Töchter der Speicherstadt - Der Geschmack von Freiheit (eBook)
464 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60093-4 (ISBN)
Die gebürtige Hamburgerin Anja Marschall lebt als Autorin und Journalistin mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein. Vor ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete sie als Erzieherin, Pressereferentin, Lokaljournalistin, EU-Projektleitung in der Sozialforschung, war Apfelpflückerin in Israel, Zimmermädchen in einem Londoner Luxushotel und Kioskverkäuferin an den Hamburger Landungsbrücken. Sie ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern eV« und des »Syndikats« sowie der Mary-E-Braddon-Gesellschaft.
Die gebürtige Hamburgerin Anja Marschall lebt als Autorin und Journalistin mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein. Vor ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete sie als Erzieherin, Pressereferentin, Lokaljournalistin, EU-Projektleitung in der Sozialforschung, war Apfelpflückerin in Israel, Zimmermädchen in einem Londoner Luxushotel und Kioskverkäuferin an den Hamburger Landungsbrücken. Sie ist Mitglied der "Mörderischen Schwestern eV" und des "Syndikats" sowie der Mary-E-Braddon-Gesellschaft.
2
Cläre hörte noch den letzten Glockenschlag von St. Petri, als sie einige Tage später in die Colonnaden eilte. Es war bereits kurz nach zehn!
Sie rannte die Prachtstraße zwischen Jungfernstieg und Gänsemarkt entlang, vorbei an Stadthäusern, die wie ein venezianisches Zuckerbäckerwerk wirkten. Ihre Schritte hallten durch den Säulengang, während sie an den vielen kleinen Läden vorbeilief, die um diese Zeit längst geöffnet hatten. Dass ausgerechnet heute das Automobil nicht angesprungen war, ärgerte Cläre. Ein älterer Herr trat gerade aus Teschs Pfeifenladen. Fast hätte sie ihn umgerannt.
»Verzeihen Sie!«, rief Cläre hastig und eilte weiter.
Der Herr zog seinen Hut. »Pardon, Fräulein, ich hätte aufmerksamer sein müssen!«, hörte sie ihn noch hinterherrufen. Hamburg war wahrlich eine vornehme Stadt. Und natürlich wusste Cläre, dass ihr Gerenne alles andere als rücksichtsvoll war, aber sie wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen, auch wenn ihr Arbeitgeber in dieser Hinsicht äußerst tolerant war. Felix Jud betrieb mit seiner Geschäftspartnerin Erna Kracht die Hamburger Bücherstube und neigte selbst nicht dazu, vor elf dort zu erscheinen.
Und tatsächlich! Als Cläre Hausnummer 104 erreicht hatte, stand bereits ein Kunde vor dem verschlossenen Eingang ins Souterrain. »Bitte verzeihen Sie«, sagte Cläre ein wenig außer Atem, fingerte den Ladenschlüssel aus ihrer Handtasche, trat die vier Stufen hinunter und schloss die Tür auf.
Während der junge Mann unsicher eintrat, warf sie schnell ihren Mantel hinter den Vorhang, richtete ihren zerzausten Bubikopf und begab sich hinter den Ladentisch, auf dem mehrere Stapel Bücher darauf warteten, in die Regale einsortiert zu werden.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und lächelte.
Zu den Kunden der HaBü, wie die Hamburger Bücherstube mittlerweile genannt wurde, zählte vornehmlich das literarisch gebildete Publikum der Stadt. Man verstand sich als »Pflegestätte für das gute und schöne Buch«. Doch auch Studenten waren im Souterrain der Buchhandlung zu finden. Sie garantierten zum Beginn der Semester eine klingelnde Kasse, wenn sie ihre Fachbücher in der HaBü kauften. Ab und zu waren auch Frauen unter den Studiosi. Sie bediente Cläre besonders gerne, denn manchmal gelang es ihr, die Kundinnen in ein Gespräch zu verwickeln. So erfuhr Cläre, wie die Damen es fertiggebracht hatten, einen Studienplatz zu ergattern, und wie sich das Leben an der Universität gestaltete. Doch die meisten Frauen studierten, wenn überhaupt, Medizin oder Pädagogik. Eine Ausnahme bildete Magdalene Schoch. Sie war allerdings längst keine Studentin mehr, sondern arbeitete als promovierte Juristin für einen gewissen Professor Bartholdy. Sie hatte selbst erfahren müssen, wie schwer es für eine Frau war, in der Männerdomäne der Juristerei Fuß zu fassen, und nahm Anteil an Cläres Versuch, einen Studienplatz zu ergattern, selbst wenn es nur im Fachbereich Wirtschaft war. Für die Tochter eines Kaufmanns sei dieses Studiengebiet nur zu natürlich, hatte sie Cläre einmal wissen lassen und versprochen, über Cläres Herkunft zu schweigen, denn Cläre befürchtete, Felix Jud würde ihr als Tochter aus wohlhabendem Hause nicht mehr erlauben, in seinem Laden zu arbeiten. Es gab in diesen schwierigen Tagen genügend Frauen, die eine Arbeit nötiger hatten als sie.
Darüber aber machte Cläre sich heute keine Gedanken. Sie hoffte, dass Frau Schoch, diese energiegeladene kleine Person, heute im Laden vorbeischauen möge, damit sie ihr ein wenig das Herz ausschütten konnte. Die Absage aus Bern schmerzte Cläre noch immer.
Der junge Mann legte seine Bücherliste auf den Tresen. Cläre warf einen kurzen Blick darauf, nickte und holte aus dem Eckregal das erste der gewünschten Bücher. Sie reichte es ihm. »Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte von Professor Cassirer.«
Der junge Mann, er mochte kaum älter als zwanzig Jahre sein, blickte müde auf das dicke Buch in ihren Händen. Er seufzte.
Sie musste schmunzeln. »Ich befürchte, die anderen Bücher auf der Liste werden nicht viel dünner sein.«
Es folgten die Bände 1 bis 10 der kantischen Werke. Sie wusste nicht, ob es das Gewicht der Bücher oder ihres Inhaltes war, das den jungen Mann in die Knie zu zwingen drohte. »Sie sind bei Professor Cassirer im ersten Semester, richtig?«
Stumm nickte er. »Ich weiß gar nicht«, flüsterte er kaum hörbar in leicht schwäbischem Akzent, »wie ich das alles lesen soll, geschweige denn verstehen.«
Cläre hatte Mitleid mit ihm. »Sollen wir Ihnen die Bücher liefern?«, fragte sie, um ihn abzulenken.
»Ja bitte.« Er nannte seinen Namen und die Adresse. »Und die restlichen Bücher?«, fragte er dann.
»Vielleicht leihen Sie sich diese in der Bibliothek von Herrn Warburg aus«, schlug Cläre vor. »Er hat in seinem Haus in der Heilwigstraße eine umfangreiche Gelehrtenbibliothek für Kunst und Kultur, die er Interessierten gerne zur Verfügung stellt.«
Überrascht sah der junge Mann sie an. »Ich darf dort auch etwas ausleihen?«
»Das sollten Sie sogar, denn auch Professor Cassirer lässt sich dort öfter blicken. Für so manchen Studenten ist das eine willkommene Gelegenheit, den Herrn Professor das eine oder andere zu fragen.« Sie zwinkerte. »Und um sich bei ihm in gute Erinnerung zu bringen.«
Der junge Mann schien zu verstehen. »Sie studieren auch Philosophie?«, fragte er hoffnungsfroh.
»Nein, aber ich höre hier im Laden so manches.«
Mit federnden Schritten verließ der junge Mann kurz darauf die Hamburger Bücherstube.
Schon bald klingelten die Glöckchen über der Ladentür ein weiteres Mal. Cläre sah auf. Der Besitzer der Buchhandlung, Felix Jud, trat ein. Selbst kaum älter als der erste Kunde des Tages, ließ sich der schlaksige junge Mann auf den Stuhl fallen, der vor dem Regal mit den französischen Romanen stand.
»Cläre, Cläre, Cläre«, jammerte er kopfschüttelnd, und sie wusste, dass er wieder bis spät in die Nacht mit seinen Freunden diskutiert und gestritten hatte. »Ich brauche einen starken Kaffee.« Mit beiden Händen hielt er seinen Kopf. »Einen sehr, sehr starken. Ich glaube, meine Denkerstirn platzt gleich.«
Während sie in die kleine Küche ging und den Behmer-Traditionskaffee aus dem Regal nahm, erzählte er, dass sein Freund, der Berliner Verleger Ernst Rowohlt, mal wieder in der Stadt sei. »Aber sagen Sie es nicht der Erna!«, rief er, als Cläre gerade das Kaffeepulver in die Filtertüte gab. »Ich habe ein paar Novitäten geordert. Nicht viele, aber es wird reichen, um Erna aus der Contenance zu bringen. Sie wird zetern, aber es lohnt sich, für die Bücher zu leiden. Ich brauche nur vorher einen starken Kaffee.«
Cläre goss das heiße Wasser über das Kaffeepulver und wartete darauf, dass sie nachgießen konnte. Sie grinste.
Nach dem ersten Schluck seufzte der »Herr der tausend Bücher«, wie Felix Jud sich manchmal selbst nannte. »Und ein weiteres Mal haben Sie mein Leben gerettet«, meinte er und nahm gleich noch einen Schluck.
Über den Rand der Tasse blickte er Cläre fragend an. »Wieder eine Absage?«
Sie nickte. »Bern.«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist unglaublich, dass die Dummheit noch immer regiert. Wer kann in der heutigen Zeit nur etwas dagegen haben, dass Frauen zu Wirtschaft und Wissenschaft beitragen?«
Cläre lächelte dankbar. All die Absagen, die sie erhielt, schienen ihren Arbeitgeber ebenso in die Verzweiflung zu treiben wie sie. Es tat ihr gut, dass hier so viele auf ihrer Seite waren.
Anders als ihre Familie zu Hause, von der Herr Jud nichts wissen sollte. Hier im Laden war sie nur eine junge Frau, die ihren Unterhalt verdienen musste und von einem Studium träumte.
Felix Jud stellte die Tasse auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand durch die lockigen Haare, dann richtete er seine Brille und räusperte sich. »Fräulein Cläre, ich muss Ihnen leider sagen …« Er räusperte sich ein weiteres Mal. Dann griff er in die Taschen seiner Jacke und zog das Futter hervor. Mit enttäuschtem Gesicht blickte er sie an. »Es tut mir leid. Ich kann Sie diese Woche schon wieder nicht bezahlen.«
Cläre unterdrückte ein Lächeln. »Herr...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2022 |
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Reihe/Serie | Die Kaffee-Saga | Die Kaffee-Saga |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Deutsche Geschichte • Familiensaga • Generationenroman • Hamburg • Händlerinnen • historischer Roman 20. Jahrhundert • Historischer Roman für Frauen • Kaffee • Mütter und Töchter • Speicherstadt • Verfeindete Familien |
ISBN-10 | 3-492-60093-X / 349260093X |
ISBN-13 | 978-3-492-60093-4 / 9783492600934 |
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