorsichtiger Mann. Im Dorf redete er nicht von den Wölfen, er blieb stumm und folgte darin dem Prinzip seines Vaters: »Wenn du frei bleiben willst, halt’s Maul.« Seit fünf Tagen war Lawrence nicht wieder nach Saint-Victor-du-Mont hinabgestiegen. Er hatte Camille gesagt, dass er dem ehrwürdigen Augustus bis Donnerstag mit der Infrarotkamera auf seinen hoffnungslosen nächtlichen Jagden folgen würde. Aber am Donnerstag hatten die wiederholten Misserfolge des greisen Wolfs Lawrences Widerstand gebrochen, und er hatte seine Beobachtungsaktion um einen Tag verlängert, um etwas zu fressen für ihn zu finden. Er hatte zwei Wildkaninchen aus ihrem Bau gefangen, ihnen mit einem Schnitt die Kehle durchtrennt und die Kadaver auf einer der Fährten von Augustus ausgelegt. Im Schutz des Gebüschs, eingewickelt in ein Wachstuch, das seinen Menschengeruch verbergen sollte, hatte Lawrence besorgt auf das Auftauchen des mageren Tieres gewartet.
Jetzt durchquerte er, erleichtert pfeifend, das wie ausgestorben daliegende Saint-Victor. Der Alte war erschienen, und der Alte hatte gefressen.
Camille ging ziemlich spät schlafen. Als Lawrence die Tür aufstieß, sah er sie über die Tasten ihres Synthesizers gebeugt, die Kopfhörer über den Ohren, mit gerunzelter Stirn, geöffneten Lippen, während sich ihre Hände, manchmal zögernd, von einer Note zur nächsten bewegten. Nie war Camille so schön, wie wenn sie sich konzentrierte, sei es bei der Arbeit, sei es bei der Liebe. Lawrence legte seinen Rucksack ab, setzte sich an den Tisch und beobachtete sie ein paar Minuten. Abgekapselt unter ihren Kopfhörern, für äußere Geräusche unempfänglich, kritzelte sie auf Notenpapier. Lawrence wusste, dass sie bis November den Soundtrack für einen romantischen Fernseh-Zwölfteiler abliefern musste, ein wahres Desaster, hatte sie gesagt. Und sehr viel Arbeit, wenn er es richtig verstanden hatte. Lawrence verbreitete sich ungern über Details der Arbeit. Man machte die Arbeit und fertig. Das war das Wichtigste.
Er stellte sich hinter sie, betrachtete ihren Nacken unter den kurzen Haaren und küsste sie rasch, Camille nie bei der Arbeit stören, und sei es nach fünftägiger Abwesenheit, er verstand das besser als jeder andere. Sie arbeitete noch zwanzig Minuten, bevor sie ihre Kopfhörer absetzte und zu ihm an den Tisch kam. Lawrence ließ gerade die Bilder von Augustus ablaufen, wie er die Wildkaninchen verschlang, und hielt ihr die Kamera hin.
»Das ist der Alte, der sich den Bauch vollschlägt«, sagte er.
»Siehst du, es geht noch nicht mit ihm zu Ende«, sagte Camille, während sie ihr Auge an das Okular drückte.
»Ich hab ihm das Fleisch besorgt«, antwortete Lawrence und verzog das Gesicht.
Camille legte ihre Hand auf das blonde Haar des Kanadiers, während sie weiter mit einem Auge durch den Sucher sah.
»Lawrence«, sagte sie, »es hat Aufruhr gegeben. Mach dich bereit, sie zu verteidigen.«
Lawrence fragte sie, wie es seine Art war – mit einer einfachen Bewegung des Kinns.
»Dienstag haben sie in Ventebrune vier Schafe mit durchgeschnittener Kehle gefunden und heute Morgen neun weitere zerrissen in Pierrefort.«
»God«, flüsterte Lawrence. »Jesus Christ. Bullshit.«
»Das ist das erste Mal, dass sie sich so weit runter wagen.«
»Werden eben mehr.«
»Ich hab’s von Julien erfahren. Es kam in den Nachrichten, es wird zum landesweiten Thema. Die Schafzüchter haben gesagt, dass sie den Wölfen aus Italien die Gier auf Fleisch schon austreiben würden.«
»God«, wiederholte Lawrence. »Bullshit.«
Er sah auf seine Uhr, schaltete die Kamera aus und machte besorgt einen winzigen Fernseher an, der in einer Ecke auf einer Kiste stand.
»Es kommt noch schlimmer«, fügte Camille hinzu.
Lawrence wandte ihr mit erhobenem Kinn das Gesicht zu.
»Sie sagen, diesmal sei es kein Tier wie die anderen.«
»Kein Tier wie die anderen?«
»Anders. Größer. Eine Naturgewalt, ein riesiger Kiefer. Eben nicht normal. Mit einem Wort: ein Ungeheuer.«
»Ach was.«
»So sagen sie.«
Lawrence schüttelte bestürzt sein blondes Haar.
»Dein Land ist ein verdammt zurückgebliebenes Land alter Arschlöcher«, sagte er nach kurzem Schweigen.
Der Kanadier schaltete von einem Sender zum nächsten, bis er auf eine Nachrichtensendung stieß. Camille setzte sich auf den Boden, schlug ihre Stiefel übereinander und lehnte sich an Lawrences Beine, während sie an den Lippen nagte. Alle Wölfe kämen jetzt...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Kommissar Adamsberg ermittelt | Kommissar Adamsberg ermittelt |
Übersetzer | Tobias Scheffel |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L'homme à l'envers |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Adamsberg • Alexander Oetker • Bannalec • Cay Rademacher • Das barmherzige Fallbeil • Der Zorn der Einsiedlerin • Die Nacht des Zorns • eBooks • Ermittlerkrimi • Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord • Frankreich • frankreich-krimi • Frankreich-Urlaub • Kommissar • Krimi • Krimiklassiker • Kriminalromane • Krimis • Mordserie • Neuerscheinung • Preisträgerin • Provence • Pyrenäen • Regionalkrimi • Sophie Bonnet • Spiegel-Bestsellerautorin |
ISBN-10 | 3-641-28950-5 / 3641289505 |
ISBN-13 | 978-3-641-28950-8 / 9783641289508 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich