Der Himmel über Palermo (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
223 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2795-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Himmel über Palermo -  Constanze Neumann
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Eine junge Frau entdeckt die Liebe - und eine fremde, aufregende Welt.

Palermo, 1881: Richard Wagner reist mit der ganzen Familie nach Sizilien. Auch seine Stieftochter Blandine von Bülow ist dabei. Während Wagner sich zuückzieht, um den »Parsifal« zu vollenden, nehmen die anderen am gesellschatlichen Leben teil. Vor allem Blandine sorgt für Aufsehen - und erliegt selbst dem Zauber der alten, prächtigen Palazzi, der prunkvollen Feste und einer Landschaft, die keinen Winter kennt. Auf einem Ball in der Silvesternacht begegnet sie Graf Biagio Gravina, Spross einer der ältesten Adelsfamilien der Insel, der ihr schon bald den Hof macht. Könnte sie ihr Glück finden in dieser fremden, exotischen Welt?



Constanze Neumann, geboren in Leipzig, hat mehrere Jahre auf Sizilien gelebt und unter anderen Valeria Parrella, Andrej Longo und Simona Vinci aus dem Italienischen übersetzt.

1
Die Toten


November 1897

Chi ti portaru i morti?

Rau klingt die Stimme des Verkäufers, fremd, als stammte sie aus einer anderen Welt. Weitere Rufe stimmen ein, ein heiseres Krächzen, das sich mit dem dichten Rauch mischt, der über die große Piazza treibt. Es riecht nach Maronen, gegrilltem Fleisch, gebrannten Mandeln, ein schwerer Duft, der den Gestank doch nur überlagert, der aus den engen Seitengässchen der Piazza dringt, aus den Eingeweiden der Stadt Palermo und einer Dunkelheit, die immer feucht ist, ein klammes, schmutziges Tuch, das an der Haut haftet.

Chi ti portaru i morti?

Was haben dir die Toten gebracht?

Blandine Gräfin Gravina zieht den Vorhang vor das Fenster der Kutsche, die sich ihren Weg über die Piazza Santa Teresa zum Stadttor Porta Nuova bahnt. Durch einen Spalt zwischen den staubigen Stoffbahnen sieht sie das Gesicht eines Verkäufers, es ist braun gebrannt, zerfurcht, der Mund, aus dem ein paar schiefe Zähne ragen, ist aufgerissen. Der Mann starrt sie an und lacht, hält eine der bunten Zuckerpuppen hoch, einen Paladin mit Rüstung und Säbel. Schild und Helm sind bunt, die schwarzen Augen puppenstarr, darunter ein blutroter Mund mit schwarzem Schnurrbart. Der Verkäufer schlägt mit seiner schmutzigen Faust gegen das Fenster der Kutsche, er streckt ihr den Paladin entgegen, dann zeigt er auf seinen Stand, auf dem Berge von bunten Zuckerpuppen liegen, Ritter zu Pferde, Edelfräulein und Prinzessinnen mit gelbem Haar und blauen Augen, dazu billiges Spielzeug, kleine sizilianische Karren, Tonpfeifen, Kasperlefiguren, auch sie schreiend bunt. Endlich sind sie an seinem Stand vorbeigefahren, Blandine atmet auf.

Chi ti portaru i morti?

Sie schließt die Augen und drückt sich in das lederne Sitzpolster, aber das grobe Gesicht des Verkäufers hat sich ihr eingebrannt, sein Grinsen, die schiefen gelben Zähne.

U pupu cu l’anchi torti!

Eine hinkende Puppe!

Die Stimmen der Kinder, die den Händlern antworten, klingen schrill. Sie sind aufgeregt und gierig, ihre Schreie gleichen denen der Möwen, die vom Meer heraufgeflogen sind und nach Müll tauchen, sie stürzen sich aus dem blauen Novemberhimmel hinab und wühlen im Unrat, der sich überall auf der Piazza türmt, unter den Ständen, an den Ecken, an den Stämmen der hohen Palmen.

Mit einem Ruck kommt die Kutsche zum Stehen, und Blandine öffnet die Augen. Sie hört den Kutscher fluchen, ein paar Kinder stieben kreischend auseinander, sie sind nicht zu bändigen an diesem Tag, an dem die Toten ihnen Geschenke bringen. Sie müssen sie nur auf den Friedhöfen an den Familiengräbern abholen. Alle – ob reich oder arm – tafeln an den Gräbern, bringen den Toten ihre Leibspeisen, und die Kinder können es kaum erwarten, auf den Friedhof zu gehen. Danach fahren sie zum Jahrmarkt der Toten auf der Piazza Santa Teresa. In all den fünfzehn Jahren auf Sizilien hat Blandine sich nicht an dieses Fest gewöhnt, das hier wichtiger ist als Weihnachten und Ostern. Heidnisch kommt es ihr vor, ein uraltes Ritual, das für sie nichts mit dem Christentum und Allerseelen, wie sie es kennt, zu tun hat. Auch ihre Kinder wollen das Fest feiern, sie verrenken sich die Hälse, wenn Ende Oktober in den Pasticcerien die bunten Zuckerpuppen auftauchen, sie wollen auf den Friedhof und dann auf diesen Jahrmarkt, wo sie die Rufe der Händler mit einer ihr nicht vertrauten Lautfolge beantworten und die Stände mit Spielzeug, Bergen von Nüssen und den crozzi i mottu, den Knochen der Toten, einem nach Nelken und Zimt schmeckenden Gebäck, bestaunen.

Sie schaudert.

Palermo ist eine Totenstadt, und heute feiern sie, die Toten tanzen durch die Straßen, ein gespenstischer Reigen durch die labyrinthischen Gassen, durch den Dämmer der unzähligen Kirchen, Klöster und Kapellen.

Ruckelnd fährt die Kutsche weiter, der Kutscher gibt dem Pferd die Peitsche. Wieso hat die Gräfin darauf bestanden, über die Piazza Santa Teresa zu fahren? Er hat sie gewarnt, er hat ihr einen anderen Weg hinunter zum Meer vorgeschlagen, nicht über den Jahrmarkt der Toten und den Cassaro, eine der Hauptachsen der Stadt, sondern durch Seitengassen und Nebenstraßen. Blass sah die Gräfin aus, das schwarze Kleid abgetragen und am Saum staubbedeckt. Die hellen Augen in dem schmalen, ernsten Gesicht haben ihn unverwandt angeschaut. Zuerst hat er gedacht, sie verstehe ihn nicht, eine Ausländerin, die zwar seit Langem hier lebt, aber die Sprache nicht spricht. Dann hat er so etwas wie Furcht in ihrem Blick gelesen. Die Fremde fürchtet sich vor dem Bauch der Stadt. Darum der eigentlich unsinnige Weg über die überfüllten Plätze, die breiten Straßen.

Die Sonne steht bereits tief, aber trotzdem ist es so warm, dass ihm der Schweiß über die Stirn rinnt. Es ist nicht die brennende Hitze des Sommers, sondern eine flüchtige Wärme, die abends einer feuchten Kälte weicht. Zuhause wartet sein Sohn, der Kutscher hat ihm versprochen, dass die Toten ihm einen Ritter bringen. Der Ritter zu Pferde mit dem bunten Helm und dem Schwert liegt auch schon neben ihm auf dem Kutschbock. Der Friedhof, auf dem seine Frau, seine Mutter und die kleine Concetta liegen, ist zu weit außerhalb, sie werden es nicht schaffen, dorthin zu laufen, wenn er gegen fünf nach Hause kommt. Vincenzo hat geweint, wie sollen die Toten ihm einen Ritter bringen, wenn sie nicht ans Grab gehen? Aber der Kutscher muss arbeiten, er muss die Gräfin vom Friedhof in die Via Butera bringen, Palazzo Pace, Via Butera 33. Sie ist allein auf den Friedhof gegangen, eine verlorene Gestalt, der die anderen nachgeschaut haben. Vielleicht hat sie es gar nicht bemerkt, unbeirrt hat sie sich ihren Weg durch die Gruppen jubelnder Kinder gebahnt, vorbei an den Männern mit den Bildnissen der Toten und den Frauen mit Körben voller Essen, bis er ihre Gestalt nicht mehr sehen konnte. Jetzt sitzt sie allein in der Kutsche, und der Kutscher versteht nicht, wieso sie ihre Kinder nicht mitgenommen hat. Sie hat doch Kinder, die ihren Vater besuchen müssen an diesem Tag.

Die Toten wissen, dass wir nicht kommen können, hat der Kutscher Vincenzo gesagt, sie bringen dir die Puppe, versprochen. Sie wissen alles, sie sind immer bei uns, besonders Mama.

Blandine atmet auf, als sie das Stadttor erreichen, eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein.

Chi ti portaru i morti?

Die Schreie verhallen hinter ihr. Sie denkt an ihren Mann, der seit sechs Wochen tot ist. Was hat er ihr gebracht? Die Frage kann sie nicht beantworten, und man stellt sie auch nur hier, in der Totenstadt, die sie bald verlassen wird. Palermo und Sizilien wird sie verlassen und ein Leben, das ihres war und doch auch nicht. Ihre Mutter erwartet sie in Deutschland, in Bayreuth. Biagino hat immer davon gesprochen, dass die Erziehung der Kinder in Deutschland stattfinden müsse. Doch sie wird dem Wunsch ihres verstorbenen Mannes nicht entsprechen. Ihr Ältester ist in einem Institut bei Florenz, ihn hat sie vor ein paar Tagen dorthin begleitet, ist gerade erst wieder zurückgekehrt. Die drei Kleinen sind bei ihr. Ihre Schwiegereltern wollen, dass sie auf Sizilien bleibt. Auch ihnen wird sie es nicht recht machen. Sie lehnt sich zurück und schließt noch einmal die Augen. Sie ist allein, und es ist ihre Verantwortung. Sie muss den Kindern den Vater ersetzen, nach besten Kräften. Wo und wie sie es für richtig hält. Weder will sie nach Bayreuth zu ihrer Familie noch hier auf der Insel bleiben, wo sich die Erinnerungen eintrüben und verfärben, sie zerfallen, je länger sie daran denkt. Was ihr bleibt, ist eine Handvoll Staub.

Meine liebe Daniela,

es ist mir wirklich nicht möglich gewesen, bis jetzt die zahllosen Briefe zu beantworten, die mir von nah und fern liebe Beweise der Teilnahme brachten. Je tiefer die Empfindung, umso schwieriger das Ausdrucksvermögen. Und dann habe ich auch so schrecklich viel zu tun gehabt, dass ich kaum zur Besinnung gekommen bin. Seit einigen Tagen bin ich aus Florenz zurückgekehrt, wo ich Manfredi in das nahegelegene Institut in Prado brachte. Ich will mich nun ganz dort niederlassen und mache hier meine Anstalten zu dem großen Umzug, der einen Lebensabschnitt von fünfzehn Jahren beendet. Sicher ist, dass ich nicht ohne Wehmut von Palermo scheide. Ich habe unendlich viel Liebe und Güte hier gefunden …

Ende November 1897 verlässt Blandine Gräfin Gravina, geborene von Bülow, mit ihren drei jüngeren Kindern Maria, Gilberto und Guido Sizilien. Als das Dampfschiff nach Neapel im Hafen von Palermo ablegt, steht neben der Sonne bereits eine schmale, kaum sichtbare Mondsichel am Frühabendhimmel. Eine halbe Stunde später sind weder Winkende noch Händler, weder die Barken, die das Dampfschiff ein Stück begleitet haben, noch die Kutschen mehr zu erkennen, alles ist zu schwarzen Punkten verschwommen. Auch der Lärm ist in der Ferne verstummt, und still liegt die Stadt da, ihre Kuppeln zeichnen sich gegen den Himmel ab, dahinter erheben sich dunkel die Berge.

Blandine steht an Deck, Maria und der Kleine sind bei der Miss in der Kabine. Guido lässt sich kaum beruhigen, er ist anderthalb und spürt, dass das Leben sich ändert, er weint, und Blandine hat keine Antwort auf seine Verzweiflung, wie sie überhaupt wenig Antworten für diesen jüngsten Sohn hat, der so überraschend in ihr Leben kam und ihnen für kurze Zeit – eine viel zu kurze Zeit – das Gefühl vermittelte, ihre Ehe sei noch zu retten. Wie schnell hatte Biagio das Interesse an dem schreienden Neugeborenen verloren und wie lange hatte sie gebraucht, um sich...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Adelsfamilie • Blandine von Bülow • Erste Liebe • Italien • Reichtum • Richard Wagner
ISBN-10 3-8412-2795-3 / 3841227953
ISBN-13 978-3-8412-2795-9 / 9783841227959
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99