Zukunftsmusik (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491449-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zukunftsmusik -  Katerina Poladjan
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Der neue Roman von Katerina Poladjan über vier Generationen von Frauen, eine Kommunalka und das Ende einer Epoche. In der sibirischen Weite, tausende Werst östlich von Moskau, leben in einer Kommunalka auf engstem Raum Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin unter dem bröckelnden Putz einer vergangenen Zeit. Es ist der 11. März 1985, Beginn einer Zeitenwende, von der noch niemand etwas ahnt. Alle gehen ihrem Alltag nach. Der Ingenieur von nebenan versucht, sein Leben in Kästchen zu sortieren, Warwara hilft einem Kind auf die Welt, Maria träumt von der Liebe, Janka will am Abend in der Küche singen.  »Zukunftsmusik« ist ein großer Roman über vier Leben am Wendepunkt, über eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt, über die Absurdität des Daseins und die große Frage des Hier und Jetzt: Was tun?

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für »Hier sind Löwen« erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Mit »Zukunftsmusik« stand Katerina Poladjan auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis 2022 ausgezeichnet. Literaturpreise: - Trophée Littéraire des Nouvelles d'Arménie 2023 (für die französischsprachige Ausgabe von »Hier sind Löwen«) - Rheingau Literatur Preis 2022 - Chamisso-Preis Dresden 2022 - Nelly-Sachs-Preis 2021 - Alfred-Döblin-Stipendium 2019 - Stipendium Deutscher Literaturfonds 2016/2017 - Residenzstipendium Kulturakademie Tarabya Istanbul 2016 - Stipendium der Stiftung Preussische Seehandlung 2016 - Shortlist für den European Union Prize for Literature 2016 - Nominierung für den Alfred-Döblin-Preis 2015 - Literaturpreis »Der kleine Hai« der Buchhandlung Wist, Potsdam 2015 - Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 - Senatsstipendium der Stadt Berlin 2015 - Alfred-Döblin-Stipendium 2014 - Grenzgänger Stipendium der Robert Bosch Stiftung 2014 - Stipendium der Neuen Gesellschaft für Literatur 2003

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für »Hier sind Löwen« erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Mit »Zukunftsmusik« stand Katerina Poladjan auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 und wurde mit dem Rheingau Literatur Preis 2022 ausgezeichnet. Literaturpreise: - Trophée Littéraire des Nouvelles d'Arménie 2023 (für die französischsprachige Ausgabe von »Hier sind Löwen«) - Rheingau Literatur Preis 2022 - Chamisso-Preis Dresden 2022 - Nelly-Sachs-Preis 2021 - Alfred-Döblin-Stipendium 2019 - Stipendium Deutscher Literaturfonds 2016/2017 - Residenzstipendium Kulturakademie Tarabya Istanbul 2016 - Stipendium der Stiftung Preussische Seehandlung 2016 - Shortlist für den European Union Prize for Literature 2016 - Nominierung für den Alfred-Döblin-Preis 2015 - Literaturpreis »Der kleine Hai« der Buchhandlung Wist, Potsdam 2015 - Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 - Senatsstipendium der Stadt Berlin 2015 - Alfred-Döblin-Stipendium 2014 - Grenzgänger Stipendium der Robert Bosch Stiftung 2014 - Stipendium der Neuen Gesellschaft für Literatur 2003

Als Generationenroman nach fast klassischer russischer Prägung, reich an Ironie, Absurdem, dennoch subtil und feinsinnig, erweist sich dieses immens vielschichtige Buch.

Ein Schlüsselwerk, ein Pflichtbuch.

Zwischen den geschickt arrangierten Kulissen und Bildvorräten einer großen russischen Vergangenheit leben die Menschen in ›Zukunftsmusik‹ ihr Leben und träumen allesamt von einem anderen.

Beeindruckend authentisch.

Poladjans kurzer Roman ist voller novellistischer Beobachtungen. Aus dem lebensgrossen Glück oder Unglück der Menschen wird allerdings etwas Grösseres: ein psychologischer Augenblick der Zeit.

[...] eine Erzählung von zeitloser Relevanz.

Mit feiner Lakonie erzählt [Katerina Poladjan] von der Sehnsucht nach Liebe, von Geburt, Erinnerung und sozialem Miteinander.

Wo die großen Russen Wälzer schrieben, um ein Sittengemälde zu entwerfen, braucht Poladjan nur wenige wirkungsvolle Worte. ›Zukunftsmusik‹ ist ein großes Buch im Kleinen.

Katerina Poladjan macht durch ihren verknappten Stil und durch einige magische Elemente, [...] das Transitorische des Moments und die Zerrissenheit ihrer Figuren spürbar.

Vier weibliche Mitglieder einer Familie, eine Kommunalka und viel Witz – daraus entwirft Katerina Poladjan ein Sittengemälde der späten Sowjetunion.

[...] es geht darum, was Zukunft heißt [...], ob man das Leben, so wie es ist, akzeptiert oder doch nur in Träumen eine Zuflucht findet.

Das Schöne ist, dass dieses Buch jenseits jedweder Aktualität eine Klasse für sich ist.

[Der Roman] zeigt sehr eindringlich, wie sehr diese Menschen einen Aufbruch [...] nötig gehabt hätten. Und zugleich [...], dass dieser gesellschaftliche Aufbruch tatsächlich nie stattgefunden hat.

Katerina Poladjans Roman [...] erzählt in seinem Kern von der Liebe, von der Hoffnung auf und der Sehnsucht nach einem besseren Leben.

Poladjans Beobachtungen sind präzise, mit viel Gefühl fürs Detail und Sinn für Humor, der aus der Situation entsteht.

Leicht und stimmungsvoll erzählt scheint dieser Roman. Wie viel er mit sich trägt, merkt man an den Schwingungen, die bleiben.

Einer der interessantesten Romane dieses Frühjahrs.

[...] aus dem Miteinander ihrer fein gezeichneten Figuren, hat Katerina Poladjan einen der schönsten Romane dieses Frühjahr gemacht.

[ein] leichthändiges Capriccio, funkelnd zwischen Ernsthaftigkeit und skurrilen Kapriolen, das sich seine Erzählweisen und Tonlagen mit verspieltem Übermut aus der ganzen russischen Literatur zusammenborgt […]

Der Roman ›Zukunftsmusik‹ ist ein Hoffnungs- und ein Trostbuch. Eine literarische Verteidigung der Menschlichkeit unter den besonderen Bedingungen der Macht.

Katerina Poladjans Roman [...] entfaltet ein schönes Spiel mit der Kunst, nicht nur, aber eben auch mit der russischen Literatur [...]

Man könnte noch sagen, dass [Katerina Poladjan mit ›Zukunftsmusik‹] ein ›Buch der Stunde‹ geschrieben hat, das man jetzt lesen muss, im Angesicht russischer Großmachtfantasien.

Die Zukunftsmusik, die dem Roman den Titel gibt, klingt nach wie eine Melodie, die erst bei mehrmaligem Hören ankommt - und bleibt.

Hochdosiert, aber leichthändig ist Katerina Poladjans Roman ›Zukunftsmusik‹ ausgerechnet einer Zeit des Umbruchs in der Sowjetunion gewidmet, so dass er auch aktuell brennend interessiert.

Wie oft kommt es vor, dass man sich wünscht, ein Buch wäre länger? Selten. ›Zukunftsmusik‹ von Katerina Poladjan ist so ein Fall.

Eine Kommunalka als Gleichnis für das Leben in der Sowjetunion: Wie Poladjan dessen Widersprüchlichkeit [...] vor Augen führt, ist ein Kunststück.

›Zukunftsmusik‹ klingt nach einem Werk, das noch seine Zwischentöne trefflich zu setzen weiß.

Man kann es lesen als eine Allegorie auf einen historischen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion. Vor allem aber ist [Poladjans] Roman ein Psychogramm [...]

Katerina Poladjan hat mit ›Zukunftsmusik‹ einen der ganz großen deutschen Gegenwartsromane geschrieben, den man jetzt in Zeiten des Krieges anders liest als noch in der Zeit des Friedens.

Der Roman fängt [...] einen historischen Moment zwischen gesellschaftlicher Resignation und einem Aufbruch ein, von dem die Protagonisten noch nichts wissen können.

Unbedingt lesen!

Wie ein historischer Seismograf erspürt Katerina Poladjans Roman ›Zukunftsmusik‹ die Situation der untergehenden Sowjetunion [...] anhand der Lebensgeschichte von vier Frauengenerationen in der Provinz.

[Katerina Poladjan] gelingt ein kleines, schimmerndes Alphabet der Gefühle in der späten Sowjetunion.

2


Ein Poltern und Scharren im Korridor riss Matwej Alexandrowitsch aus dem Schlaf. Er fingerte nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, und Gagarin rutschte von seiner Brust. Es war noch nicht einmal halb sechs, und Matwej hoffte, Janka würde nicht sofort ihr Kind wecken, wie sie es gewöhnlich nach der Nachtschicht tat, das Kind würde plärren und seine morgendlichen Rituale empfindlich stören. Er lauschte und kraulte Gagarin hinter den Ohren. Im vergangenen Jahr war das Fell des alten Katers stumpf geworden, und Matwej hatte schon befürchtet, Gagarin würde sterben, aber der dachte nicht daran.

Matwej Alexandrowitsch stand auf und schaltete das Radio ein. Sie spielten den dritten Satz aus Chopins zweiter Klaviersonate, den Trauermarsch. Er drehte den Ton leiser, stellte sich in Unterwäsche neben dem Bett auf, stemmte sich auf die Zehenspitzen, was den Beginn seiner täglichen gymnastischen Übungen markierte, da krähte die kleine Kroschka los. Matwej ließ sich auf die Fersen sinken und lauschte. Das Kind verstummte. Damit bestand noch die Möglichkeit, dass nicht alle erwacht waren und binnen kurzem in der Gemeinschaftsküche erscheinen würden. Matwej Alexandrowitsch schlüpfte in Hausmantel und Pantoffeln, durchmaß mit zwei Schritten sein Zimmer und schlich hinüber. Im Korridor hielt er kurz inne, aus dem Zimmer des Professors kamen Laute, als huste jemand in den Schallbecher einer Tuba.

 

Auf dem Herd der Karisen stand ein großer Topf mit Reis und Fleischstücken. Ohne das Licht anzuschalten, nahm er einen Löffel und aß direkt aus dem Topf. Das Fleisch schmeckte zart nach Huhn. Oder war es Schlange? Woher bekamen die Karisen Schlange zum Kochen? Im Erholungspark der Stadt gab es selbst im Sommer nur armselige Blindschleichen. Er aß noch ein paar Löffel, wischte sich den Mund an einem fadenscheinigen Handtuch ab und sah sich in der Küche um, die im matten Schein einer Straßenlaterne ihre ferne aristokratische Herkunft erahnen ließ.

Sechs Mietparteien lebten unter dem bröckelnden Stuck der Gründerzeit, und man ging sich aus dem Weg – soweit es die Umstände erlaubten. Den Bewohnern der Zimmer am Ende des Korridors begegnete Matwej selten, zum Beispiel den Karisen oder dem alten Professor, der ein so unauffälliges Leben führte, dass Matwej seinen Namen immer wieder vergaß. Im mittleren Teil des Korridors wirkte die Liebermann, daneben – im größten Zimmer von allen – wohnten die Kosolapijs. Mit den Damen im vorderen Teil der Wohnung hatte Matwej mehr Austausch, ihr Zimmer lag dem seinen gegenüber.

Matwej Alexandrowitsch legte den Löffel in einen Zuber mit schmutzigem Besteck und Geschirr. Die mangelnde Sauberkeit war ein immerwährendes und ermüdendes Thema in der Kommunalka, aber am Ende räumten die Karisen auf. Wann sie das taten, wusste niemand, noch nie hatte sie jemand dabei beobachtet, nur manchmal, mitten in der Nacht, meinte Matwej Alexandrowitsch, er höre die Karisen mit Kehrschaufel, Mopp und Besen hantieren.

Nebenan ließ Janka das Badewasser rauschen, was seine Rasur auf unbestimmte Zeit verschob.

Ein elektrischer Blitz an der Oberleitung des vorüberfahrenden Siebzehner Busses erhellte das Gesicht Michail Potapitsch Toptigins, der als Spardose auf dem großen Regal thronte. Die Bewohner der Kommunalka waren aufgerufen, dem Bären wöchentlich einige Münzen für gemeinschaftliche Anschaffungen von Kernseife oder Toilettenpapier zwischen die Augen zu stecken. Michail Potapitsch Toptigin hatte stets einen leeren Bauch, aber wiederum wie von Zauberhand wurden die Vorräte ergänzt, wenn es nötig war. Da sollte noch mal jemand über ihr System schimpfen.

Matwej Alexandrowitsch schaute hinaus. Nur ein einziges Fenster in der Straße war erleuchtet, die Menschen schliefen wie Schafe. Im Schein einer brennenden Zimmerlampe jedoch lagen vielleicht zwei im Liebesspiel vereint auf dem Sofa, strotzend vor Gesundheit knufften und küssten sie sich bis zum Sonnenaufgang. Matwej Alexandrowitsch seufzte und erschrak, weil sein Seufzen in der Küche so unheimlich widerhallte. Er seufzte noch einmal, diesmal leiser. Er brummte ein wenig, knurrte, summte, summte lauter, dann sang er:

Unsterbliche Opfer,

ihr sanket dahin,

wir stehen und weinen,

voll Schmerz, Herz und Sinn.

Ihr kämpftet und starbet

für kommendes Recht,

wir aber, wir trauern,

der Zukunft Geschlecht.

Wo sollen sich denn in unserer Küche die unsterblichen Opfer versteckt haben, verehrter Matwej Alexandrowitsch?

Er fuhr herum. Vor ihm stand Maria Nikolajewna im zartrosa Morgenrock, und ob es einfach eine Übersprungshandlung war oder ob es die blonden Locken waren, die Maria Nikolajewna auf die Schultern fielen, blonde Locken, die bei Tage stets zu einem strengen Knoten gesteckt waren, oder ob es der Kragen ihres Nachthemdes war, der unter dem Revers des Morgenrockes hervorschaute, wusste er später nicht mehr, jedenfalls ließ er sich dazu hinreißen, Maria Nikolajewna an den Schultern zu packen und ihr die nächste Strophe des Liedes ins Gesicht zu schmettern, als gäbe es kein Morgen.

Einst aber,

wenn Freiheit den Menschen erstand

und all euer Sehnen Erfüllung fand:

Dann werden wir künden,

wie ihr einst gelebt,

zum Höchsten der Menschheit

empor nur gestrebt!

Matwej, beruhigen Sie sich. Ich mache uns einen Tee. Es gibt auch Schokoladenkonfekt, eigens verwahrt für den Geburtstag meiner Mutter, aber Sie scheinen es gerade nötiger zu haben.

Hätte ich gewusst, dass ein patriotisches Lied mich in den Genuss Ihrer Anwesenheit und in den von Schokoladenkonfekt bringt, hätte ich diese Maßnahme längst ergriffen.

Maria Nikolajewna schaltete das Licht ein und machte sich an ihrem Herd zu schaffen. Matwej Alexandrowitsch betrachtete ihre Fesseln, von denen ein schmaler weißer Streifen zwischen dem Saum ihres Morgenrockes und den kunstfellbesetzten Stulpen ihrer Pantoffeln zu sehen war. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. Kein Gestirn, keine Sonne hatte das Recht, so weit in die Umlaufbahn der anderen einzudringen, dass es zu den unabsehbaren Folgen kam, die sich nun in der schrecklichen Unordnung seiner Gedanken ausdrückten.

Wissen Sie, Maria Nikolajewna, jeder Mensch lebt in seiner eigenen, abgeschlossenen Welt, das ist ein höheres Gesetz und erscheint mir somit recht und billig. Aber Ihre Tochter Janka lebt in einem besonders fremden und weit entfernten Kosmos, und darf sie deshalb, wenn sie frühmorgens von der Nachtschicht kommt, so egoistisch sein, dass sie sofort ihr Kind weckt, das dann mit seinem Geplapper und Geplärr die ganze Kommunalka aus dem Schlaf reißt?

Ein Scheißleben haben wir, sagte Maria Nikolajewna. Sie reichte Matwej eine Tasse Tee, setzte sich zu ihm an den Tisch und beugte sich über die Schachtel mit dem Konfekt. Im selben Augenblick stellte sie offenbar fest, dass dieser Satz, den sie oft und gern sagte, gerade gar nicht passte. Wohl daher fügte sie schnell hinzu: Und nicht mehr lange, dann wird es auch wieder Frühling, und die Birken bekommen kleine grüne Blättchen.

Was die Bäume betrifft, so sage ich Ihnen, dass, wenn Sie von der Beschaffenheit der Rinde einer Eberesche, einer Erle oder eben von der Farbe des Blattes einer Birke sprechen, ich mich von Ihnen angesprochen fühle, als gälte Ihre Ansprache nicht den Bäumen, sondern mir. Ich fühle mich geschmeichelt von der Zärtlichkeit Ihrer Worte über die Bäume, die so stumm und erhaben ihr Dasein fristen. Ich sage Ihnen noch etwas, aber bitte lachen Sie mich nicht aus: Mein junges Ich konnte sich vor dreißig Jahren nicht vorstellen, dass es einst beim Gedanken an eben diese Bäume in Schwermut versinken würde.

Maria Nikolajewna gähnte laut und breit und schön, erhob sich, nahm den Wasserkessel vom Herd, schob die Wäsche, die an mehreren, durch die gesamte Küche gespannten Leinen hing, beiseite und fragte schließlich gedankenverloren: Bäume, sagten Sie? Sie lesen zu viel Turgenjew.

Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet.

Aber ja doch, Bäume, sagte Matwej Alexandrowitsch, der sich plötzlich auch sehr müde fühlte, wenn Sie es wünschen, führe ich Sie nächsten Sonntag zu einem Spaziergang in den Erholungspark aus und zeige sie Ihnen.

Nicht doch, Matwej, das müssen Sie nicht, denn wer weiß, ob die Bäume dieser Tage nicht auch trauern und ein ganz klägliches Bild abgeben.

Was meinen Sie, verehrte Maria Nikolajewna?

Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist. Übrigens, haben Sie die Zeit?

Die Zeit?

Wie spät ist es?

Gleich halb sieben. Ich glaube nicht, dass die Bäume trauern, außer die Weiden natürlich. Ulmen und Birken sind grundsätzlich von fröhlichem, von leichtem Gemüt. Eichen sind manchmal etwas ernsthaft, aber Trauer? Um Stalin haben wir getrauert, um Breschnew haben wir getrauert – und heute?

Maria Nikolajewna sah Matwej Alexandrowitsch lange an und sagte nichts. Dann warf sie vier Stückchen Zucker in eine weitere Teetasse und rührte sorgfältig um.

Dein Tee, Mutter.

Warwara Michailowna trat auf, nahm die Tasse, sah ihre Tochter an und sagte, ich werde bald sterben.

Guten Morgen, verehrte Warwara Michailowna, sagte Matwej Alexandrowitsch.

Warwara Michailowna grunzte zur Antwort und wandte sich wieder ihrer Tochter zu. Wo ist Janka?

Sie badet.

Natürlich. Was sonst. Entweder sie badet oder sie...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger Jahre • Anspruchsvolle Literatur • Ein Buch von S. Fischer • Epoche • Frauenleben • Hier sind Löwen • Humor • Kommunalka • Kunst • lockdown • Russische Literatur • Shortlist Preis der Leipziger Buchmesse 2022 • Sowjetunion • Theater • vier Generationen • Wohngemeinschaft • Zukunft
ISBN-10 3-10-491449-4 / 3104914494
ISBN-13 978-3-10-491449-7 / 9783104914497
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