Talus - Die Magie des Würfels (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45891-4 (ISBN)
Liza Grimm studierte in München Germanistik und verliebte sich währenddessen in Geschichten. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Fantasy- und Science-Fiction-Lektorin, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Wenn sie gerade nicht schreibt, twittert sie leidenschaftlich gerne über ihren Hund oder redet auf Twitch über Bücher. Über ihre Social-Media-Kanäle erreicht sie über 100.000 Menschen.
Liza Grimm studierte in München Germanistik und verliebte sich währenddessen in Geschichten. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Fantasy- und Science-Fiction-Lektorin, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Wenn sie gerade nicht schreibt, twittert sie leidenschaftlich gerne über ihren Hund oder redet auf Twitch über Bücher. Über ihre Social-Media-Kanäle erreicht sie über 100.000 Menschen.
3
Die Großmeisterin
Mit einer einzigen Handbewegung brachte Jessica alle fünf Holzstücke dazu, parallel nebeneinanderzuliegen, ohne die Runenstäbe zu berühren. Ihre Großmeisterin nickte anerkennend.
»Sehr gut«, sagte sie und legte die grazilen Zeigefinger an die vollen Lippen.
Großmeisterin Michelle verkörperte alles, was Jessica sein wollte. Sie war hochgewachsen und schlank. Die langen goldenen Haare schienen achtlos in einen lockeren Knoten geschlungen, und trotzdem saß jede einzelne Strähne perfekt, betonte ihr fein geschnittenes Gesicht. Unter hohen Augenbrauen lagen grün glitzernde Augen. Michelle war wunderschön, fürsorglich, intelligent, stilvoll. Aber vor allem war sie eines: mächtig.
Der opulent eingerichtete Raum duftete nach Harz und Holz. Der Geruch stieg von mehreren kleinen Räucherschalen auf und legte sich auf die Möbelstücke. Ein golden gerahmter Spiegel buhlte ebenso um Jessicas Aufmerksamkeit wie der massive Holzschrank mit Elfenbeingriffen und die gerahmten Gemälde, die in verschiedenen Stilen eine einzige Person zeigten: Großmeisterin Michelle selbst. Ein Künstler hatte ihre markanten Gesichtszüge mit wenigen Kohlestrichen eingefangen, ein anderer hatte über dreißig Grüntöne verwendet, um ihrem Blick Tiefe zu verleihen. Am beeindruckendsten fand Jessica ein lebensgroßes Gemälde, auf dem Michelle einen bodenlangen dunkelgrünen Mantel mit goldenen Stickereien trug. Auf ihre ausgestreckte Hand waren mehrere Runen gezeichnet, die sich über ihr Handgelenk nach oben wanden und unter dem weichen Stoff verschwanden.
Es wirkte so echt, dass Jessica jedes Mal, wenn sie es betrachtete, damit rechnete, es blinzeln zu sehen. Mehr als einmal hatte sie Michelle gefragt, ob die Zeichnung mit Ölfarbe oder durch Magie entstanden war. Die Antwort war stets Lächeln und Schweigen gewesen.
Bei ihren Übungen saß Jessica auf einem bestickten Kissen auf dem Boden, Michelle thronte ihr gegenüber auf dem roten Sessel und überwachte jede ihrer Bewegungen mit akribischer Genauigkeit.
»Und was sagen sie dir?«, fragte Michelle mit ihrer sanften Stimme.
Jessica sah auf die Legung und unterdrückte ein Frösteln. Die Runen standen auf dem Kopf und zeigten damit dasselbe Bild wie jeden Tag in den letzten zwei Wochen. Eigentlich wollte sie wissen, wie Lu ums Leben gekommen war, aber die Runen weigerten sich, ihr eine klare Antwort zu geben. Lus Tod umgab ein Geheimnis, und Jessicas Schmerz verhinderte, dass sie es mithilfe ihrer Magie erforschte. Alles, was sie wusste, war, dass Lu ehrenhaft gestorben war. Was auch immer das bedeutete. Nicht einmal darauf gaben die Runen ihr eine Antwort.
In solch enttäuschenden Situationen fiel es Jessica noch immer schwer, ihre Gefühle zu verbergen. Dabei war das die oberste Regel ihrer Zunft: Eine Runenhexe offenbarte nie ihr Innerstes. Eine Regel, die sie in den letzten zwei Wochen häufiger gebrochen hatte. Vor Menschen, die ihr nahestanden, bröckelte Jessicas Fassade schon immer, und seit Lus Tod gelang es ihr noch viel seltener, vor der Welt ihren Kummer zu verbergen.
»Nichts Neues«, murmelte sie schließlich, atmete tief ein und fügte dann klarer hinzu: »Raidho steht auf dem Kopf. Meine Intuition ist fehlgeleitet, mein Egoismus hindert mich daran, das große Ganze zu sehen. Ich befinde mich auf dem falschen Weg.«
Sie schwieg, und Michelle lehnte sich interessiert nach vorne: »Weißt du denn mittlerweile, was die Runen dir damit sagen wollen?«
»Soll ich den nächsten Schritt …?«
Michelle nickte.
Mit einem tiefen Seufzer schloss Jessica die Augen, schob die Angst beiseite, hob die Hand und rief den Vortex – Daumen und Ringfinger aneinandergelegt, die Gedanken auf den mächtigen Strudel aus Magie gerichtet. Er gehorchte ihr sofort. Jessica öffnete die Augen, und orangefarbene Funken tanzten zwischen den Runenstäben und ihrer Hand umher. Mit aller Macht konzentrierte sie sich auf das, was Michelle ihr vor einer Woche beigebracht hatte: auf die Bilder, die der Vortex mit den Runen verknüpfte, wenn man nur tief genug in ihn eintauchte und sie nach oben zog. Schweiß tropfte ihren Rücken hinab. Die Magie in ihr brannte. Lus Tod. Sie musste wissen, was geschehen war.
Jessica tauchte tiefer in den Strudel, erkannte flimmernde Farben, undeutliches Rauschen. Sie atmete die Magie ein, spürte die Hitze in ihrer Lunge, ihrem Arm, ihren Fingern. In ihrem gebrochenen Herzen. Schmerz. Die Trauer packte sie mit kalten Klauen, vernebelte die Bilder, färbte den Vortex grau und verschloss den Zugang zu der tiefsten Ebene.
Jessica ließ die Hand sinken, die Magie erlosch.
»Die gesammelte Macht der Runen offenbart sich erst, wenn du diese Technik beherrscht«, erklärte Michelle. »Vielleicht bist du noch nicht so weit.«
»Vielleicht werde ich das niemals sein.«
Michelles Stimme wurde noch weicher: »Vielleicht ist heute einfach nicht der richtige Tag dafür.« Sie lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere. »Ich wünsche dir viel Kraft.«
»Vielen Dank«, sagte Jessica und wedelte mit ihrer Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. Die Runen klackerten über den hellen Holzboden und sammelten sich in einem speckigen Lederbeutel. Jessica stand auf und nahm ihn an sich. Er war ungefähr halb so groß wie ihre Hand und an einem schwarzen Lederband befestigt, das sie sich um den Hals legte. Dann versteckte sie den Runenbeutel unter ihrer schwarzen Tunika, deren V-Ausschnitt mit Spitze versehen war.
Er schmiegte sich gewohnt warm an ihre Haut. Jessica verbeugte sich vor ihrer Großmeisterin, die diese Geste mit einem leichten Nicken erwiderte, und schritt auf die mit feinen Schnitzereien verzierte Tür zu. Es würde noch lange dauern, bis sie alle Zauber, die in das Holz eingelassen waren, identifizieren konnte.
Sobald sie in den Tunnel der Unterwelt trat, wo es merklich kühler als in Michelles Domizil war, traf die Welle der Enttäuschung sie mit voller Härte. Wieso gelang es ihr nicht, die Vortexlegung zu erlernen?
Eigentlich sollte diese Art des Runenlesens gar nicht Teil ihrer Ausbildung sein. Sie galt als besonders schwierig und deshalb den mächtigsten Runenhexen vorbehalten: Denn mit ihr war es möglich, die von den Runen gezeigte Zukunft zu konkretisieren, abstrakte Metaphern zu echten Bildern zu machen. Bei einer normalen Runenlegung gab es viel Spekulation, aber durch die Vortexlegung wurden sämtliche Spielräume ausgeräumt. Als würde man einen Film über die Zukunft abspielen. Bewegte Bilder, mit Magie in die Luft gemalt.
Kaum eine Runenhexe beherrschte diese Technik, nicht einmal Michelle konnte den Vortex dazu bringen, akkurate Bilder zu zeigen.
Für Hexen war es gefährlich, ihre Magie zu überanstrengen, denn es bestand die Gefahr, dass sie dadurch den Zugang zum Vortex verloren. Magie war ein Muskel, der Training erforderte – und ein Muskel konnte irreparabel geschädigt werden, wenn man ihn zu stark beanspruchte. Die Vortexlegung war enorm anstrengend, dennoch forderte Michelle Jessica seit neun Wochen dazu auf, an ihre Grenzen zu gehen. Darüber hinaus. So, wie auch Lu es immer von ihr gefordert hatte.
Lu. Bilder blitzten vor Jessica auf. Lus hoffnungsvoller Blick, ihre ineinander verschränkten Hände. Dein Herzenswunsch wird sich nur erfüllen, wenn du opferst, was du liebst. Die letzten Worte, die sie Lu wie ein Urteil entgegengeschmettert hatte.
Sie wünschte, sie hätte sich verabschiedet, aber der Runenwurf hatte sie damals verunsichert, ja sogar wütend gemacht. Sie hatte nicht fassen können, dass Lu – ihre kämpferische, selbstlose Lu – wirklich alles opfern würde, um ihren Herzenswunsch zu erreichen. Vor allem hatte es Jessica verletzt, dass sie Lus wahren Herzenswunsch nicht kannte und dass Lu ihr in diesem – ihrem letzten – Gespräch Dinge verschwiegen hatte. Zwischen ihnen hatte es in all den Jahren nie Geheimnisse gegeben, und sie waren verdammt stolz auf ihre Offenheit gewesen. Aber dann war diese Unterhaltung voller Schweigen und Misstrauen gekommen, und jetzt war Lu tot, sodass Jessica niemals die ganze Wahrheit erfahren würde. Der Schmerz saß tief, und gleichzeitig hasste Jessica sich dafür, dass sie wütend auf ihre tote Freundin war. Lu verdiente keine Wut, und trotzdem brannte der Verrat heiß in Jessicas Herz und vergrößerte den Schmerz über den Verlust.
Gleichzeitig war sie froh, wieder etwas zu fühlen. Als sie von Lus Tod erfahren hatte, war tagelang nichts als eisige Leere in ihr gewesen. Kälte und die Weigerung, Lus Tod mit der Realität in Einklang zu bringen. Bis es sie vor etwa einer Woche auf dem Weg zu Großmeisterin Michelle mit voller Wucht getroffen hatte und sie weinend mitten in der Unterwelt zu Boden gesunken war. Schmerz. Heißkalt brennend in ihrem ganzen Sein.
Energisch verbannte Jessica ihre dunklen Gedanken und lief los, vorbei an den unzähligen Türen, die den Gang säumten. Jede von ihnen führte in eine eigene kleine Welt. Als Runenhexe konnte sie einige der magischen Symbole zuordnen, die in hölzerne Türen geschnitzt und in steinerne Bögen gemeißelt waren. Mit ihnen hatte der Runenzirkel einst die Unterwelt erschaffen, doch dieses Wissen war schon lange verloren. Heute wirkten sie Schutzzauber und Zukunftsweisungen. Sie waren Schöpfer magischer Artefakte, hoch angesehen, aber bei Weitem nicht mehr so mächtig wie noch vor vielen Hundert Jahren.
Früher einmal hatte sich Jessica nichts mehr gewünscht, als diese alten Geheimnisse wieder zu entdecken und der Unterwelt zurückzugeben, was sie verloren hatte. Aber das hatte sich geändert. Auch wenn die neuen Umstände diesen Wunsch eigentlich mehr rechtfertigten als je...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2021 |
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Reihe/Serie | Die Hexen von Edinburgh | Die Hexen von Edinburgh |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Artefakt • Bestimmung • Edinburgh • Fantasy-Abenteuer • Fantasy Bücher Erwachsene • Fantasy Hexen • Fantasy junge Erwachsene • Fantasy Magie • Fantasy Reihe • Fantasy Romane • fantasy romane für erwachsene • Fantasy Serie • Geister • Hexe • Hexen • Hexen Bücher Fantasy • hexen roman • hexen romane • Hexer • Liza Grimm • Magie • Magier • magischer Würfel • Mystik • roman magie • Schicksal • Schottland • Talus • Tarot • Urban Fantasy • Wicca • Wicca-Kult • Wünsche • Wünsche erfüllen |
ISBN-10 | 3-426-45891-8 / 3426458918 |
ISBN-13 | 978-3-426-45891-4 / 9783426458914 |
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