Wenn du mir gehörst (eBook)
512 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27160-2 (ISBN)
Denn der Täter ist ein hochdekorierter Detective, der seine Geliebte Tempe schwer misshandelt hat. Als Phil diese zu schützen versucht, wird sie suspendiert. Zumindest Tempe zeigt sich dankbar: Die beiden Frauen werden enge Freundinnen, sind bald unzertrennlich.
Doch allmählich wird Phil misstrauisch: Etwas an der Geschichte der jungen Frau scheint nicht zu stimmen. Ist Tempe wirklich ein unschuldiges Opfer?
Spätestens, als eine erste Leiche in Phils Umfeld auftaucht, weiß sie nicht mehr, wem sie trauen kann ...
Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, geboren. Er war lange als Journalist tätig, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Mit seinen Romanen stürmt er regelmäßig die Bestsellerlisten und wurde bereits mit mehreren Preisen geehrt. Michael Robotham lebt mit seiner Familie in Sydney.
1
Mit elf habe ich meine Zukunft gesehen. Ich stand in der Nähe der Mitteltür eines Doppeldeckerbusses, als im oberen Deck eine Bombe explodierte und das Dach wegriss, als hätte ein Riese eine Dose Pfirsiche geöffnet. In einem Moment hielt ich mich noch an einer Stange fest, im nächsten flog ich durch die Luft, sah den Himmel, dann den Boden, dann wieder den Himmel. Ein Bein sauste an mir vorbei. Ein Kinderwagen. Eine Million Glasscherben, die alle die Sonne spiegelten.
Ich landete hart auf dem Bürgersteig, um mich herum fielen Trümmer und Körperteile zu Boden. Als ich durch den Staub aufblickte, fragte ich mich, was ich an Bord eines Londoner Stadtrundfahrt-Busses gemacht hatte, denn so sah er ohne Dach aus.
Menschen waren verletzt. Starben. Waren tot. Ich spuckte den körnigen Dreck zwischen meinen Zähnen aus und versuchte, mich daran zu erinnern, wer neben mir gestanden hatte. Ein tätowiertes Mädchen mit Ohrstöpseln unter schlecht geschnittenem, violettem Haar. Eine Mutter mit einem Kleinkind in einem Buggy. Auf den Sitzen an der Seite saßen zwei alte Damen, die über den Preis von Kinokarten diskutierten. Ein Typ mit Hipsterbart und Gitarrenkoffer mit Aufklebern von überall her.
Normalerweise wäre ich um 9:47 Uhr in der Schule gewesen, doch ich hatte einen Termin bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der mir erklären sollte, warum meine Nebenhöhlen so häufig entzündet waren. Offenbar habe ich zu enge Nasengänge, was wahrscheinlich erblich ist, aber ich habe noch nicht herausbekommen, wem ich die Schuld dafür geben kann.
Als ich auf der Straße lag, tauchte über mir das Gesicht eines Mannes auf. Er redete mit mir, aber lautlos. Ich las seine Lippen.
»Blutest du?«
Ich blickte auf meine Schuluniform. Meine blau-weiß karierte Bluse war voller Blut. Ich wusste nicht, ob es meins war.
»Wie viele Finger halte ich hoch?«
»Drei.«
Er ging weg.
Die Fensterscheiben um mich herum waren zerborsten, der Bürgersteig und die Straßen waren mit Diamanten aus Glas bedeckt. In der Nähe lag eine in der Luft abgeschossene Taube, oder vielleicht war sie auch vor Schreck gestorben. Der Staub hatte sich gesetzt und alles mit einer grauen Rußschicht bedeckt. Als ich mich später im Spiegel sah, hatte ich weiße Streifen unter den Augen, die Spuren meiner Tränen.
Ich saß auf dem Rinnstein und beobachtete eine junge Polizistin, die sich zwischen den Verletzten bewegte, ihnen Mut zusprach, sie tröstete. Sie legte die Arme um ein Kind, das seine Mutter verloren hatte. Als sie mich erreichte, lächelte sie. Sie hatte ein rundes Gesicht und strahlend weiße Zähne, ihr Haar war unter ihrer Uniformmütze hochgesteckt.
Meine Ohren dröhnten nicht mehr. Worte purzelten aus ihrem Mund.
»Wie heißt du, Schätzchen?«
»Philomena.«
»Und mit Nachnamen?«
»McCarthy.«
»Bist du allein, Philomena?«
Die Polizistin gab mir eine Flasche Wasser, damit ich den Staub aus meinem Mund spülen konnte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und ging weiter von einem Verletzten zum nächsten. Sie war wie eine Figur aus einem Katastrophenfilm, von der man bei ihrem ersten Erscheinen auf der Leinwand weiß, dass sie die Heldin ist. Alles an ihr war ruhig und selbstsicher und sandte die Botschaft aus, dass die Welt das hier überleben würde. Die Stadt würde überleben. Es war nicht alles verloren.
Sechzehn Jahre später erinnere ich mich vor dem Spiegel an diese Polizistin und wünschte, ich hätte sie nach ihrem Namen gefragt. Ich stelle mir oft vor, ihr zufällig wieder zu begegnen und mich bei ihr zu bedanken. Wegen Ihnen bin ich Polizistin geworden, würde ich sagen. Sie waren die Heldin meiner Kindheit.
Bei dem Gedanken muss ich lachen. Ich starre mein Spiegelbild an und ziehe eine Grimasse, die angeblich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass ich Falten kriege, und mich aussehen lässt, als müsste ich dringend aufs Klo. Meine Mutter schwört auf diese Übungen und empfiehlt sie all ihren Kundinnen im Schönheitssalon, die meisten von ihnen ältere Frauen, die sich verzweifelt an ihr Aussehen klammern, während ihre Ehemänner in Würde altern oder würde- und sorglos verwahrlosen dürfen.
Ich beuge mich näher zum Spiegel, betrachte mein Gesicht, das herzförmig aussieht, wenn ich mein Haar zu einem Knoten hochstecke. Ich habe graue Augen, eine gerade Nase und eine übertrieben große Unterlippe, in die Henry gerne beißt, wenn wir uns küssen. Meine Augenbrauen sind eher wie Schwestern als wie entfernte Cousinen, weil ich mich weigere, meine Mutter mit ihren Pinzetten und Stiften in ihre Nähe zu lassen.
Meine Schicht heute beginnt schon um sieben. Henry liegt noch im Bett. Schlafend sieht er aus wie ein kleiner Junge. Sein schwarzes Haar ist wild und zerzaust, und er hat einen Arm quer über die Augen gelegt, weil er es nicht mag, vom Badezimmerlicht geweckt zu werden. Wenn Schlafen eine olympische Disziplin wäre, könnte Henry für das britische Team antreten. Und es stört ihn nicht, wenn ich spät nach Hause komme und meine kalten Füße an seinen wärme. Das muss Liebe sein.
Ich blicke auf mein Handy. Es ist noch nicht einmal sechs, und ich habe schon vier Voicemail-Nachrichten, alle von meiner Stiefmutter Constance. Ich bezeichne sie normalerweise nicht als meine Stiefmutter, weil wir beinahe gleich alt sind, was mir peinlicher ist als ihr und meinem Vater überhaupt nicht. Was für ein Klischee er geworden ist – durchgebrannt mit seiner Sekretärin.
Ich spiele die erste Nachricht ab.
Philomena, Süße, hast du die Einladung bekommen? Du hast nicht geantwortet. Die Feier ist am Sonntag in zwei Wochen. Kommst du? Bitte sag Ja. Es würde Edward so viel bedeuten. Du weißt, dass er sehr stolz auf dich ist … und sich wünscht … Sie beendet den Satz nicht. Er wird sechzig und will dich dabeihaben. Du bist immer noch sein Liebling, weißt du, trotz allem …
»Trotz allem«, wiederhole ich höhnisch und springe zur nächsten Nachricht.
Philomena, mein Schatz, bitte komm. Alle werden da sein. Henry sollst du selbstverständlich mitbringen. Heißt er so? Oder Harry. Ich habe ein schreckliches Namensgedächtnis. Verzeih mir. Oh, lass mich nachsehen. Ich habe es … irgendwo … aufgeschrieben … ja, hier. Bring Henry mit. Keine Geschenke. Sonntag in zwei Wochen um vier.
Constance hat eine durchdringende vornehme Stimme, die jede Äußerung klingen lässt wie »yah, rah, hah, nah, yah«. Sie ist die Enkelin eines Dukes oder Lords, der vor einer Generation das Vermögen der Familie verspielt und laut meiner Onkel, die sie hinter ihrem Rücken »die Herzogin« nennen, »keinen Pott mehr zum Pissen« hat.
Henry rührt sich. Sein Kopf taucht auf. »Wie spät ist es?«
»Fast sechs.«
Er hebt die Bettdecke hoch und späht darunter. »Ich hab ein Geschenk für dich.«
»Zu spät.«
»Bitte komm zurück ins Bett.«
»Du hast deine Chance verpasst.«
Er zieht sich stöhnend die Decke über den Kopf.
»Ich liebe dich auch«, sage ich lachend.
Draußen beginnt ein Hund wütend zu bellen. Unsere Nachbarin Mrs Ainsley hat einen Jack Russell namens Blaine, der bei jedem Knarren und jedem vorbeifahrenden Auto loskläfft. Wir haben uns schon darüber bei ihr beschwert, aber Mrs Ainsley wechselt jedes Mal das Thema und weist auf irgendeinen Akt des Vandalismus in der Nachbarschaft oder ein Kleinvergehen auf der Straße hin, als weiteren Beweis für den Niedergang der Gesellschaft und dafür, dass wir in unseren Betten nicht mehr sicher sind.
Von der Marney Road zur U-Bahn-Station Clapham Common am Nordrand des Parks geht man achtzehn Minuten, vorbei an Sportplätzen und dem Skater-Park. Ich trage meine »Halbdienst-Kluft«, das Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Auf dem Weg zur und von der Arbeit dürfen wir keine Uniform tragen. In regelmäßigen Abständen schlägt irgendein Politiker vor, diese Vorschrift zu ändern, mit dem Argument, dass Polizisten zur Abschreckung von Verbrechen sichtbarer sein sollten. Polizisten auf die Straße. Allzeit bereit, immer im Dienst.
Ich kann mir gut vorstellen, wie mein morgendlicher Weg zur Arbeit aussehen würde, wenn ich eine Uniform tragen würde. Wahllose Fremde würden sich über Schüler beschweren, die ihre Füße auf die Sitze legen und zu laute Musik spielen. Ich würde erfahren, dass der Nachbar den Müll nicht richtig trennt oder einen Hund hat, der ständig in den Vorgarten kackt. Und wenn es Ärger geben würde, wie sollte ich dann bitte ohne Funkgerät Verstärkung rufen? Wenn es zu einer Festnahme käme, wohin würde ich den Straftäter bringen? Und würde mir das dann als Überstunden angerechnet werden? Würde mir irgendjemand danken?
Ich nehme einen Zug der Northern Line bis nach Borough – das sind sechs Haltestellen –, laufe dann zwei Minuten zur Polizeistation Southwark und hole mir auf dem Weg einen Kaffee in dem Starbucks gegenüber. Der schlanke Barista heißt Paolo und redet beim Pressen, Dampfen, Schäumen und Ausschenken permanent vor sich hin, bietet den Ladys »extra Sahne« oder ein »klebriges Teilchen« an, was bei ihm klingt wie eine anzügliche Einladung. Sein Bruder bedient den Sandwich-Toaster und trägt hin und wieder zu dem Geplänkel bei.
Während ich auf meine Bestellung warte, denke ich an meinen Vater und die Feier zu seinem sechzigsten Geburtstag. Ich habe seit sechs Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen und war seit neun Jahren nicht mehr im selben Zimmer wie er. Ich erinnere mich noch an unsere letzte Begegnung. Jamie Pike, der coolste Junge, den ich damals kannte,...
Erscheint lt. Verlag | 20.12.2021 |
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Übersetzer | Kristian Lutze |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | When you are mine |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Buch • Geschenk • Neuerscheinung 2021 • Psychothriller • Schweige still • spannend • Spannung • Spiegelbestsellerautor • Thriller • Weihanchten |
ISBN-10 | 3-641-27160-6 / 3641271606 |
ISBN-13 | 978-3-641-27160-2 / 9783641271602 |
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