Frühlingsgeschichten für glückliche Stunden (eBook)

Norma Schneider (Herausgeber)

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2022 | 1. Auflage
224 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491554-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frühlingsgeschichten für glückliche Stunden -
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Das perfekte Geschenkbuch für die schönste Zeit des Jahres - mit Texten von Judith Hermann, Felicitas Hoppe, Christoph Ransmayr und vielen anderen. Endlich Frühling! »Es ist Zeit sich zu freuen / an atmenden Farben / zu trauen dem blühenden Wunder«, schreibt Rose Ausländer über den Frühling. Und so ist es ja auch, jedes Jahr aufs Neue: Die Welt wird endlich wieder bunter und wärmer. Und nicht nur in der Natur wächst es und keimt - auch unsere Herzen öffnen sich, so vieles scheint plötzlich möglich. Oder wie Peter Kurzeck schreibt: »Das Leben ruft. Hell liegt die Erde vor uns. Warum können nicht alle Tage so sein?«

Thomas Mann

Frühling auf dem Zauberberg


Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus anrollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf »Berghof« begangen wurde, wie man alle Etappen und Einschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Einerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast neben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Schokolade.

»Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?« fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern herantrat … Wie die Mehrzahl der Gäste kürzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. »Ich bin erinnert durch diese Häschen, diese gefärbten Eier an das Leben auf so einem großen Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wüstenei, unter Umständen, deren vollkommene Bequemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflächlich vergessen läßt, während in den tieferen Gegenden des Gemütes das Bewußtsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt … Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer solchen Arche die Feste der terraferma pietätvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Außerweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender … Auf dem Festlande wäre heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Königs Geburtstag, – und wir tun es auch, so gut wir können, wir sind auch Menschen … Ist es nicht so?«

Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, gerührt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Äußerung in hohen Tönen, fand sie geistreich, vorzüglich und schriftstellerisch und redete Herrn Settembrini aus allen Kräften nach dem Munde. Gewiß, nur oberflächlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstände und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er auf eigene Hand das hinzufügen dürfe, sogar eine gewisse Frivolität und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem ähnliches, was die Alten Hybris genannt hätten (sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie »Ich bin der König von Babylon!«, kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere (»involviere«!) der Luxus an Bord doch auch einen großen Triumph des Menschengeistes und der Menschenehre, – indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schäume hinaustrage und dort kühnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fuß auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der menschlichen Zivilisation über das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen dürfe …

Herr Settembrini hörte ihm aufmerksam zu, die Füße gekreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.

»Es ist bemerkenswert«, sagte er. »Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, Ingenieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Persönlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Persönlichkeit drückte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes …«

»Placet experiri!« sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.

»Sicuro, – wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von ›Hybris‹, Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist höchste Menschlichkeit, und beschwört sie die Rache neidischer Götter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buhlerischen Experiment mit den Mächten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Sì o no!«

Hans Castorp rührte in seinem Täßchen, obgleich nichts mehr darin war.

»Ingenieur, Ingenieur,« sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend »festgesehen«, »fürchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises, der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfüber, kopfunter umhergepustet flattern werden, so möchte ich vor Kummer umfallen wie eine Leiche fällt …«

Sie lachten, froh, daß er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:

»Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem ähnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus.«

Beide verwunderten sich aufs höchste.

»Nicht möglich! Das ist nur Scherz!« rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast ebenso erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte:

»Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können, als unhaltbar erweisen werde, ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich für die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, – dieser Augenblick ist eingetreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgültige Urteil, lautet auf lebenslänglich, – mit der ihm eigenen Aufgeräumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkündet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Begriffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Handwerkszeug dorthin zu schaffen … Es ist nicht einmal weit von hier, in ›Dorf‹, wir werden einander begegnen, gewiß, ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden.«

So Settembrinis Eröffnung am Ostersonntag. Die Vettern hatten sich außerordentlich bewegt darüber gezeigt. Des längeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten über seinen Entschluß gesprochen: darüber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausüben können, über die Mitnahme und Fortführung ferner der weitläufigen enzyklopädischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Übersicht aller schöngeistigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskonflikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch über sein zukünftiges Quartier im Hause eines »Gewürzkrämers«, wie Herr Settembrini sich ausdrückte. Der Gewürzkrämer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen böhmischen Damenschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufnehme … Diese Gespräche also lagen zurück. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veränderung hatte sie bereits gezeitigt. Settembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium »Berghof«, sondern bei Lukaček, dem Damenschneider, – schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenabreise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fuß, in kurzem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Ärmeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Handgepäck des Schriftstellers beförderte, hatte man ihn stockschwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rücken zweier Finger in die Wange gezwickt … Der April, wie wir sagten, lag schon zu einem guten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewiß, im Zimmer hatte man knappe sechs Wärmegrade am Morgen, draußen war neungradige Kälte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia ließ, gefror über Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stück Steinkohle. Aber der Frühling nahte, das wußte man; am Tage, wenn die Sonne schien, spürte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veränderungen zusammen, die sich auf »Berghof« unaufhaltsam vollzogen, – nicht aufzuhalten selbst durch die Autorität, das lebendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populäre Vorurteil gegen die Schneeschmelze bekämpfte.

Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungünstige Zeit, – die Schneeschmelze? Die allergünstigste sei es! Nachweislich gäbe es im ganzen...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alte und neue Liebe • Anthologie • Aufbruchstimmung • Bäume • Blumen • Christoph Ransmayr • Fischer Klassik • Frühlingsgefühle • Garten • Gefühl • Glück • Glücksgefühl • Hoffnung • Judith Hermann • Verlieben
ISBN-10 3-10-491554-7 / 3104915547
ISBN-13 978-3-10-491554-8 / 9783104915548
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