Orlando. Eine Biografie. Roman (eBook)
288 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-29236-2 (ISBN)
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren und wuchs im großbürgerlichen Milieu des viktorianischen Englands auf. Ihr Leben war geprägt von wiederkehrenden psychischen Krisen. 1912 heiratete sie Leonard Woolf. Zusammen gründeten sie 1917 den Verlag 'The Hogarth Press'. Ihr Haus war eines der Zentren der Künstler und Literaten der Bloomsbury Group. Am 28. März 1941 nahm Virginia Woolf sich, erneut bedroht von einer Verdunkelung ihres Gemüts, das Leben.
Kapitel I
Er – denn es konnte kein Zweifel an seinem Geschlecht bestehen, obwohl die damalige Mode einiges dazu beitrug, es zu verbergen – war gerade dabei, auf den Kopf eines Mohren einzuhacken, der von den Dachbalken baumelte. Dieser hatte die Farbe eines alten Fußballs und mehr oder weniger die Form eines solchen, abgesehen von den eingefallenen Wangen und ein, zwei Strähnen drahtigen, trockenen Haars, ähnlich den Haaren einer Kokosnuss. Orlandos Vater, vielleicht auch sein Großvater, hatte ihn von den Schultern eines riesenhaften Heiden geschlagen, der sich unter dem Mond in den barbarischen Weiten Afrikas erhoben hatte; und nun baumelte er, sanft und immerfort, in den ewig zugigen Dachgemächern des weitläufigen Hauses des Lords, der ihn niedergestreckt hatte.
Orlandos Väter waren über Asphodillfelder geritten, über steinige Felder und Felder, die von fremden Flüssen bewässert wurden, und sie hatten viele Köpfe vieler Farben von vielen Schultern geschlagen und mitgebracht, um sie an die Dachbalken zu hängen. Das würde Orlando auch tun, gelobte er. Aber da er erst sechzehn war und zu jung, um mit ihnen durch Afrika und Frankreich zu reiten, stahl er sich häufig von seiner Mutter und den Pfauen im Garten fort und ging in sein Dachgemach, und dort hieb und stieß und zerhackte er die Luft mit seiner Klinge. Manchmal durchtrennte er die Schnur, sodass der Schädel auf den Boden polterte und er ihn wieder anbinden musste, wobei er ihn mit einer gewissen Ritterlichkeit immer so befestigte, dass er ihn kaum erreichen konnte und sein Feind ihn durch verschrumpelte, schwarze Lippen triumphierend angrinste. Der Schädel baumelte hin und her, denn das Haus, dessen Dach Orlando bewohnte, war so riesig, dass der Wind selbst darin gefangen schien, der mal hierhin wehte, mal dorthin wehte, Winter wie Sommer. Der grüne Arazzo mit den Jägern war immer in Bewegung. Orlandos Väter waren von jeher adlig gewesen. Sie waren mit Kronen auf den Häuptern aus den nordischen Nebeln gekommen. Kamen die Streifen Dunkelheit im Raum und die gelben Pfützen, die den Boden sprenkelten, denn nicht von der Sonne, die durch das bunte Glas eines riesigen Wappens im Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leib eines heraldischen Leoparden. Als er die Hand aufs Fensterbrett legte, um das Fenster aufzustoßen, färbte sie sich augenblicklich rot, blau und gelb wie ein Schmetterlingsflügel. Wer eine Vorliebe für Symbole hat und sie gern ausdeutet, könnte so beobachten, dass zwar die wohlgeformten Beine, der hübsche Körper und die sehnigen Schultern allesamt mit verschiedenen Tönungen heraldischen Lichts verziert waren, Orlandos Gesicht aber, als er das Fenster aufstieß, einzig von der Sonne selbst erleuchtet wurde. Ein aufrichtigeres, trotzigeres Gesicht wäre unmöglich zu finden. Glücklich die Mutter, die solch einem Menschen das Leben schenkt, glücklicher noch der Biograf, der es festhält! Niemals muss sie sich beunruhigen, noch er die Hilfe eines Romanciers oder Dichters anrufen. Von Tat zu Tat, von Ruhm zu Ruhm, von Amt zu Amt muss er gehen, sein Schreiber ihm folgend, bis sie den Posten, der das höchste Ziel ihrer Wünsche ist, erreichen, welcher auch immer das sein mag. Orlando war dem Aussehen nach exakt für eine solche Karriere geschaffen. Das Rot der Wangen war von Pfirsichflaum bedeckt; der Flaum auf den Lippen war kaum dichter als der Flaum auf den Wangen. Die Lippen selbst waren kurz und leicht geöffnet über Zähnen von köstlichem, mandelfarbenem Weiß. Nichts störte die pfeilförmige Nase in ihrem kurzen und straffen Flug; das Haar war dunkel, die Ohren klein und eng am Kopf angelegt. Aber ach, dass diese Auflistungen jugendlicher Schönheit nicht enden können, ohne Stirn und Augen zu erwähnen. Ach, dass Menschen selten ohne diese drei geboren werden; denn sobald wir Orlando am Fenster stehend betrachten, müssen wir zugeben, dass er Augen hatte wie durchtränkte Veilchen, so groß, als seien sie randvoll mit Wasser gefüllt und davon geweitet; und eine Stirn wie die Rundung einer Marmorkuppel, eingefasst von den beiden blanken Medaillons seiner Schläfen. Sobald wir Augen und Stirn betrachten, geraten wir ins Schwärmen. Sobald wir Augen und Stirn betrachten, müssen wir tausend Unannehmlichkeiten zugeben, die zu ignorieren jeder gute Biograf bestrebt sein muss. Was er sah, verstörte ihn, etwa wie seine Mutter, eine sehr schöne Dame in Grün, gefolgt von ihrer Zofe Twitchett hinausging, um die Pfauen zu füttern; was er sah, begeisterte ihn – die Vögel und die Bäume; und machte ihn in den Tod verliebt – der Abendhimmel, die heimkehrenden Krähen; und während all diese Eindrücke und auch die Gartengeräusche, das Hämmern, das Holzhacken, die Wendeltreppe zu seinem Gehirn hinaufstiegen – das ein geräumiges war –, traten sie jenen Aufruhr und jene Verwirrung der Leidenschaften und Emotionen los, die jeder gute Biograf verabscheut. Doch fahren wir fort: Orlando zog den Kopf langsam wieder herein, setzte sich an den Tisch und holte halb unbewusst, wie jemand, der etwas tut, was er jeden Tag seines Lebens zu dieser Stunde tut, ein Schreibheft mit dem Titel Æthelbert: Eine Tragödie in fünf Akten hervor und tauchte einen alten fleckigen Gänsekiel in die Tinte.
Bald hatte er zehn Seiten und mehr mit Dichtung gefüllt. Offensichtlich schrieb er flüssig, aber abstrakt. Laster, Verbrechen, Elend waren die Figuren seines Dramas; es gab Könige und Königinnen fantastischer Territorien; abscheuliche Intrigen vernichteten sie; erhabene Gefühle durchströmten sie; nie wurde ein Wort so gesagt, wie er selbst es gesagt hätte, sondern alles war mit einer Gewandtheit und Süße ausgedrückt, die in Anbetracht seines Alters – er war noch keine siebzehn – und der Tatsache, dass das sechzehnte Jahrhundert bis zu seinem Ablauf noch einige Jahre vor sich hatte, recht bemerkenswert waren. Doch schließlich hielt er inne. Er beschrieb gerade die Natur, wie es alle jungen Dichter immer tun, und um den Grünton exakt wiederzugeben, betrachtete er (und hierin zeigte er mehr Kühnheit als die meisten) den Gegenstand selbst, der zufällig ein unter dem Fenster wachsender Lorbeerbusch war. Daraufhin konnte er selbstverständlich nicht weiterschreiben. Das Grün in der Natur ist eine Sache, das Grün in der Literatur eine andere. Zwischen Natur und Dichtung scheint eine natürliche Antipathie zu herrschen; bringt man sie zusammen, reißen sie sich gegenseitig in Stücke. Der Grünton, den Orlando nun sah, zerstörte seinen Reim und zerschlug sein Versmaß. Überdies hat die Natur ihre eigenen Mittel. Man muss nur einmal aus einem Fenster die Bienen zwischen den Blumen betrachten, einen gähnenden Hund, die untergehende Sonne, nur einmal denken: »Wie viele Sonnen werde ich noch untergehen sehen?«, usw. usf. (der Gedanke ist zu wohlbekannt, als dass es sich lohnte, ihn auszuführen), und schon lässt man die Feder fallen, nimmt seinen Umhang, eilt aus dem Zimmer und bleibt dabei mit dem Fuß an einer bemalten Truhe hängen. Orlando war nämlich etwas ungeschickt.
Er gab sich Mühe, niemanden zu treffen. Dort kam Stubbs, der Gärtner, den Weg entlang. Er versteckte sich hinter einem Baum, bis der Mann vorbeigegangen war. Er schlüpfte durch ein kleines Tor in der Gartenmauer hinaus. Er umrundete alle Ställe, Hundezwinger, Brauereien, Tischlerwerkstätten, Waschhäuser, Orte, an denen Talgkerzen hergestellt, Ochsen geschlachtet, Hufeisen geschmiedet, Wämser genäht wurden – denn das Haus war eine Stadt, die widerhallte von Männern, die ihren unterschiedlichen Handwerken nachgingen – und erreichte unbemerkt den farnbewachsenen Pfad, der durch den Park den Hügel hinaufführte. Möglicherweise besteht eine Verwandtschaft zwischen Eigenschaften; die eine bringt die andere mit sich; und der Biograf sollte hier auf die Tatsache hinweisen, dass Ungeschicktheit oft mit einer Liebe zur Einsamkeit einhergeht. Da er über eine Truhe gestolpert war, liebte Orlando selbstverständlich einsame Orte, weite Aussichten und das Gefühl, für immer und ewig, immer und ewig allein zu sein.
Und so hauchte er schließlich nach langem Schweigen: »Ich bin allein«, und öffnete damit zum ersten Mal in dieser Aufzeichnung die Lippen. Hastig war er den Hügel hinaufgegangen, durch Farne und Weißdornbüsche, dabei Rehe und Wildvögel aufschreckend, bis an eine Stelle, die von einer einzelnen Eiche gekrönt wurde. Sie war sehr hoch gelegen, so hoch, dass man von dort neunzehn englische Grafschaften sehen konnte, und an klaren Tagen dreißig oder vielleicht vierzig, wenn das Wetter besonders gut war. Manchmal konnte man den Ärmelkanal sehen, Welle auf Welle folgend. Flüsse konnte man sehen, auf denen Ausflugsboote dahinglitten; und Galeonen, die in See stachen; und Kriegsflotten mit Rauchwolken, von denen man das dumpfe Donnern des Kanonenfeuers vernahm; und Forts an der Küste; und Schlösser in den Wiesen; und hier einen Wachturm; und dort eine Festung; und wieder ein riesiges Herrenhaus, gleich dem von Orlandos Vater, das zusammengedrängt wie eine Stadt von Mauern umgeben im Tal lag. Im Osten sah man die Türme Londons und den Rauch der Stadt; und vielleicht zeigten sich ganz fern am Horizont, wenn der Wind günstig stand, der schroffe Gipfel und die gezackten Kämme des Snowdon selbst gewaltig zwischen den Wolken. Einen Moment lang stand Orlando da und zählte, spähte, erkannte. Hier war das Haus seines Vaters; hier das seines Onkels. Seine Tante besaß jene drei großen Türme dort zwischen den Bäumen. Die Heide gehörte ihnen, und der Wald; auch der Fasan und das Wild, der Fuchs, der Dachs und der Schmetterling.
Er seufzte tief und warf sich – in seinen Bewegungen war eine Leidenschaft, die den Begriff verdient – auf die Erde...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2022 |
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Übersetzer | Marion Herbert |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 16. Jahrhundert • 2022 • Alexander Pope • Biographie • Booktok • Charlotte Brontë • dark academia • divers • eBooks • ein zimmer für sich allein • Emily Brontë • England • englische Weltliteratur • Feministische Literatur • frauenlesen • Frauen lesen • Geschlechtsumwandlung • Jane Austen • Konstantinopel • Lesenswerte Klassiker • Literarische Zeitreisen • Literatur Moderne • meine politische biografie • Mrs. Dalloway • Neuerscheinung • orlandesque • preciado • Queere Literatur • Rolle der Frau • Rolle des Mannes • Rollenverständnis • Transgender • Transpersonen • viktorianische Epoche • Vita Sackville-West • Weltfrauentag 2022 • Weltfrauentag Buch • Weltliteratur Frauen • wirlesenfrauen • Zeitreiseabenteuer • Zeitreisende |
ISBN-10 | 3-641-29236-0 / 3641292360 |
ISBN-13 | 978-3-641-29236-2 / 9783641292362 |
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