Lenka Reinerová - Abschied von meiner Mutter (eBook)

Mit einem Nachwort von Jaroslav Rudiš

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
208 Seiten
btb Verlag
978-3-641-28492-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lenka Reinerová - Abschied von meiner Mutter - Anna Fodorová
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Über die große Dame der deutsch-tschechischen Literatur - Weggefährtin von Anna Seghers, Egon Erwin Kisch und Max Brod.
Sie war die letzte deutschsprachige Autorin Prags, die große Dame der deutsch-tschechischen Literatur, Jüdin, und sie hat sie bis zu ihrem Tod 2008 in Prag alle überlebt: Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Max Brod. Vor den Nazis flüchtet sie über Paris, Marseille und Casablanca bis nach Mexiko-City, nach ihrer Rückkehr wird sie im Zuge der stalinistischen Säuberungen in der Tschechoslowakei inhaftiert - Lenka Reinerová lebte ohne Zweifel eine der bewegendsten Biografien des vergangenen Jahrhunderts.

In ihrem so poetischen wie persönlichen Buch nimmt ihre Tochter Anna Fodorova, die heute als Psychotherapeutin in London lebt, Abschied von der berühmten Mutter. Es ist die Geschichte der letzten Jahre von Lenka Reinerová, es ist eine neue Begegnung mit der großen Dame der deutsch-tschechischen Literatur, und es ist der Blick einer erwachsenen Tochter auf das Leben mit ihrer Mutter - persönlich, poetisch und tief berührend.

Anna Fodorová, 1946 als Tochter der Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová (1916 - 2008) in Belgrad geboren, wuchs in Prag auf. Sie studierte an der Akademie der Künste, Architektur und Design in Prag, seit August 1968 lebt sie in England und machte ihren Filmabschluss am Royal College of Art in London. Sie drehte mehrere Animationsfilme, veröffentlichte ein Kinderbuch und schrieb Drehbücher für die BBC. Heute lebt sie in London und arbeitet als Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt psychoanalytischen Psychotherapie generationenübergreifende Traumata.

Wiedersehen


Es war das letzte Mal, dass sie uns besuchen kam. Das konnte ich damals aber nicht ahnen. Oder genauer gesagt, ich wollte nichts in der Art an mich heranlassen.

Ich wartete auf dem Londoner Flughafen, und als sie auftauchte, winkte sie mir zu wie immer, ganz Lächeln und Freude darüber, dass wir uns wiedersehen. Nur wurde sie diesmal von einem Flughafenangestellten in einem Rollstuhl geschoben. Das war zwar zuvor so vereinbart worden, trotzdem war es ein Schock, sie so zu sehen, und das umso mehr, weil ein Fuß von ihr unausgesetzt über den Boden stuckerte. Das kam mir würdelos vor, wegen dieser Nachlässigkeit rügte ich sofort den Angestellten und stellte ihren Fuß energisch auf die Fußraste, wo er hingehörte. Aber es war wohl einfacher, nach einem Schuldigen zu suchen, als die Angst, die mich ob der plötzlichen Verwandlung ergriff, zuzulassen. Sie war immer klein gewesen, von zierlicher Gestalt, aber seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, hatte sie sehr abgenommen, es war weniger von ihr da als je zuvor.

Sie heißt Lenka Reinerová. Sie war Schriftstellerin, auch wenn sie gern von sich sagte, dass sie Erzählerin sei. Ihr sehr bewegtes Leben war von vielen Widerständen und damit verbundenen Tragödien geprägt, aber auch von Erfolgen und Freuden. Sie kam in einer bürgerlichen jüdischen Familie in Prag zur Welt, besuchte das deutsche Gymnasium und Deutsch wurde zu der Sprache, in der sie schrieb. In der Jugend wurde sie Kommunistin, den Krieg überlebte sie im Exil, während all ihre nächsten Angehörigen in Konzentrationslagern ums Leben kamen. In der Zeit der politischen Prozesse in den Fünfzigerjahren wurde sie von der Kommunistischen Partei ins Gefängnis gesperrt. Ich war damals sechs Jahre alt und hatte anderthalb Jahre lang nichts von ihr gehört. In meinen Erinnerungen ist sie erst seit der Zeit anwesend, als sie aus dem Gefängnis zurück war. Davor ist nur ein leerer Fleck. Sie hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, in denen sie auf unverwechselbare Art von ihrem Leben, von Freunden und Bekannten, von den unterschiedlichsten Menschen erzählt, die sie getroffen und die sie verloren hat. Sie arbeitete als Journalistin, mein Vater war ebenfalls Journalist. Der, eigentlich Arzt, veröffentlichte unter dem Pseudonym Theodor Balk, das er bewusst wählte, weil er seine Herkunft vom Balkan betonen wollte. Folglich wuchs ich mit dem Geklapper von Schreibmaschinen auf, mit Schubladen voller Manuskripte und hauchdünnen Bögen Kohlepapier, welche die Finger schwarz färbten wie Ruß.

In diesem Sommer hatte sie eine lange Chemotherapie zu Ende gebracht. Man konnte gar nicht mehr zählen, der wievielte Krebs, die wievielte Chemotherapie das schon waren. Die erste hatte sie nach eigenem Bekunden mit zweiunddreißig Jahren durchgemacht. Damals hatte man ihr gesagt, dass sie kein weiteres Kind haben solle. Jetzt hatte sie ihren einundneunzigsten Geburtstag gefeiert und ihr behandelnder Arzt in Prag hatte mich zur Seite genommen: »Hören Sie«, flüsterte er, »Ihre Mutter ist ernsthaft krank, und Sie sollten einen Plan haben, wie es weitergeht, wenn sie nicht mehr allein leben kann.« Dann dämpfte er die Stimme noch weiter: »Und da ist noch eine Sache. Ich habe einen Test bei Ihrer Mama gemacht, und es hat sich herausgestellt, dass sie eine genetische Mutation hat, welche die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung stark erhöht. Dadurch stehen – leider – bei Ihnen die Chancen fifty-fifty, dass Sie dieses fehlerhafte Gen geerbt haben.«

Das wusste ich freilich schon seit Längerem. Aber was sollte ich mit dieser Information anfangen? Ich bat ihn nur, Mutter damit nicht unnötig zu belasten. »Verstehe«, entgegnete er. »Sie hat es schon hinter sich. Aber jetzt geht es um Sie. Lassen Sie den Test machen?« Ich zuckte mit den Schultern.

Wenn es etwas gibt, das ich ganz bestimmt nicht von Mutter geerbt habe, dann ist das meine Unentschlossenheit. Und dabei muss es nicht immer um Leben und Tod gehen, schon wenn ich eine Speisekarte studiere, erstarre ich in einer Agonie. Genauso erging es mir mit einem Plan für Mutters Zukunft: Ich hatte keinen. Aber auch er, der Arzt, hatte ihr doch gerade die Reise nach London gestattet! Mutter und ich hatten das viele Male zusammen am Telefon durchgesprochen, ihre (und auch meine) Vorstellung war, dass sie bei uns wieder zu Kräften kommen sollte. Sie würde sich ausruhen, kurze Spaziergänge machen oder im Garten sitzen, und ich würde gutes Essen kochen, das sie wieder auf die Beine brächte.

Sie kam uns regelmäßig besuchen, mindestens zweimal im Jahr, zu Beginn des Sommers und zu Weihnachten. Sie reiste mit einem kleinen Köfferchen, ihr genügten einige wenige Blusen, ein Seidenschal und zwei Paar Hosen. Dafür war ihre Reisetasche immer prall mit Geschenken und vor allem mit Essen gefüllt: mit Schnitzeln, Weihnachtsplätzchen, Würsten, Strudeln …, einfach mit all dem, was wir in England nicht hatten. Dies waren meist die Erzeugnisse anderer Leute, fürs Kochen hat Mutter sich nie groß interessiert. Bei uns zu Hause hatte stets Vater gekocht und wie wir alle, die im Ausland leben, hatte er sich nach den Düften und Aromen der Kindheit zurückgesehnt – so grillte er für uns Ćevapčići, schnitt frische Zwiebeln, bereitete üppige Balkansalate zu, nicht ohne zuvor die Schüssel mit Knoblauch ausgestrichen zu haben, und wenn sich die Gelegenheit ergab, was in einem Land ohne Meer nicht ganz einfach ist, aßen wir Fisch. Und im Sommer natürlich Melonen. Man musste die Frucht zuerst ans Ohr halten, ordentlich zudrücken und sie nur dann kaufen, wenn sie hörbar knackte.

Auf dem Weg vom Flughafen schlängelten wir uns mit dem Auto durch die Londoner Straßen, voller Lärm, Fußgänger und roter Doppelstockbusse. Alles hier erkannte sie wieder, alles hier hatte sie sich in den vergangenen Jahren zu Fuß erschlossen. Jetzt kommentierte sie die letzten Veränderungen: Hier sei ein neuer Wolkenkratzer emporgewachsen, dort das Geschäft verschwunden, in dem sie mir vor langer Zeit einen Minirock und dann wieder einen Maxirock gekauft hatte, was eben gerade in Mode war, hier müsse man jetzt anders entlangfahren, und das preiswerte chinesische Restaurant, wo wir immer die Wan-Tan-Suppe gegessen haben, sei nun ebenfalls nicht mehr da … Ach London! London war auch zu ihrer Stadt geworden, war ihre Enkelin doch hier zur Welt gekommen.

Und dann überquerten wir den breiten braunen Strom der Themse mit all den Touristenbooten, Dampfern und Schonern, die meine Mutter an weite Reisen erinnerten. Das breite Flussbett und die aufgepeitschte Wasserflut riefen ihr die sprudelnden Gezeiten des Meeres und die salzige Luft ins Gedächtnis. Am Südufer befand sich ihre Lieblingscafeteria mit modernen bunten Tischen, zu der sie von uns aus immer mit dem Bus gefahren war. Wiederholt hatten wir sie darauf hingewiesen, dass es mit dem Zug und der U-Bahn schneller ginge, weil sich der Bus durch endlose und nicht besonders einladende Viertel quälen muss. Aber sie hatte es nicht eilig und gerade diese Viertel gefielen ihr. Das Ufer säumten immer Bücherstände und es war voller Obdachloser, die interessierten sie auch.

Im Lauf der Jahre hatten wir zusammen ein kleines Ritual entwickelt, das inzwischen ein fester Bestandteil ihrer Besuche bei uns, ihrem zweiten Zuhause, geworden war: Auf dem Weg vom Flughafen machten wir in einem Selbstbedienungsladen in der Nähe Halt, damit sie sich etwas aussuchen konnte. Sie war jedes Mal sehr bescheiden, außer Orangenmarmelade, Oliven und Avocados hatte sie keine besonderen Wünsche. Und sie war immer aufs Neue schockiert – zumindest tat sie so –, wenn ich nach dem Studium des Etiketts auf der Packung erklärte, dass wir diese Marmelade nicht kaufen würden, weil sie Preservatives (Konservierungsstoffe) enthält. Sie ermahnte mich jedes Mal: »Sei so gut und sag das in Prag niemals laut.«

Heute aber ist es anders. An Essen mag sie nicht einmal denken. Sie will direkt nach Hause, ist zu erschöpft von der Reise, und Essen verursacht bei ihr nur Appetitlosigkeit. Und trotzdem oder gerade deshalb, ist sie mit der Vorstellung zu uns gekommen, dass wir sie hier aufpäppeln würden.

Ich mache mich ans Kochen, ich rühre, mahle, brate. Ich backe ein leichtes Biskuit mit ganz viel Butter. Sie liebt Desserts, aber dieses betrachtet sie misstrauisch und legt nach dem ersten Bissen die Gabel zur Seite. Ich biete ihr Hühnersuppe mit Fadennudeln an, die mochte sie immer sehr gern; locker aufgeschlagenen Kartoffelbrei, in den ich Sahne hineinschmuggele; fein geschnittenes mageres Rindfleisch. Alles vergeblich.

»Wenn ich jetzt in Prag wäre«, höre ich sie seufzen, »würde ich Knödel mit Soße essen.« Ich studiere das tschechische Kochbuch, fabriziere etwas, das Knödeln ähnelt, überschwemme es mit Tomatensoße und stelle es vor sie hin. »Verzeih, aber ich kann nicht mehr«, entschuldigt sie sich nach ein paar Bissen.

Am nächsten Tag versuche ich etwas anderes. »Eine Portion wie für ein Baby!«, rufe ich sie an den gedeckten Tisch im Garten. Anfangs hatte sie uns geholfen, den Garten zu bepflanzen und noch im letzten Sommer hatte sie täglich mit Sorgfalt das Gedeihen jeder Pflanze verfolgt, auch wenn ihre Spezialität immer Zimmerpflanzen gewesen sind. Sie ist in einer Wohnung im Prager Stadtviertel Karlín aufgewachsen, und die Vorstellung, dass ihre Tochter jetzt nicht nur ein Haus, sondern auch ein Stück Land in London besitzt, das Bewusstsein, dass wir hier etwas pflanzen, das Wurzeln treibt, verblüffte sie immer aufs Neue.

Sie setzt sich auf den neuen, mit Kissen gepolsterten Klappstuhl, isst ein klein wenig und sonnt sich eine Zeitlang. Über den Stuhl ärgert sie...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Nachwort Jaroslav Rudiš
Übersetzer Christina Frankenberg
Sprache deutsch
Original-Titel Lenka
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2022 • 20. Jahrhundert • Biografie • Biographien • eBooks • Intellektuelle • Klassiker • Literatur • Neuerscheinung • Prag
ISBN-10 3-641-28492-9 / 3641284929
ISBN-13 978-3-641-28492-3 / 9783641284923
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