Gefährliche Gischt (eBook)
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60138-2 (ISBN)
Anne-M. Keßel arbeitet als Drehbuchautorin. 2018 war sie für den Thriller »Nackt. Das Netz vergisst nie« für den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie »Bestes Buch« nominiert. Der Krimi »Gefährliche Gischt« ist ihr Romandebüt.
Anne-M. Keßel arbeitet als Drehbuchautorin. 2018 war sie für den Thriller "Nackt. Das Netz vergisst nie" für den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie »Bestes Buch« nominiert. Der Krimi »Gefährliche Gischt« ist ihr Romandebüt.
Prolog
Die Nacht war stürmisch gewesen. Und noch immer zogen die letzten Ausläufer des Frühjahrssturms über die Küste. Wie eine dicke, ausgebeulte Decke hetzten die Wolken über die Dünen, weg vom Meer, hinein ins Land.
Sein Oberkörper stemmte sich gegen die ihm entgegenschlagenden Böen, während ihm der Wind dünnen Nieselregen quer ins Gesicht spie. Seine Brille war regenblind, aber er kannte den Weg. Unbeirrt stapfte er weiter den schmalen Sandpfad entlang durch die Dünen. Am Set oder auf dem roten Teppich trug er ausschließlich Kontaktlinsen, da war er eitel. Aber hier, weit weg vom Scheinwerferlicht, konnte er sich ein wenig gehen lassen.
In der schwarzblauen Dämmerung des heraufziehenden Morgens war kein anderes Lebewesen zu sehen. In der Landschaft verstreut standen ein paar Ferienhäuser, aber in keinem brannte Licht. Alle schliefen noch. Es war, als wäre er der einzige Mensch auf Erden.
Das Tosen hinter den Dünen schwoll an. Durch ein Dünental hindurch konnte er kurz das Meer aufblitzen sehen. Rau und aufgewühlt, gestaffelte Wellenreihen in einem dunklen Graublau, gekrönt von weißer Gischt. Er lächelte. Das war gut! Der Sturm wirbelte den Meeresboden auf, und mit etwas Glück würde er vielleicht Bernstein finden, den die Flut an den Strand spülte. Das Frühjahr war zwar bereits fortgeschritten, aber die salzige Nordsee immer noch winterkalt. Nur unter diesen Bedingungen gab sie das Gold des Meeres frei.
Bei dem Gedanken glaubte er plötzlich, die wärmende Hand seiner Mutter zu spüren. Sie war eine leidenschaftliche Bernstein-Sammlerin gewesen. Seine frühesten und schönsten Kindheitserinnerungen waren geprägt von kalter Gischt, die über seine nackten Füße spülte, während er – kaum groß genug, um selbst zu laufen – an ihrer Hand den Strand entlangtapste, auf der Suche nach den goldenen Klumpen.
Sie würde sich bestimmt freuen, wenn er ihr die diesjährige Ausbeute mit ins Heim brachte. Dann, so hoffte er, würde vielleicht wieder der alte Glanz in ihre Augen treten, das Erkennen und die Freude, die seit Jahren hinter dem Vorhang grausamen Vergessens verborgen lagen.
Nur deswegen war er an diesem stürmischen Tag in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Denn wenn es nach Asta gegangen wäre, hätten sie im Warmen bleiben können. Obwohl: Einmal draußen, kannte sie kein Halten mehr. Er schob sich Daumen und Zeigefinger in den Mund, die nach Salz und Urlaub schmeckten, und stieß einen kurzen Pfiff aus. Sofort ruckte ein kleiner Hundekopf hinter einem Sandhügel hervor, die braunen Klappohren aufgestellt, die Knopfaugen begeistert aufgerissen. Das Fell um das linke Auge war kreisrund und pechschwarz, wie eine Augenklappe. Die braunen Ohren und das schwarze Auge stachen aus dem ansonsten schneeweißen Fell heraus. Asta war wirklich etwas ganz Besonderes. Er lächelte seine Hündin liebevoll an.
Als sie sich beide der Gegenwart des anderen vergewissert hatten, sprang Asta wieder herum und rannte schwanzwedelnd auf das Tosen hinter den Hügeln zu. Er schaute dem kleinen weißen Punkt hinterher, der fröhlich über den Dünenpfad flitzte. Wieder musste er lächeln. Nie hatte er nur eine der Frauen in seinem Leben so sehr geliebt wie dieses kleine Fellknäuel! Und keiner Frau war er nur annähernd so treu gewesen. Er wusste nicht, ob das traurig war oder normal in einer Welt, in der die wenigsten noch eine Verbindung bis zum Lebensende eingingen, sondern immer nur Seilschaften für eine kurze gemeinsame Wegstrecke. In der man sich gegenseitig nützlich sein konnte und eine gute Zeit zusammen hatte, bis andere den Weg kreuzten und man neue Gelegenheiten ergriff.
Asta hingegen liebte ihn um seiner selbst willen. Bei den Frauen war er sich da nie so sicher. Dafür verdiente er zu viel Geld und generierte zu viele Klicks auf den Social-Media-Kanälen. Insofern waren seine Beziehungen immer ehrlich gewesen: Er sonnte sich in Jugend und Schönheit seiner Lebensabschnittsgefährtinnen und gab ihnen dafür ein wenig Aufmerksamkeit, verlieh dem Leben dieser Frauen ein kleines bisschen Bedeutung. Was er dafür hinter verschlossenen Türen wollte, war klar. Und das hatten auch alle gewusst, die sich auf ihn eingelassen hatten. Fast alle …
Zum Schutz gegen den Wind senkte er schnell wieder den Blick und schaute stur auf seine Schuhe, die Schritt um Schritt dem Meer entgegengingen. So traf ihn die Stimme völlig unvorbereitet.
»Dieser Wind! Heftig, oder!?«
Er sah auf und erkannte durch seine besprenkelten Brillengläser eine Frau, die wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. Ihr rundes Gesicht war durch die festgezurrte Kapuze einer neonfarbenen Funktionsjacke umrandet. Ungeschminkt, wie sein kennender Blick feststellte. Ende vierzig, Anfang fünfzig, den Fältchen und Grübchen nach zu urteilen. Durch den flatternden Stoff des Discounter-Anoraks zeichnete sich eine füllige Figur ab. Das knallige Pink würde den Rettungskräften im Falle eines Unglücks zwar eine schnelle Bergung ermöglichen, war aber ebenso wie der Schnitt eher unvorteilhaft und verlieh ihr das Aussehen eines dicken, freundlichen Bonbons.
Er hatte schon lange auf keiner Dicken mehr gelegen. Mit denen konnte er sich öffentlich zwar nicht sehen lassen, aber sie waren so schön dankbar. Und offen für Neues. Er hatte immer viel Spaß mit ihnen.
»Sie müssen mit dem Hund raus, nicht wahr? Ich bin ja immer so früh auf. Und das Wetter macht mir nichts aus. Aber heute ist es schon sehr stürmisch. Finden Sie nicht auch?«
Die Frau sprach Deutsch mit ihm. Offenbar hielt sie ihn für ihresgleichen. Doch selbst wenn er nicht mit Brille und Windbreaker, sondern mit Kontaktlinsen, von der Maskenbildnerin perfekt frisierten Haaren sowie in einem Maßanzug vor ihr stünde, würde sie ihn nicht erkennen. Wahrscheinlich noch nicht einmal, wenn ihm die eisgläserne Krone Mythopias auf dem goldgelockten Perückenhaupt sitzen und er laut brüllend Schild und Schwert schwingen würde, so wie in seiner bisher bedeutendsten Rolle. Er spürte einen Stich im Magen, ein kleiner Gruß seiner gekränkten Eitelkeit. Die Deutschen liebten zwar Dänemark, die »hyggelige« Gemütlichkeit, Pølser und Lakritz – aber sie interessierten sich weder für die Sprache noch für die Politik und schon gar nicht für die Kultur des Landes. Das pinke Bonbon hatte keine Ahnung, wer da vor ihm stand.
Er spürte den Zwiespalt, der sich in seine Eingeweide bohrte. Genau deswegen kam er eigentlich so gerne nach Billersby, in dieses verschlafene norddeutsche Provinznest; weil er hier unerkannt entspannen konnte und schnell genug zurück in Dänemark war, wenn der Job oder das Heim seine Präsenz erforderten. Aber es kränkte auch jedes Mal sein Ego, wenn er realisierte, dass sein Prominentenstatus außerhalb Dänemarks bei null lag. Dabei war doch erst vor wenigen Wochen ein Interview mit ihm in einem der größten deutschen Hochglanzmagazine veröffentlicht worden. Der Versuch seines PR-Managers, ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen, hatte – ganz offensichtlich – nicht funktioniert.
Die Frau schaute ihn immer noch mit ihren freundlichen Maus-Augen an. Sie erwartete offenbar eine Antwort. Also knipste er sein Filmstarlächeln an, das hoch bis zu den Augen reichte, obwohl es reine Fassade war. Er nickte der Frau zu, dann zwängte er sich an ihr vorbei. Er wollte weg, bevor sie ihn mit weiteren Monologen aufhielt. Eilig stapfte er auf den Dünenkamm zu. Er meinte, den Blick der Frau in seinem Rücken zu spüren, drehte sich aber nicht mehr um, sondern folgte zielstrebig den kleinen, frischen Löchern, die Astas Pfoten in die nasse Sanddecke gestanzt hatten. Sie war den steilen Sandpfad, der eher einer Abbruchkante glich, bereits hinunter zum Strand gerannt. Nun wartete sie schwanzwedelnd darauf, dass er ihr endlich folgte. Doch er verweilte noch einen Moment auf dem Dünenkamm und betrachtete das aufgeschäumte Meer, das sich scheinbar endlos vor ihm ausbreitete.
Er schloss die Augen und ließ seinen Oberkörper langsam nach vorne fallen, der Schwerkraft folgend. Für den Bruchteil eines Augenblicks erlag er dem kindlichen Wunsch, die Arme auszubreiten und einfach davonzufliegen, bis er in letzter Sekunde seinen Fall abfing, entschlossen einen Fuß nach vorne setzte und mit weit ausholenden Schritten den steilen Sandpfad hinunterstakste. Asta umsprang ihn bellend, und gemeinsam liefen sie zum Meer, dorthin, wo die Nordsee mit...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Reihe/Serie | Deutsch-dänische Ermittlungen | Deutsch-dänische Ermittlungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Anne Keßel • Brutaler Mord • deutsch-dänische Grenze • Die Brücke • Ermittlerinnenduo • Feuer • Grenzland Dänemark • Kessel • Krimi Dänemark • krimi ermittlerin • Küstenkrimi • Küstenschutz • Leiche • Meer • Nordsee • Nordsee-Krimi • Phosphor • Polizei • Polizeiarbeit • Regionale Krimis • Schmuggel • Strand • Strandkrimi • Toter • Umweltkatastrophe • Umweltroman • weibliche Ermittler • White Sands |
ISBN-10 | 3-492-60138-3 / 3492601383 |
ISBN-13 | 978-3-492-60138-2 / 9783492601382 |
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