Die Affäre Calas (eBook)

Über die Toleranz

(Autor)

Ingrid Gilcher-Holtey (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
296 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77103-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Affäre Calas -  Voltaire
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Als Voltaire 1778 starb, verweigerte man ihm ein Grab in seiner Geburtsstadt Paris: Er hatte in seinen literarischen und philosophischen Schriften den Kampf gegen die Doppelmacht von Monarchie und (katholischer) Kirche mit radikalster Konsequenz geführt. Während der Französischen Revolution, im Juli 1791, wurde sein Sarkophag dann im Triumphzug ins Panthéon gebracht. Zu den »Unsterblichen« erklärt wurde dadurch der Streiter für Recht und Gerechtigkeit - und als erstes unter seinen Verdiensten rangierte sein Eintreten für Jean Calas. Dieser hugenottische Kaufmann aus Toulouse wurde 1761 zum Tode verurteilt, weil man ihn fälschlicherweise des Mordes an seinem Sohn bezichtigt hatte: Das Motiv dafür war angeblich dessen beabsichtigter Übertritt zur katholischen Kirche.
Durch seine Flugschriften, Pamphlete und Denkschriften, Briefe an Minister und Richter gelingt es Voltaire, die Rehabilitierung von Jean Calas zu erreichen. In Deutschland ist diese Leistung Voltaires bisher kaum gewürdigt worden.
Durch die vorliegende Zusammenstellung der wichtigsten Stellungnahmen Voltaires (neben der Abhandlung über die Toleranz die zahlreichen Pamphlete und Briefe des Autors) zur Aufklärung eines Justizskandals wird zum ersten Mal der Intellektuelle Voltaire im deutschen Sprachraum prototypisch und detailliert vorgestellt - und damit der erste europäische Intellektuelle überhaupt, der deren späteren Interventionensmuster vorzeichnet.



Voltaire (1694-1778) war einer der einflussreichsten französischen Philosophen. Mit seinen Werken zur Vernunft und zur Toleranz bereitete er den Weg für die Französische Revolution. Er gilt als der bedeutendste Protagonist der europäischen Aufklärung.

I. BRIEFE

AN KARDINAL FRANÇOIS-JOACHIM DE PIERRE DE BERNIS

Ferney, 25. März 1762

Gestatten Sie, Monseigneur, daß dieser alte Tintenkleckser Ihnen sehr aufrichtig für das Vergnügen dankt, das er gehabt hat. Ohne Eure Hilfe, ohne Eure Ratschläge, wäre mein sechstägiges Werk immer noch im Durcheinander. Gestatten Sie, daß ich Ihrer Eminenz die kleine historische Erzählung zur Lektüre unterbreite, die ich dem Grafen von Villars gesandt habe. Wenn Sie sie gelesen haben werden, falls Sie denn solches Zeug zu lesen geneigt sind, wird ein wenig Wachs unter dem Siegel eines Ihrer Sekretäre das Paket der Post würdig machen. So sind die seltsamen Unterhandlungen, die ich Ihnen anvertraue.

Alle Ihre Ratschläge sind mir von Nutzen, ich lasse es mir gutgehen, vielleicht ein wenig zu gut, denn es paßt nicht zu mir, für zweihundert Personen ein Souper zu veranstalten. Ich besaß diese Frechheit. Nota bene, hatten wir zwei schöne vergitterte Logen. In Arques haben wir gekämpft, wo war der tapfere Crillon? Warum war er in Montélimar?

Wünschen Sie, falls Sie sich zu amüsieren gedenken, daß ich Ihnen Le Droit du Seigneur zusende?1 Es ist heiter und von lauterer Gesinnung; man kann diese Kleinigkeit einem Kardinal zusenden. Ich sage nicht, allen Kardinälen, Gott behüte: Pauci quos aequus amavit Jupiter.

Ich habe noch hinzuzufügen, daß ich mir sehr den Hinweis, den Sie mir geben, zu eigen gemacht habe, überhaupt nicht oder nur selten jene Bücher zu lesen, in denen Grafen und Bourgeois den Staat regieren. Kennen Sie, Monseigneur, die dänische Komödie Der politische Kannengießer?2 Es handelt von einem Zinkgießer, der seine Drehbank aufgibt, um das Glücksrad zu drehen und Europa in Ordnung zu bringen. Man stiehlt ihm sein Geld, seine Frau, seine Tochter, und er kehrt wieder zu seinen Zinkgefäßen zurück.

Darf ich es, ohne meine Zinkgefäße zu verlassen, wagen, Eure Eminenz darum zu bitten, mir mitteilen zu wollen, was ich zu halten habe von der scheußlichen Geschichte jenes Calas, den man in Toulouse gerädert hat, weil er seinen Sohn erhängt hat? Hier behauptet man, daß er völlig unschuldig ist und daß er beim Sterben Gott als seinen Zeugen angefleht hat. Man behauptet, daß drei Richter sich gegen das Urteil ausgesprochen haben: Dieses Schicksal geht mir zu Herzen; es stimmt mich traurig bei meinen Vergnügungen; es verdirbt sie. Man muß entweder das Parlament von Toulouse3 oder die Protestanten voller Abscheu betrachten. Ich würde dennoch lieber wieder gerne Cassandre spielen und meine Felder bestellen.

Oh! Welch gute Entscheidung habe ich getroffen!

Die Maus, die sich in den Gruyère-Käse zurückgezogen hat, wünscht Eurer liebenswerten Eminenz alle Freuden aller Arten, die Euch gefallen; er ist von der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung für Euch durchdrungen.

AN CHARLES-AUGUSTIN FERRIOL, GRAF VON ARGENTAL, UND AN JEANNE-GRACE BOSC DU BOUCHET, GRÄFIN VON ARGENTAL

Ferney, 27. März 1762

Sie werden mich, meine göttlichen Engel, fragen, warum ich mich so sehr bemühe um jenen Calas, den man gerädert hat. Weil ich ein Mensch bin, weil ich feststelle, wie aufgebracht die Fremden sind, weil alle Eure protestantischen Schweizer Offiziere erklären, sie würden nicht entschlossenen Herzens für eine Nation kämpfen, die einen ihrer Brüder ohne irgendeinen Beweis rädern läßt.

Ich habe mich in meinem Brief an Monsieur de La Marche über die Zahl der Richter getäuscht. Es waren dreizehn, fünf haben beständig Calas für unschuldig erklärt. Hätte es eine Stimme mehr zu seinen Gunsten gegeben, wäre er freigesprochen worden. Wovon hängt also das Leben der Menschen ab? Wovon hängen die fürchterlichsten Strafen ab?

Also, da sich kein sechster verständiger Richter gefunden hat, hat man einen Familienvater zum Rad verurteilt? Hat man ihn angeklagt, den eigenen Sohn erhängt zu haben, während seine vier anderen Kinder erklären, er sei der beste aller Väter? Wiegt der Augenzeugenbericht dieses Unglücklichen nicht schwerer als das Trugbild von acht Richtern, welche die Bruderschaft der weißen Büßermönche angestachelt haben und die die Toulouser Geister gegen einen Calvinisten aufgebracht hat? Dieser arme Mann erklärte auf dem Rad, daß er unschuldig ist, er vergab seinen Richtern, er beweinte seinen Sohn, den er angeblich zu Tode gebracht hat. Ein Dominikaner, der zu seiner Hilfe bestallt war, sagte, daß er eines genauso gottseligen Todes sterben möchte, wie er gestorben ist. Es steht mir nicht zu, das Parlament von Toulouse zu verurteilen, doch es bleibt, daß es keinen Zeugen durch Augenschein gibt. Der Fanatismus des Pöbels konnte bis zu den voreingenommenen Richtern vordringen. Mehrere von ihnen waren weiße Büßermönche. Sie können sich getäuscht haben. Gehört es nicht zur Justiz des Königs und seiner Umsicht, sich zumindest die Gründe für das Urteil vortragen zu lassen? Allein dieses Vorgehen tröstete die Protestanten in Europa und besänftigte ihre Entrüstung. Wollen wir uns wirklich verhaßt machen? Können Sie nicht den Graf de Choiseul dazu bewegen, sich über dieses schreckliche Schicksal zu unterrichten, das die menschliche Natur entehrt, entweder weil Calas schuldig ist oder weil er unschuldig ist? Fürchterlichen Fanatismus gibt es sicher auf der einen Seite wie auf der anderen, und es ist nützlich, zur Wahrheit vorzudringen.

Tausendfach meine liebevolle Hochachtung.

V.

AN ÉTIENNE-NOËL DAMILVILLE

4. April 1762

Meine lieben Brüder, es hat sich als wahr erwiesen, daß die Toulouser Richter den Unschuldigsten der Menschen gerädert haben. Fast das gesamte Languedoc klagt darüber. Die fremden Nationen, die uns hassen und die uns bekämpfen, empören sich. Seit der Bartholomäusnacht hat nichts die menschliche Natur derart entehrt. Rufen Sie, und man rufe. Hier ein kleines Werk, an dem ich nur dadurch beteiligt, als ich eine Seite mit unverdientem Lob, das man mir dort gab, weggelassen habe. Ich wäre sehr wütend, wenn man glaubte, ich hätte davon auch nur die geringste Kenntnis besessen; aber es würde mich freuen, wenn es erschiene, weil es von Anfang bis Ende die genaueste Wahrheit enthält und weil ich die Wahrheit liebe. Man muß sie bis in die kleinsten Dinge kennen. Man braucht es nur Granger oder Duchesne zum Druck zu geben. Ich werde Ihnen heute nichts über dieses in sechs Tagen fertiggestellte Werk heidnischer Frömmigkeit berichten. Es gibt über Cassandre so viele Dinge zu sagen, daß ich nur eins sage. Man schafft in sechs Tagen das Durcheinander, und anschließend bearbeitet man seine Schöpfung. Man muß sein geringes Talent bis zur letzten Stunde pflegen.

Ich bin besorgt wegen Martinique und meinen Ausschweifungen. Wir sind höchst töricht und höchst fanatisch, aber die komische Oper macht alles wieder gut. Ich danke Gott, mir einen Bruder wie Sie gegeben zu haben.

AN EINE UNBEKANNTE EMPFÄNGERIN

Les Délices, 15. April 1762

Es ist wahr, Mademoiselle, daß ich in einem Antwortschreiben an Monsieur de Chazel diesen um Aufklärungen gebeten habe über das schreckliche Schicksal von Calas, dessen Sohn meine Schmerzen in gleicher Weise wie meine Neugier angestachelt hat. Ich habe Monsieur de Chazel von den Gefühlen und Gerüchten sämtlicher Ausländer, die in meiner Umgebung leben, berichtet. Aber ich kann ihm nicht meine Ansicht von dieser grausamen Angelegenheit dargelegt haben, denn ich habe keine darüber. Ich kenne nur die Streitschriften zu seinen Gunsten, und das reicht nicht aus, um es zu wagen, Partei zu ergreifen.

Ich wollte mich in der Eigenschaft eines Historikers kundig machen. Ein dermaßen entsetzliches Ereignis wie das einer ganzen Familie, die eines Sohnesmordes aus religiösem Eifer beschuldigt wird; ein Vater, der sein Leben auf dem Rad aushaucht, weil er seinen eigenen Sohn mit den Händen erwürgt hat wegen des bloßen Verdachts, daß dieser Sohn die Meinungen des Johannes Calvin aufzugeben gedachte; ein Bruder, auf das schwerste beschuldigt, dabei geholfen zu haben, seinen Bruder zu erwürgen; die Mutter angeklagt; ein junger Anwalt verdächtig, als Henker mitgewirkt zu haben an dieser Hinrichtung sondergleichen: dieses Ereignis, sage ich, bildet einen wesentlichen Bestandteil der Geschichte des menschlichen Geistes und zur umgreifenden Darstellung unserer Leidenschaften und unserer Schwächen, von denen ich bereits einen Umriß gegeben habe.

Ich bat also Monsieur de Chazel um Unterrichtungen, aber ich erwartete nicht, daß er meinen Brief zeigen sollte. Wie dem auch sei, ich wünsche weiterhin mit Nachdruck, daß das Parlament von Toulouse geruhen möge, den Prozeß von Calas öffentlich zu machen, in der gleichen Weise, wie man denjenigen von Damiens veröffentlicht hat. Man stellt sich über die üblichen Verfahren in solch außergewöhnlichen Fällen....

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Nachwort Ingrid Gilcher-Holtey
Sprache deutsch
Original-Titel L'affaire Calas
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 18. Jahrhundert • Affäre • Briefe • Calas • Denkschrift • Flugschrift • Frankreich • Pamphlet • Rehabilitierung • Stellungnahme • Voltaire
ISBN-10 3-458-77103-4 / 3458771034
ISBN-13 978-3-458-77103-6 / 9783458771036
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