Ziemlich tote Dinge - Kristen Arnett

Ziemlich tote Dinge (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
432 Seiten
Ecco Verlag
978-3-7530-5007-2 (ISBN)
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Zutiefst morbide, skurril-komisch und voller Wärme
Beim Betreten des Tierpräparationsgeschäfts ihrer Familie in Florida findet Jessa-Lynn Morton ihren Vater eines Morgens tot auf - er hat Selbstmord begangen. Obwohl sie unter Schock steht, muss Jessa in der kommenden Zeit versuchen, den Ruin des Geschäfts abzuwenden.
Alle Familienmitglieder gehen auf ihre eigene Weise mit dem Verlust um. Jessa trinkt zu viel billiges Bier. Ihre Mutter inszeniert die ausgestopften Tiere in absurden Posen im Schaufenster. Ihr Bruder Milo zieht sich ganz zurück. Und Milos Frau Brynn - die einzige Person, die Jessa je geliebt hat - verschwindet ohne ein Wort des Abschieds. Dann eskaliert das Kunstprojekt ihrer Mutter völlig - unter anderem gipfelt es in einem ausgestopften Büffel in einer sexuell anzüglichen Stellung. Wie soll diese Familie je wieder zusammenfinden?
Das tragikomische Porträt einer Familie, die um ihre Lebenden und ihre Toten trauert und daran fast zerbricht.

»[...] Viel Herzenswärme und Intelligenz. Mit ihrem Romandebüt hat Kristen Arnett eine sehr eigenwillige, aber auch sehr lesenswerte Familiengeschichte geschaffen.« Yannic Niehr, Belletristik-Couch, 26.10.2021



Kristen Arnett ist eine queere Autorin, die 2017 für ihren ersten Erzählungsband den Coil Book Award gewann. Ihre Essays und Erzählungen sind in diversen Zeitschriften erschienen. Der New York Times-Bestseller »Ziemlich tote Dinge« ist ihr erster, von der Presse hochgelobter Roman.

WEISSWEDELHIRSCH – DERMATOFIBROM BEIM SCHALENWILD

So durchtrennen wir die Haut:

vorsichtig, das versteht sich von selbst. Präzise schneiden klingt, als wäre es dasselbe, doch das stimmt nicht. Stellen Sie sich vor: Sie haben das Fleisch einer Mango für eine Schüssel Obstsalat von Schale und Kern getrennt. Sind Sie dabei sorgfältig vorgegangen und haben das süße gelbe Fleisch erhalten, oder haben Sie es mit der klinischen Distanz eines Chirurgen getan?

Es braucht ein bisschen Zärtlichkeit. Ein bisschen Liebe.

Worte unseres Vaters, als er sein Messer in die Haut eines Weißwedelhirschs versenkte. Das war ungewöhnlich. Normalerweise durften wir nie nah an den Tisch ran, wenn er arbeitete.

Du musst es wollen. Er zeigte auf die Kehle, klopfte leicht mit der Fingerspitze drauf. Du fängst unter dem Halscape an, hier. Als würdest du den Reißverschluss einer Jacke aufziehen.

Milo und ich drängten uns auf je einer Seite an den Metalltisch, während unser Vater behutsam den Körper öffnete, seine Hände in den blauen Handschuhen bewegten sich ruhig, als entbände er ein Kind. Wir waren neun und zehn, das Geschäft mit den Tieren war unser persönlicher Spielzeugladen. Andere Kinder hatten Plüschtiere; wir hatten präparierte Glattechsen, auf Trägerbrettchen gesetzte Barsche und Geweihe mit Lasurbeschichtung.

Jetzt macht mal ein bisschen Platz, Kinder.

Wir traten jeder einen halben Schritt zurück, rückten nach ein paar Sekunden wieder näher. Der Hirsch war riesig, ich hatte aber schon größere gesehen. Er war bereits ausgeblutet und lag schlaff da, die Beine von sich gestreckt wie eine zerlegte Puppe. Es war ein Neunender, und der Mann, der ihn uns gebracht hatte, ein Stammkunde, jemand, mit dem mein Vater manchmal ein Bier im Wohnzimmer trank.

Warum der ganze Hirsch? Hier ging es nicht nur um eine kleine Kopftrophäe – das gesamte Tier sollte aufgesetzt werden: Brust, Hintern, Beine. Mir war unbegreiflich, wieso jemand das ganze Ding als Trophäe behalten wollte; die meisten Jäger ließen nach dem Aufbrechen die Eingeweide einfach im Wald verrotten.

Die Augen unseres Vaters strahlten vor Aufregung. Für ihn war das eine neue Herausforderung, eine Möglichkeit, seine Arbeit kreativ zu gestalten. Er summte leise vor sich hin. Ich hätte gern gesungen.

Die brummende Klimaanlage kühlte den Raum, aber es war noch feucht genug, dass mir Schweiß über der Lippe stand. Das Schild vor dem Laden war so groß und gelb wie früher, als mein Großvater das Geschäft führte: MORTON’S TAXIDERMY (& MORE). Auf der Markise wurden Sonderangebote angepriesen, alles, was in der Woche gerade im Überschuss vorhanden war: Schweineohren, Hirschgeweihe, Kaninchenfelle.

Unser Vater schaute uns beim Sprechen nicht an, seine Stimme glich einem leisen Summen in meinem Hirn. Der Kunde merkt, wenn man nicht mit Fingerspitzengefühl an die Sache geht. Dann sieht es nicht echt aus.

Auf dem Boden standen Eimer für Innereien, die die Kunden noch nicht entfernt hatten, weiße Plastikkübel, in denen früher mal Gewürzgurken in gelber Lake lagen. Manche Innereien hoben wir auf, andere nicht, wir sorgten aber immer dafür, dass der Boden sauber war. Der Geruch von Bleiche hing in meinem wuscheligen dunklen Haar, obwohl meine Mutter mir einen Zopf geflochten hatte.

Milo und ich trugen alte Supermarktschürzen, wie die Jungen, die bei Publix an der Kasse beim Einpacken halfen, an Hals und Rücken mit Doppelknoten gebunden. Obwohl ich ein Jahr älter war, überragte mich Milo um einen halben Kopf – er war größer als alle in der vierten Klasse. Wir beugten uns näher zu unserem Vater und versuchten die Bewegungen des Messers zu verfolgen, bis er sich räusperte und wir beide wieder einen Schritt zurücktraten. Er trug eine schwarze Gummischürze, die er immer am Waschbecken hinten mit Geschirrspülmittel mit Zitronenduft abspülte und von den Resten unserer täglichen Autopsien befreite. Unsere Mutter wusch unsere und hängte sie vorne in den Schrank, zu den schmutzigen Turnschuhen, Regenmänteln und eingemotteten Pullovern, die wir nur einmal im Jahr trugen.

Jessa-Lynn, halte den Hals fest. Ich ging um den Tisch herum nach vorne und grub meine Hände in das Fell, bis die Sehnen unter meinen Fingern nachgaben. Ich wehrte mich gegen den Drang, noch tiefer zu massieren und mit den Händen wie eine Spinne an den Rippen der Luftröhre nach oben zu wandern und das Maul zu umfangen.

Jetzt komm her, mein Junge. Er wird dich nicht beißen.

Über die flauschige Hirschwange hinweg beobachtete ich, wie Milo das zweischneidige Skalpell von meinem Vater entgegennahm. Auf dem Tisch daneben lag die halbmondförmige Klinge zum Entfleischen, mit der er die feuchten Gewebeteile und Fettstückchen von der Haut schaben würde. Das Licht spiegelte sich in der Klinge und blitzte silbrig unter den Leuchtstofflampen an der getäfelten Decke.

So? Milo umklammerte das Skalpell wie einen angespitzten Stock, als müsste er etwas aushöhlen und verstümmeln. Er ruckelte und ließ fast den Griff los, als er die Hirschhaut durchtrennte.

Ich zeige es dir. Du musst das Handgelenk beugen. Dann drückst du gleichmäßig, langsam. Nicht zu tief.

Bevor ein Tier präpariert wurde, gab es einige Vorarbeiten. Unser Vater würde den Hirsch häuten und das Skelett genau begutachten. Er würde sehen, wo das Einschussloch war, wie er den Körper des Tiers rekonstruieren musste, mit dicken Polstern aus Wolle und Füllmaterial und mit starken Drähten, um ihm die gewünschte Haltung zu geben. Die meisten Präparationsstudios arbeiteten grundsätzlich mit vorgefertigten Modellen und Kunststoffformen, mein Vater jedoch schuf lieber seine eigenen – auch wenn das hieß, dass jedes Stück zwei Wochen länger dauerte als bei der Konkurrenz. Kunden, die etwas Spezielles wollten, zahlten gern für den zusätzlichen Aufwand, allerdings waren die meisten nicht auf die Kunst aus, die mein Vater beim Präparieren ihrer getöteten Beute anstrebte. Dad war das egal; er steckte die Zeit trotzdem rein. Selbst wenn er dabei draufzahlte.

Da ist eine knorpelige Stelle, du musst fester drücken.

Unserem Vater zufolge wünschten sich die Kunden ihre Tiere in einer gebieterischen Pose. Die meisten waren Jäger, und wenn sie sich dafür entschieden, ihre erlegte Beute präparieren zu lassen, sollte sie am Ende möglichst überlebensgroß sein, als ob das Stück wieder lebendig werden und angreifen könnte. Sie wollten eine größere, stärkere, muskulösere Trophäe. Unsere Aufgabe war es, ihren Wunsch zu erfüllen, auch wenn sie das Tier beim Wühlen in einer Mülltonne von hinten erschossen hatten.

Milo schwitzte durch den Hals seines T-Shirts. In der Werkstatt hinter unserem Laden war es kühl, so um die fünfzehn Grad, um den unvermeidlichen Verwesungsgestank wenigstens etwas fernzuhalten, aber mein Bruder sah aus, als wäre er gerade vom Spielplatz hereingerannt. Ich bin mir nicht sicher. So? Er zog das Messer hoch – der Schnitt verwarf sich, weil er zu schnell machte. Die Haut riss mit einem unschönen Knirschen. Tut mir leid, tut mir leid!

Mein Vater nahm brummend Milos Hand und führte sie wieder an die Arbeit. Das wirst du nähen müssen, aber erst nach dem Gerben, sonst würde sich die Naht verziehen.

Entschuldigungen machten das Fell nicht heil. Es würde immer eine Narbe bleiben, die genauso wenig zu dem Tier passte wie das große Einschussloch hinter seinem Ohr mit dem Haarbüschel darin. Gerissene Häute waren nicht ideal, aber es gab Möglichkeiten, Schäden zu kaschieren: mit Schlammflecken an einem Knöchel oder mit Fell, so gekämmt, dass es Muskelmasse unter der Haut suggerierte. Ich fuhr mit den Daumen am Hals entlang bis zu der weichen Stelle mitten in der Kehle. Das weiße Haar dort war in einem ovalen Büschel gewachsen, umgeben von dem dickeren, glatten Fell auf seinem Rücken – dem dichten Fell, das ihnen selbst in Florida für den Winter wuchs. Normalerweise spannte mein Vater das Hirschgeweih in einen der Wildgalgen, die an Deckenschienen hingen. Bisher hatte er uns weder so in seine Arbeit einbezogen, noch hatten wir seine Werkzeuge benutzen oder in eines der wertvollen Felle seiner Kunden schneiden dürfen.

Hier. Fest drücken, gleich unterhalb des Fesselgelenks. Du musst mit einer löffelnden Bewegung arbeiten, als würdest du Segeltuch aufreißen. Das Messer muss eine Verlängerung von deinem Arm werden.

Bei der Schnittführung unseres Vaters sah man keine Nähte. Er machte das jetzt seit fast dreißig Jahren, eine Zeit lang zusammen mit seinem Vater, der in dem Jahr gestorben war, als Milo geboren wurde. Auf Fotos sah unser Großvater wie eine härtere, ältere Version meines Vaters aus: grauhaarig, tätowiert und im T-Shirt, ein Mann, der nur lächelte, wenn er den Mund dehnen wollte. Sein Bild befand sich immer noch vorne im Laden, neben der Kasse. Es stand zwischen dem Berglöwen, den er geschossen und präpariert hatte, und einer Tafel mit dem Aufdruck Tierpräparatorenpreis von Mittelflorida: Erster Platz, und darunter Jahreszahlen, die bis 1968 zurückreichten.

Milos Klinge wurde langsamer. Am rechten Hinterbein war er auf eine Blockade gestoßen. Mein Vater nahm meinem Bruder das Skalpell ab und ging in die Hocke, um sich die Sache anzusehen, dann hob er den Kadaver an und drehte ihn geschickt um. Eine Hand zog die Haut straff, während die andere das Messer unter...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2021
Übersetzer Brigitte Jakobeit
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Original-Titel Mostly Dead Things
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Bücher romane • Die Vegetarierin • Familie • Familienroman • Florida • Geschwister • Han Kang • Komödie • Lauren Groff • Liebe • Literatur • Mostly Dead Things • New-York-Times-Bestseller • Roman • Selbstmord • Tragikomödie • Tragödie • Trauer • Verlust
ISBN-10 3-7530-5007-5 / 3753050075
ISBN-13 978-3-7530-5007-2 / 9783753050072
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