Kalender ohne Anfang und Ende (eBook)

Notizen aus Piest'any

(Autor)

Eva Strittmatter (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2872-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kalender ohne Anfang und Ende - Erwin Strittmatter
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Erstmals rein autobiografische Texte.

Immer wenn sich Strittmatter im slowakischen Kurbad Pie?t'any aufhielt, beobachtete er die bunte Gesellschaft aus aller Welt, spürte in den Gesichtern und Gesprächen Stoffe für Porträts und Geschichten auf, die er fantasievoll und mit Freude an der Komik ausmalte. Vom scharfen Aphorismus über die poetische Reflexion bis zur kräftigen Geschichte spannt sich der Bogen dieser Texte. Mit ungewöhnlicher Offenheit spricht er auch über eigene Fehler und Schwächen, über Lebensgier und Eifersucht.

'Viel sinnliche Intimität: Wir riechen klare Morgenluft, hören Froschgequake und sehen Nebel über den Feldern aufziehen.' Die Zeit



Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt 'Ochsenkutscher' (1950), der Roman 'Tinko' (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie 'Der Laden' (1983/1987/1992).

Piešťany 1975


Fünfter Mai 1975

WIR GEHEN UMHER, machen Entdeckungen in den Räumen, in denen wir ein zwölftel Jahr unseres Lebens verbringen werden. Wir leben hoch, in den Wipfeln von blühenden Kastanien, im dritten Stock (Zimmer 321) des Thermia-Palastes. (Das Jahr zuvor hatte ich Zimmer 325.)

Eva entdeckte eine Tür hinter einer roten Portiere aus Plüsch. Die Tür geht auf einen ausgiebigen Balkon mit Liegestühlen. Ich probiere aus, wie es sich in dieser vorläufigen Bleibe schreibt.

Heute feiert der Vater daheim (fünfter Mai) seinen sechsundachtzigsten Geburtstag.

Wir kamen gestern abend an. Das waren die Eindrücke des Tages: (Vierter Mai)

BERLIN: Ein Berliner Partei-Spießer ging mit Angelzeug unter einem und die Frau am anderen Arm int Jrüne. Er grüßte mich herausfordernd, als hätte ich – als volkseigener Schriftsteller – ihn unbedingt zu kennen.

Durch die verglaste Tür und die großen Fenster lugte ich in die Ausstellung von Paul Schultz-Liebisch im Bersarin-Turm. Nach Ebert – und nun auch Giebe – glaubte ich, seine Bilder würden nichts mehr in mir wecken – aber doch! Da waren die Bilder, die er jüngst in Bulgarien und Russland malte!

Fahrer R. vom Schriftsteller-Verband bringt uns zum Flugplatz. Ein unaufdringlicher, höflicher Fahrer.

Prag: (Vierter Mai)

Einige Kellnerinnen und Kellner im Flughafen-Restaurant kannte ich noch vom vorigen Jahr. Ich dachte: Wie mögen sie Weihnachten, wie Neujahr gefeiert haben. Merkwürdig, dass hier alles weiterlief, ohne dass ich da war, es sah. Das denkt man auch, wenn man an idyllische Plätze im Wald kommt und auf Vögel und Tiere vom vorigen Mal stößt. Aber so wirds auch nach meinem Tode sein: Alles wird weitergehen, ohne dass ichs begutachte. Manchmal regt mich dieser Gedanke schon nicht mehr auf. Ich mache vielleicht doch Fortschritte mit der Verinnerlichung.

Prag: (Vierter Mai)

Mit dem Omnibus ohne Fahrschein in die Stadt. Der Fahrer setzt uns nicht hinaus. Man muss hier Scheine vor der Fahrt an Zeitungskiosken lösen. Im Omnibus macht man sie sich dann mit Hilfe eines Apparates selber ungültig. Auf was für umständliche verwaltungstechnische Maßnahmen die Menschen verfallen, damit man sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein Stück Weges befördert! Alles unter dem Motto: Fortschritt.

Prag: (Vierter Mai)

Nach meinem Brieftauben-System finden wir zum Wenzelsplatz. Ich will nicht recht an ihn glauben. Vor sechzehn Jahren war ich zum ersten und letzten Mal in Prag. Damals erschien mir der Platz länger. Ich kam aus einer anderen Straße auf ihn. Polizeiliche Absperrung. Militärischer Aufmarsch. Überall feiern die Staaten ihre Feiertage, indem sie Massen ihrer Bürger uniformiert und im Gleichschritt laufen lassen. Das gehört zum leichten Regieren, wähnt man.

(Vierter Mai)

Die Prager Bürger lächeln, belächeln den Aufmarsch am vierten Mai. Obs der Prager Befreiungstag ist?

Die Geheimen erkennt man an weißen Sommermänteln. Die Aufmarschvorbereitungen der Militärs spiegeln Unsicherheit, wenn nicht Ängstlichkeit.

(Vierter Mai)

Wir genießen die alten Häuser in der Prager Altstadt, die kunstsinnige Architektur, und bewundern wie Kinder die Passagen und die Tatsache, dass man in der Altstadt unter den Häusern hindurchgehen kann. Man verkürzte sich die Fußwege. Hielt sich den Regen vom Kopf!

Heut freilich in der fortschrittlichen Zeit möchten die Häuser einstürzen und ihre Bewohner wahnsinnig werden, wenn die Lastkrafter und andere Autos oder gar Panzer unter den Häusern hindurchführen.

(Vierter Mai)

Aus dem Flugzeugfenster: Piešťany stellt sich uns tintig-blau vor: Der beginnende Abend, und es ist Wasserdunst in der Luft.

(Vierter Mai)

Eine Überraschung ist das Zimmer, ein geräumiges Appartement. Weiß möbliert, rote Plüsch-Portieren. Man kommt in eine Kindheit zurück. Die Erinnerung an den weißen Waschtisch der Mutter.

Irgendwo (auf Besuch) ankommen ist wie ein kleines Versprechen. Ein neues Leben fängt an, und wenn auch das nicht – ein Leben unter neuen Bedingungen.

ICH FINDE EINE ANZAHL GÄSTE VOR, die auch voriges Jahr um die gleiche Zeit mit mir hier waren. Gibts noch mehr Leute als mich mit der Lust, den Mai anderswo als daheim zu verbringen?

Dienstag, sechster Mai

(Da ich in der Regel morgens einschreibe, bezieht sich das Beschriebene auf den Tag vorher.)

AM FAHRSTUHL eine Frau Neureich aus Berlin. Etwa fünfundfünfzig Jahre alt. Der agile Typ. Madame du Titre! Ich beobachtete sie voriges Jahr. Sie saß zwei Tische weit von mir. Sie erkannte mich dieses Jahr wieder: Oh, da sind Sie ja wieder, Kolinsky oder ähnlich, der herrliche Klavierspieler. Oh, ich erinnere mich!

Eva staunt. Ich auch, aber Eva mehr als ich, denn dass ich kein guter Klavierspieler bin, weiß sie nun wirklich.

Auch Herr Mai aus Blumenhaus ist wieder da, der Viehhändler, Sohn eines katholischen Milchhändlers und Zentrum-Antifaschisten. Er ist gealtert in dem Jahr, da wir uns nicht sahen, geht krummer, nach vorn geneigt.

Nun muss er ja wohl wissen, wenn er die Nachtigall wirklich gelesen hat, die ich ihm voriges Jahr gab, dass ich politisch mit den Kommunisten sympathisiere. Er lässt sichs, wenn ers gelesen hat, nicht ankennen.

Auch den neureichen Sudetendeutschen treff ich wieder, dem nichts Besseres hätt passieren können als die Aussiedlung nach Westdeutschland.

Er protzt nicht nur mit der Größe seines Grundstücks, sondern auch mit dessen zentraler Lage: Ich ho mich wieder kaputt gemacht das Jahr. Mei Grundstück (er nennt die Hektarzahl) liegt so zentral. Die Leit gucken nein. Man muss’ in Ordnung halden. Ich machs ja ne selber, aber dabei möchte ma schon immer sein, und das macht än so fertig allemal.

Ich weiß nicht, wo er wohnt in Westdeutschland, weiß nicht, was er tut und wie er heißt.

Er nennt mich Herr Doktor, nachdem er im Vorjahr erfuhr, dass ich Schriftsteller bin. Natürlich nimmt er an, dass ich aus Westdeutschland bin. Wie kann man anderswoher sein!

Mittwoch, siebenter Mai

DIE AUS DEM SÜDEN (aus dem noch südlicheren Süden) heraufgeholten Bäume werden dieses Jahr nicht blühen. Es sind die mit den schönsten Blüten. Ein Spätfrost hat sie krank gebissen.

Auch die Nüsse und die Kirschen müssen ein zweites Mal Blätter treiben. Da haben sie Arbeit genug und werden die Früchte auslassen müssen.

Tiere aus warmen Ländern kann man zur Not in temperierten Ställen, Fische in temperiertem Wasser halten, aber kann man südliche Bäume in Massen in Warmhäusern halten? Bei ihnen lässt man sich aufs Risiko ein. Und der Mensch ist dabei unentwegt, pflanzt immer wieder Sträucher und Bäume an Orten an, an denen missliche Witterung sie in einer Nacht töten kann.

Was veranlasst den Menschen dazu?

EIN ANDERER GAST vom Vorjahr, ein Fahrstuhlbekannter. Aus Wien. Eva stellt er sich dieses Jahr vor: Herzog heißt er. Ich stelle mich nicht vor. Er findets nicht taktlos. Er findets nur uncharmant, dass er meinen Namen vergaß. Aber ich habe mich auch voriges Jahr nicht vorgestellt.

Er ist das neunte Mal in Piešťany. Mit seinem Rheuma ist er fertig. Jetzt macht er die Kur nur noch prophylaktisch. Aber ein neues Leiden stellte sich dann ein. Am großen Zeh, den er sich einst brach. Er kann eine Viertelstunde lang von diesem Zeh erzählen. Ein charmanter Mann und ein schöner Mann für sein Alter (etwa meines). Einen grauen englisch gestutzten Bart hat er. Ein Wiener, wie er im Naturkunde-Buch stehen könnte.

Aber sie sind bei aller gesellschaftlicher Anmut (in jeder Situation das rechte Verhalten, das recht Wort) geistige Krämerseelen. Im Gespräch geben sie ihre kleinen, oft nicht fundierten Lebenserfahrungen aus, nehmen von Gesprächspartnern welche ein und verausgaben die mit den ihren zusammen später wieder an andere Gesprächspartner. So gehts weiter, und nach ihrer Matura (oder dem Studium) kommt bei ihnen nichts mehr hinzu. Sie lernen von Kind an anderen Erkenntnisse ab, haben selber aber nur wenige.

DIE KLEINEN TÜRKENTAUBEN sind wieder um uns, gurren und sirren und avisieren uns die Morgen, wenn sie hinter der Waag oder hinter den Kleinen Beskiden heraufkommen. Viele Stimmungen erinnern an die Maistimmungen vor zwei Jahren in Ungarn.

Ich bin froh, dass es Eva gefällt; denn ich wars, der daheim die Werbetrommel für Piešťany schlug.

EINE LANGE HANNOVERANERIN mit Brille, Typ: Lehrerin. Auch sie war schon voriges Jahr mit derselben Badefreundin hier. Voriges Jahr nickten wir uns nur von Tisch zu Tisch zu. Heute Gespräche im Fahrstuhl: Sie ist das siebente Mal hier. Wir fragen nicht, was sie hat. Die Kur hält nicht ganz ein Jahr vor. Sie lobt P. und alles, was hier mit den Rheuma-Kranken getrieben wird, und doch fällts ihr von Jahr zu Jahr schwerer, hierher zu fahren, aber die Ärztin sagt ihr: Fahren Sie, fahren Sie, sonst wirds noch schlimmer.

SCHWIMMEN IM...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Aphorismus • Autobiografie • Berichte • Erinnerungen • Memoiren • Nachlass • Notizen • Piestany • Slowakei
ISBN-10 3-8412-2872-0 / 3841228720
ISBN-13 978-3-8412-2872-7 / 9783841228727
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