Geschichte Skandinaviens (eBook)
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76111-9 (ISBN)
Harm G. Schröter, Prof. Dr. phil., lehrt Geschichte an der Universität Bergen (Norwegen).
1. Von der Steinzeit zum Mittelalter
Stein – Bronze – Eisen
Ganz Nordeuropa (inkl. Island) war während der letzten Eiszeit (18.000 v.Chr.) vergletschert. Sobald jedoch das Eis zurückwich, drangen Rentierjäger der «Hamburger Kultur» nach Jütland ein. Man darf also als Regel festhalten: Der Norden ist seit vielen tausend Jahren bevölkert. Es sind unterschiedliche Regionalkulturen bis in die entlegensten Gebiete nachweisbar; so z.B. die mittelsteinzeitliche «Komsakultur», die sich von Tromsø bis Murmansk ausbreitete. Weiter sind mehrere Einwanderungswellen festzustellen, von denen hier nur einige genannt werden: In der Jungsteinzeit drangen von Süden Träger der «Trichterbecherkultur» ein, welche einen Kulturkreis bildeten, der sich vom Oslofjord und Südschweden über den niedersächsischen Raum bis nach Polen und die Slowakei erstreckte. Die neolithische Revolution, der Übergang vom Jäger- und Sammlerdasein zum Ackerbau, vollzog sich schrittweise. Megalithgräber bezeugen kulturellen Kontakt zu England und Frankreich, sogar bis zum Mittelmeer. Gleichzeitig sind sie ein Indikator für gefestigte Gruppenstrukturen, ohne die die gewaltigen Steine nicht hätten bewegt werden können. Dagegen erstreckte sich im Osten die «kammkeramische Kultur» von Ostpolen über das Baltikum und Finnland bis nach Mittelschweden. In der jüngeren Bronzezeit kamen die «Bootaxtleute» aus dem Baltikum, sodass man über lange Zeiträume vielfältige Einwanderungen nachweisen kann. Archäologen sprechen von einem Nordeurasischen Kulturkreis, der sich von Skandinavien über Nordrussland bis nach Sibirien erstreckte. Gleichzeitig gab es viele regionale Variationen. So fand man z.B. die Luren (große, kunstvolle Blechinstrumente) nur in Dänemark. Die vielfach verschlungenen Linien und Tierfiguren sind als Grundmotiv vor allem aus dem germanischen Bereich überliefert. Wie die Stabkirchen zeigen, wurde dieser Stil bis weit in die christliche Zeit hinein gepflegt. Solche enormen Fernwirkungen gab es nicht nur in zeitlicher Dimension, sondern auch in geografischer Hinsicht. Dies weisen z.B. tönerne Hausurnen aus Etrurien (Italien) nach. D.h., der Norden war nie isoliert, wenn auch die Interaktionsdichte mit der Entlegenheit nachließ. Hier finden wir eine Grundkonstante der nordischen Geschichte; abgesehen von den Perioden der Wikingerzeit und der schwedischen Großmachtphase spielte der Norden immer eine periphere Rolle. Er hat mehr Anregungen aufgenommen, als dass er durch eigene Züge prägend auf andere einzuwirken vermochte.
Die Eisenzeit dauerte im Norden von ca. 400 v. bis 400 n.Chr. Hierfür ist die weitere Ausbreitung des Ackerbaus belegt. Schon um 100 v.Chr. waren die besten Böden in Südnorwegen, Südschweden und Dänemark dicht besiedelt, und es existierte ein lebhafter Handel mit dem Römischen Reich. In diese Zeit fällt die erste Auswanderungswelle, die Goten verließen Schweden, die Kimbern und Teutonen wanderten aus ihrer dänischen Heimat aus und bedrohten Rom. Die aus dem Wolgagebiet stammenden Finnen siedelten sich in Südfinnland an. Das germanische Siedlungsgebiet dehnte sich bis nach Nordnorwegen aus, während nach Finnland gleichzeitig eine baltische Bevölkerung vorrückte. Hier deutet sich eine zweite Konstante an: Der Norden war trotz vielfältiger Ähnlichkeiten zu keiner Zeit homogen. Ähnlich heißt eben nicht gleich, bei näherer Betrachtung treten vielfältige Differenzen zu Tage.
Zur Zeit von Christi Geburt lebte die Bevölkerung vor allem vom Ackerbau, in den höher oder nördlicher gelegenen Gebieten jedoch hauptsächlich von der Viehzucht. Jagd und vor allem Fischfang ergänzten die Nahrung regelmäßig. Während die frühere Forschung herausstellte, dass patriarchalische Familiengemeinschaften Besitzer des Bodens waren, welcher von freien Bauern, die Kriegsdienst leisteten, bearbeitet wurde, betont die neuere Forschung einen starken aristokratischen Charakter der Gesellschaft. Eine Adelsschicht hatte sich früh herausgebildet; auch wurden Sklaven gehalten. Zumindest in der Wikingerzeit bildeten die Sklaven einen verachteten Stand, obwohl infolge von Kriegen oder Überfällen durchaus Adlige unter ihnen sein konnten. Sklaven konnten freigelassen oder freigekauft werden.
Ab ca. 200 v.Chr. sind Runen als Schriftzeichen überliefert, die aber nur von wenigen Eingeweihten gelesen werden konnten. Runen konnten durchaus für magische Zwecke verwendet werden, doch repräsentierten sie selbst keine Magie, sondern eine Schriftform.
Seit dem 4. Jh. n.Chr. nahm die Siedlungsdichte v.a. in Dänemark stark zu, und ab dem 6. Jh. häufen sich Zeichen kriegerischer Auseinandersetzungen (verbrannte Gehöfte, Bau von Fluchtburgen). Gleichzeitig erfuhren die Schifffahrt und der Handel, auch mit umliegenden Völkern wie z.B. den Friesen, einen Aufschwung. So sind seit dem 6. Jh. Langschiffe in Klinkerbauweise nachgewiesen. Die allgemeine Unruhe ist als Vorstufe zur Wikingerzeit gedeutet worden. In Schweden hatten sich die Könige der Svea von Uppsala ausgehend ein Reich errichtet, das im 8. Jh. nicht nur das schwedische Kernland, sondern den Ostseehandel beherrschte.
Expansion der Wikinger: die unorganisierte Phase (793–ca. 950)
793 begannen die Wikinger ihre berüchtigten Raubzüge mit dem Überfall auf Holy Island in Nordengland, wo sie das Kloster Lindisfarne plünderten. Seitdem suchten die «Normannen» jeden Sommer die britische Küste heim. Sie selbst bezeichneten sich als vikíngr, was aus dem Altnorwegischen übersetzt sowohl Gefolgschaft als auch Piraten heißt. Vielleicht wäre eine Umschreibung wie «diejenigen, die in einer an den Anführer gebundenen Gruppe auf Erwerbszug ausgehen» angemessen. Ab 799 überfielen sie auch den friesisch-sächsischen Küstenstreifen. U.a. plünderten sie 845 Hamburg, damals Sitz eines Erzbischofs. Die frühen Fahrten wurden von relativ kleinen Gruppen durchgeführt, die blitzartig erschienen und oft schon am folgenden Tag wieder abzogen. Wenn den Überfallenen tatsächlich jemand zu Hilfe kam, waren die Wikinger längst wieder fort. Räuber und Kriege hatte es schon immer gegeben, aber die Schnelligkeit der Überfälle war neu. Infolgedessen schien Flucht die einzige Option, sobald die Wikinger erschienen; Furcht und Entsetzen lähmten die Verteidigungsbereitschaft. Auf diese Weise überfielen sie während des Sommers einen küstennahen Ort nach dem anderen, während sie sich im Herbst zum Überwintern nach Hause begaben. Als Beute galten den Wikingern nicht nur Edelmetall und zu versklavende Menschen, sondern auch Gegenstände des täglichen Bedarfs: Textilien, Getreide, Mehl usw., Vieh wurde z.T. sofort geschlachtet und nur die wertvolleren Fleischteile an Bord genommen.
Die Forschung hat sich mit der Erklärung der Wikingerzüge durchaus schwergetan: Warum begannen sie, und warum hörten sie auf? Für beides ist ein Bündel von Gründen anzuführen. Bevölkerungsdruck habe die Wikinger schlichtweg zur Expansion gezwungen, lautet eine Begründung. Sie ist archäologisch durch ein starkes zahlenmäßiges Ansteigen der Wohnsiedlungen belegt. Doch waren Boden und Meer nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung zu ernähren? Dagegen spricht Folgendes: Einer der Schrecken, den die Wikinger als Krieger verbreiteten, lag in ihrer Körperstärke und -größe. Obwohl für die Verhältnisse des 21. Jh.s nicht besonders groß, überragten sie die anderen Europäer damals oft um einen ganzen Kopf – den Überfallenen erschienen sie als Riesen. Die Körpergröße ist aber weitgehend eine Funktion der Ernährung, sodass die Körpergröße der Wikinger nicht allein genetisch, sondern auch durch eine bes-sere und abwechslungsreichere Ernährung erklärt wird. Bevölkerungsdruck, oder profan ausgedrückt Hunger, kann also kaum der Hauptgrund für die Wikingerzüge gewesen sein. Wichtiger sind andere Faktoren (von denen hier nur einige aufgeführt werden können): Kampf, Sieg und Beute standen gesellschaftlich in hohem Ansehen. Hierdurch konnte man viel schneller als durch Landwirtschaft oder Handel zu Geltung, Reichtum, Einfluss und Macht kommen. In Sitten und Religion existierte keine generelle Aggressionsbremse, insbesondere nicht gegen Außenstehende und Wehrlose. Die Gründe für den latenten Expansionsdrang lagen also vor allem in den äußeren Umständen, die den Weg zu Reichtum, Ruhm und Macht eröffneten oder verschlossen.
Hier bieten sich in der Tat Erklärungen an: Für ca. 300 Jahre besaßen die Wikinger einen Schiffstyp, der allen anderen überlegen war und bis heute als «Wikingerschiff» allgemein bekannt ist: das Langschiff. (Eine Abbildung ist auf der heutigen norwegischen 20-Kronen-Münze eingeprägt.) Wer kennt dagegen noch die griechisch-römische Triere bzw. Trireme, jenes...
Erscheint lt. Verlag | 10.8.2021 |
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Reihe/Serie | Beck'sche Reihe | Beck'sche Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Dänemark • Finnland • Geschichte • Island • Nordeuropa • Norwegen • Schweden • Skandinavien |
ISBN-10 | 3-406-76111-9 / 3406761119 |
ISBN-13 | 978-3-406-76111-9 / 9783406761119 |
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