Aufmarsch (eBook)
421 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76815-0 (ISBN)
München im Sommer 1923. Die Stadt ächzt unter Inflation und Wohnungsnot. Rechte Verbände rufen auf zum Widerstand gegen die Besetzung des Rheinlands und zum »Marsch auf Berlin«. Und Kommissär Reitmeyer steht massiv unter Druck, der von der Presse so genannten »Spielseuche« Herr zu werden. Da nimmt ihn ein Frauenmord in Beschlag, der aussieht wie die Tat eines rasenden Liebhabers, hinter dem aber noch mehr zu stecken scheint.
Während Reitmeyer bei seinen Ermittlungen auf schmierige Immobilienspekulanten und dubiose Anwälte trifft, stößt sein unermüdlicher Assistent Rattler auf eine Gruppe von Jugendlichen, die sich auf die eine oder andere - nicht immer legale - Weise durchs Leben schlagen. Eine von ihnen, das Blumenmädchen Leni, könnte in der Mordnacht etwas beobachtet haben, doch sie hat offensichtlich Angst auszusagen. Auch ihre Freunde hüllen sich in Schweigen. Dann verschwindet Leni plötzlich ...
<p>Angelika Felenda hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als literarische Übersetzerin in München.</p>
Prolog
Er hatte die beiden letzte Woche schon gesehen, als er auf dem Weg zu seinem Sportverein das Fahrrad über den Viktualienmarkt schob. Zwei kleine Mädchen, nicht älter als fünf und neun, die scheinbar unbeteiligt zwischen den Ständen herumwanderten und plötzlich losflitzten, um sich einen Apfel oder eine Kartoffel zu sichern, die irgendwo heruntergefallen waren. Manchmal stolperten sie auch und stießen wie zufällig an eine der Auslagen mit den aufgehäuften Waren, um der Schwerkraft ein bisschen nachzuhelfen. Im Moment sah er die beiden im Augenwinkel links neben sich. Während er die Preise vor dem Milchkiosk studierte – ein Pfund Butter 30000 Mark, zehn Eier 26000 –, machten sich die Mädchen offenbar zu einer Attacke auf den Obststand bereit.
Doch sie hatten die Rechnung ohne die Inhaberin des Standes gemacht. Die Händlerin hatte das kleinere Mädchen am Schopf erwischt und zerrte das Kind so brutal an den Haaren, als wollte sie ihm den Skalp abreißen. »Ihr Hundskrippel, ihr elenden!«, brüllte sie. »Euch werd ich’s zeigen!« Die Kleine zappelte und schlug keuchend um sich. Das ältere Mädchen schoss wie ein Derwisch hin und her, um die Furie abzulenken. Aber die ließ nicht ab von dem spindeldürren Geschöpf und schwenkte es herum wie eine Stoffpuppe.
Rattler warf sich in Positur. »Loslassen! Sofort!«, rief er und zückte seine Marke.
»Die Polizei?«, kreischte die Händlerin. »Da kommt einer von der Polizei und will das Diebsgesindel schützen!«
»Das sind doch Kinder!«, rief er. »Die allenfalls Mundraub begangen haben!«
Das hätte er wahrscheinlich nicht sagen sollen. Weil damit alles nur noch schlimmer und eine Schar weiterer Händlerinnen auf den Plan gerufen wurde. Sie seien doch nicht da, um die Mäuler von irgendwelchen »Schraatzen« zu füttern, schrien sie durcheinander. Und von der Polizei würden sie was anderes erwarten, als sich um Lumpenpack zu kümmern, das wie Heuschrecken auf den Markt einfalle. Er hatte Mühe, die zornigen Frauen abzuwehren, die ihm bedrohlich auf den Leib rückten. Aber immerhin gelang es den Mädchen, sich in dem Aufruhr aus dem Staub zu machen.
Nachdem er dem zeternden Haufen entkommen war, sah er die beiden an der Ecke Klenzestraße wieder. Die Größere winkte ihm zu. Er reagierte nicht. Er hatte ihnen einmal geholfen, aber das wollte er nicht zur Gewohnheit werden lassen. Dass sie meinten, er würde sie immer raushauen, wenn sie beim Klauen erwischt worden waren. Doch als er aufs Rad stieg, versperrten ihm zwei Lieferwagen den Weg. Die Gelegenheit nutzte das ältere Mädchen und kam mit ein paar Sätzen auf ihn zu gerannt. »Herr Polizist«, rief sie. »Können Sie uns helfen?«
»Habt ihr schon wieder was mitgehen lassen?«
Sie warf die Zöpfe zurück und sah ihn entrüstet an, als wäre es unter ihrer Würde, darauf zu antworten. »Meine Schwester hat bloß was anschauen wollen, aber die narrische Standlfrau is gleich wie eine Wilde auf sie los.«
Seit wann man zum »Anschauen« die Hände brauche, wollte er sagen, schüttelte aber bloß den Kopf und stieg aufs Rad.
Das Mädchen hielt ihn am Arm fest. »Die Rosmirl hat was im Fuß und kann nimmer laufen.« Sie deutete auf das schmächtige Kind, das am Boden kauerte und nur aus Ellbogen, Knien und hervorstehenden Knochen zu bestehen schien. Ohne den Mopp aus braunen Locken hätte es tatsächlich wie eine Heuschrecke ausgesehen.
»Ich hab nicht viel Zeit«, sagte er abweisend, lehnte dann aber doch sein Fahrrad an eine Hauswand und folgte dem Mädchen über die Straße. »Also, wo tut’s weh?«, fragte er und beugte sich hinunter. Rosmirl streckte ihm einen nackten Fuß entgegen und deutete auf den großen Zeh. Rattler nahm seine Lupe aus der Tasche. »Ich seh’s. Da steckt was drin.« Er holte sein Schweizer Messer heraus und klappte die Pinzette aus. Es dauerte eine Weile, bis er das Ding zu fassen kriegte, und als er es herausgezogen hatte, entpuppte es sich als ziemlich großer Dorn, der so tief ins Fleisch gedrungen war, dass nun Blut aus der Wunde tropfte. »Da müsst man ein Pflaster drüberkleben«, sagte er. »Damit kein Dreck reinkommt. Aber wir haben keins.« Er nahm sein Taschentuch. »Dann bind ich dir das halt rum. Also, Operation beendet. Patient wohlauf?«
Rosmirl sah ihn mit großen Augen an.
»Kann die nicht reden?«
»Können schon. Sie tut’s aber nicht.«
»Warum?«
»Seit unser Vater fort is, redet’s nimmer.«
»Wo ist der hin?«
Das Mädchen zuckte die Achseln.
»Und was machen wir jetzt? Mit dem Verband kann sie schlecht laufen. Wohnt ihr hier in der Nähe?«
»Wir müssten bloß bis zum Gärtnerplatz zu dem Blumenladen. Da helf ich abends beim Aufräumen.«
»In die Richtung muss ich auch. Dann setz ich sie auf mein Rad.« Er hob das Kind hoch, trug es über die Straße und setzte es auf den Gepäckträger. »Wie alt ist die Rosmirl denn?«, fragte er, während sie Straße entlanggingen.
»Sieben. Eigentlich müsst sie in die Schul gehen, aber da hat man sie nicht g’nommen, weil’s nicht redet. Die Rosmirl ist aber nicht blöd, die versteht alles. Sie sagt halt bloß nix.«
»Und wie heißt du?«
»Leni.«
»Und wie alt bist du?«
»Zwölf. Bald dreizehn.«
Er hatte die beiden für deutlich jünger gehalten. Wahrscheinlich lag es an den Hungerzeiten im Krieg, dass sie nicht richtig gewachsen waren, und jetzt bekamen sie auch nicht genug zu essen. Aber da waren sie nicht die Einzigen.
Als sie auf den Gärtnerplatz einbogen, deutete Leni auf den Laden mit den Blumenkübeln auf dem Gehsteig. »Da is es. Da helf ich am Abend. Aber nicht bloß beim Aufräumen. Ich lern auch, wie man Sträuße bindet. Und aus den Blumen, wo die Stiele abgebrochen sind, mach ich kleine Bouquets, und die verkauf ich später vorm Theater drüben. Wenn ich groß bin, werd ich Floristin und hab meinen eigenen Laden.«
»Das ist gut, wenn man Ziele hat im Leben.«
Leni nickte. »Das Taschentuch wasch ich aus und kann’s Ihnen geben, wenn Sie später nochmal hier vorbeikommen? Sie müssten bloß an der Ladentür klopfen.«
»Mal sehen«, sagte er und hob Rosmirl vom Rad. »Und bei dir alles in Ordnung?«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das ihre Zahnlücken entblößte. Dann hob sie grüßend die Hand, humpelte über den Gehsteig und verschwand in den Laden.
Leni sah ihrer Schwester kopfschüttelnd nach. »Die Rosmirl mag Sie«, sagte sie.
Seine Rührung hielt sich in Grenzen. Sie wollte sich einschleimen, ihn einwickeln, auf ihre Seite ziehen. Dass es von Vorteil war, einen Polizisten auf ihrer Seite zu haben, hatte er ihnen gerade vorgeführt. Er musterte sie noch einmal kurz. Sie wirkte nicht ganz so spindlig wie ihre Schwester, sondern war eigentlich ganz hübsch mit den langen Zöpfen und dem rundlichen Gesicht. »Ich muss jetzt los«, sagte er und schob sein Fahrrad zum Rand des Gehsteigs.
Leni folgte ihm. »Also dann bis später«, sagte sie und blieb plötzlich stehen, als ihr Blick auf den Platz fiel. Ein jüngerer Mann, der aus der Cornelius eingebogen war, kam mit lässigem Schritt auf sie zu. Er war nach neuester Mode gekleidet und sah in den Knickerbockern und der Clubjacke aus, als käme er gerade aus dem Tennisverein. »Ah, Leni«, sagte er mit einem vagen Lächeln. »Wo warst’n gestern?«
Sie wirkte irritiert. »Am Theater drüben«, stieß sie hervor. »Also dann, Herr Polizist«, fügte sie hin. »Ich muss jetzt auch rein.«
Der Mann musterte ihn kurz und setzte seinen Weg Richtung Klenzestraße fort. Rattler stieg aufs Rad. Was hatte das kleine Mädchen mit diesem Schnösel zu tun? Warum wollte sie ihm unbedingt mitteilen, dass er Polizist war? Ein unbehagliches Gefühl stieg in ihm auf. Genau das hatte er eigentlich vermeiden wollen. Dass sie ihn reinzogen in ihre Schwierigkeiten. Dass er es ausbügeln durfte, wenn sie was ausgefressen hatten. ...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2021 |
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Reihe/Serie | Kommissär-Reitmeyer-Serie | Kommissär-Reitmeyer-Serie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Schlagworte | Aufziehender Nationalsozialismus • Babylon Berlin • Bayern • Deutschland • dubiose Machenschaften • historischer Krimi • Immobiliengeschäft • Korruption • Krimi • Mitteleuropa • München • Nationalsozialismus • Spannung • ST 5150 • ST5150 • Südostdeutschland • suhrkamp taschenbuch 5150 • Volker Kutscher • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-518-76815-8 / 3518768158 |
ISBN-13 | 978-3-518-76815-0 / 9783518768150 |
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