Der Nagel im Kopf (eBook)

Journal 2011-2020

(Autor)

Wend Kässens (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1., Originalausgabe
263 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75347-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Nagel im Kopf - Paul Nizon
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

»Aber wo ist das Leben? Wie kann ich mich in das Gedächtnis der Literatur einschreiben? Wer bin ich eigentlich?« Diese Fragen haben Paul Nizon seit seiner Kindheit umgetrieben. Dass es darauf keine endgültigen Antworten geben kann, selbst nach vielen Jahrzehnten einer einzigartigen Künstlerexistenz, weiß er natürlich. Dies hat ihn aber nicht abgehalten, sich ihnen schreibend und wieder schreibend anzunähern.

Denn der radikalen Welt- und Selbsterforschung ist dieser »besessene Jahrhundertdichter schweizerischen Ursprungs« (FAZ) nicht nur in seinen Romanen und Erzählungen nachgegangen, sondern auch in seinen Journalen, die er seit nun 60 Jahren fortschreibt. Unter der Hand ist ihm hiermit ein weiteres, unerwartetes Hauptwerk angewachsen.

In seinem neuen Journal aus der unmittelbaren Gegenwart der Jahre 2011 bis 2020 erzählt er von grundstürzender Einsamkeit, von Verlusten, von einem Schreibvorhaben, das wie ein »Nagel« in seinem Kopf feststeckt, aber auch von euphorisierenden Aufschwüngen und überraschenden Erkenntnissen, die den Blick auf ihn für immer verändern.



<p>Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.</p>

2011


Jahreswechsel 2010/11, Bern

Die Straße versank jetzt in der winterkalten Schwärze, noch nicht ganz, doch die Drohung bestand, und nur das erleuchtete Schaufenster (von Bergers Früchte- & Gemüsegeschäft) glomm schwächlich wie ein Markierlicht an einer Felsklippe. Und das Treppenhaus ringelte sich an den niemandem gehörenden Fenstern der verschiedenen Stockwerke entlang, und das Treppenhaus strömte Kälte aus. Und das Kind erklomm die Stiegen und empfand gleichzeitig den Stich der Bosheit, der hinter den verschlossenen Wohnungstüren nach ihm pickte, und ein Wohlbehagen, nicht nur im Sicheren zu sein, sondern sozusagen an der Brust geheimnisvoller Wonnen. Die Wonnen waren das Versprechen an Lebensguthaben, schönem, berückendem Zukunftsgeheimnis, wobei zum Geheimnis all die unterm selben Dach wohnenden bekannten wie unbegreiflichen Hausbewohner mit ihren so anderen Leben und Möbeln zählten. Und Mädchenversprechen und kommende Tagesvergnügen wie Leckerbissen und Schleckereien. Und über allem die Dämpfe des Geheimnisses. Und im eigenen Wohnungsinneren die Vielfältigkeit der Hauptpersonen, Dramatis Personae. Es war das Unbekannte, das den Kleinen erregte.

Und wie das unerprobte Geheimnis des Geschlechtlichen einen erregte. Es war ein Rumoren im Leibe. Unter den Pensionären, die unsere Wohnungen besetzt hielten, geisterten Frauenzimmer, junge, anziehende, fremde Frauen, der Junge weiß nicht, ob sie eine Schule besuchen oder bereits einen Beruf ausüben, vor allem stiften sie Verwirrung in seinem Kopfe. Er beobachtet, verfolgt sie. Die eine hat er auf ihrem Zimmer besucht und eigentlich angefallen. Sie rannten um den Tisch, es sah nach einem Spiel aus, und dann grapschte er nach ihrem Leib, ihrem Kleid und warf sie aufs Bett und er über ihr. Sie hatte die faulsten, wie verklebten Augen, Tieraugen, die auch im Dunkeln sahen, wie er sich vorstellt. Und die ganz junge Frau strömte pure Sexualität aus.

Nun, er auf ihr, auf ihren Weichheiten. Und was dann? Er weiß es ja nicht, und sie hat ihm nicht geholfen. Sie hat ihn zurückgestoßen, wohl aus dem aufkeimenden Wissen, dass sie es mit einem Kinde zu tun hat, einem Knäblein.

Auch die Alarmierung durch den weiblichen Lockruf gehörte zu dem Aufwachsen im Hause mit dem sich ringelnden Treppenhaus. Eigentlich wartete er nur die Reife ab, bis es so weit wäre. Die Röcke sorgten für die benommenen Sinne und die ganze Verwirrung. Auch dieses Bangen, auch die schwelende Hörigkeit, auch dieses Versprechen gehörten zum Haus, zum Heimwehhaus, zum Heranwachsen. Und draußen die Nacht wie schaukelnde Fetzen am Lampenschein der Laternen. Hitze und Beklommenheit. Angst.

März 2011, Paris

Es ist Ende März, die Knospen längst gesprungen, jetzt stehen die Bäume in diesem hellen glücksprühenden jungen Grün. Ich stelle fest, dass ich seit langem, seit Wochen einfach gar nichts mehr aufschreibe, ich bin abgenabelt von der Maschine, der Schreibtätigkeit. Stattdessen lese ich, im Augenblick Serge Doubrovsky auf Anraten Michel Contats, nicht schlecht, ziemlich nahe an meiner Domäne, er ist ja der Erfinder des Autofiktionsbegriffs – wie ich; aufregend die Frauen, der Sexus, das Begehren, dieser Kontinent, da erkenne ich mich selber heftig wieder. Und dann teile ich mit ihm das Erleben und die Schrecken des Alters, er ist 1928 geboren. Mit jedem Buch habe er eine Frau umgebracht; erinnert an Bojarek Garlinski (die großen Bücher seien auf dem Fleisch oder Leichnam der Geliebten geschrieben).

Woher die radikale Schreibhemmung? Ich leide unter einer Art Schlafsucht, Ermüdung, es muss sich um Flucht handeln, Flucht in den Schlaf, Depression. Gestern war ich bei Leborgne, dem Hausarzt an der Place des Victoires. Er meinte, ich solle mich vom Schreibleistungsprinzip freisprechen und nichts tun, wenn möglich Urlaub nehmen. Urlaub von mir? Wenn ich mit Leuten zusammen bin, z. ‌B. Jocks, Lukas Balthasar (Enkel von Milo Albisetti), Barbara Weber und Daniel Binswanger, Hans Christoph Buch – ich zähle die letzten Besucher auf –, dann bin ich lebhaft bis spaßhaft, sehr aufmerksam und keineswegs abgestellt, ich habe nur diese teuflische Angst vor dem Arbeitstisch und der entsprechenden Konfrontation mit dem Leichenweiß des Blattes.

Odiles Verzweiflung. Sie steckt voller bitterer Vorwürfe mich betreffend, ich habe für sie ja nie Sorge getragen, wir gingen so verdammt strikt getrennte Wege, nachdem sie aus dem jungen Liebesnest geflüchtet und ins Studium und danach ins Erwerbsleben eingetreten und mir verloren gegangen war. Ich verachtete ja die Werbemenschen über alles, wie ich alle Angestellten verachtete und nur die schöpferisch Tätigen, also Künstler, gelten ließ. Und ich war ja noch vor dem wirklichen Durchbruch. Ich fand es nur natürlich, dass die Familieninteressen und Odiles Erwerbsleben nach meinem künstlerischen Feldzug rangierten. Heute sagt sie, das Kreuz sei der große Altersunterschied. Mit Altersunterschied meint sie den Ort der Entwicklung und die Position im Leben. Bei ihr war alles Anfang, Erkundung, Mutprobe, Experiment. Ich war ihr keine Hilfe. Ich blieb in meiner exquisiten Isolation/Abkapselung, dem schöpferischen Wahn und Amok und erwartete nicht nur Ermutigung, sondern Unterstützung, ja Aufopferung. Und meine Arbeit konnte ich ja weiß Gott nicht mit ihr oder sonst wem teilen. Ich ließ mir nicht in die Karten schauen, ich verzog und verkroch mich in meine Ateliers, und wenn es an die »Front«, zu Lesungen, Kongressen, öffentlichen Auftritten ging, fuhr ich allein. Wenig Gemeinsamkeit. Es gab so gut wie keine Allianz. Eine bittere Bilanz.

Anruf von Actes Sud, Contats Kritik des Journals ist erschienen, wie im Figaro (Beigbeder) wird die literarische Qualität oder Bedeutung in großer Höhe angesetzt, weiß der Himmel, woher die Superlative. Dass ich ein überaus finsteres Tal durchquere, ist nicht zu leugnen. Und vor dieser Realie kommt mir der Triumph meiner Literatur mehr als nur seltsam vor.

16. April 2011, Osterwoche, Paris

Vorgestern in Straßburg gewesen, Buchhandlung Kléber, großer Saal im Obergeschoss zwecks Gespräch und Leseproben aus dem Journal Les Carnets Du Coursier, angekündigt als einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller mit Nobelpreis-Aussichten, in Umlauf gebracht durch Beigbeders Kolumne im Figaro-Magazin und Contats großer, höchstwohllöblicher Kritik in Le Monde rund um die Lesung. Und dann der stockende Dialog mit einem entweder unbedarften oder aber von mir eingeschüchterten jungen Gesprächspartner.

Vom Markt habe ich zehn wunderbare zottelige Tulpen heimgebracht, weiß mit grünlichem Geäder, sie sind nicht zottelig, sondern ausgefranst.

22. Mai 2011, Paris

Sonntag, ich merke, wie nötig mir ein Atelier wird, denn immer, wenn ich mich an den Tisch setze, werde ich von den Stößen unerledigter Post oder anderer Pendenzen nicht nur verhindert, sondern abgeschreckt. Ein Atelier, ein Arbeitstisch mit nichts anderem als dem in Arbeit befindlichen Manuskript auf der Tischfläche. Freie Bahn haben. Ich bringe es in meinem düsteren Arbeitsraum, der ja auch noch meine Schlafstätte und Nachtliege beherbergt, einfach nicht fertig, mich an die Arbeit zu machen. Manchmal ertappe ich mich dabei, etwas Publikumsappetitliches zu schreiben oder wenigstens als Köder in das Buch einzuschmuggeln; ich bin ja auch auf eine verflixte Art geradezu eifersüchtig auf Stars in anderen Showbiz-Bereichen. Mir fehlt der Publikumskontakt, könnte man meinen. Ist es das? Hat es mit dem Charakter meiner Literatur zu tun, dem einwärts Gerichteten?

Ich fürchte mich vor dem Wiedereinsteigen ins Manuskript des Nagels. Und gleichzeitig tönt das Vorhaben wie Stierkampfmusik in meinen Ohren. Wie schnell das Leben abläuft und sich verläuft. Gestern war ich noch an der Rue Simart und schwitzte und weinte an meinem Jahr der Liebe, und ich kann mühelos alles Damalige in mir hervorholen, und doch ist inzwischen ein halbes Leben an mir entlang- und zum Teil vorbeigegangen. Ich möchte so gerne Honig und Pfeffer und andere Betörungseffekte in die meiner harrende Prosa träufeln und mischeln können. Doch zuvor muss ein Atelier her.

24. Mai 2011, Paris

Morgen geht's in die Clinique Bachaumont zum Scannen der Bauchspeicheldrüsengegend (pancréas), mir wohlbekannt von früher, die Klinik Nähe Montorgueil. Ich...

Erscheint lt. Verlag 18.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Betrachtungen • Einsamkeit • Erzählungen • Gert-Jonke-Preis 2017 • Journal • Künstlerexistenz • Leben • Lebensbetrachtung • Literarische Essays • literarische Notizen • Literarisches Tagebuch • Literatur • Literaturpreis des Kantons Bern 2012 • Nizon • Nizon Paul • Paul • Schreiberfahrung • Schriftsteller • Schweizer Grand Prix Literatur 2014 • Selbsterforschung • Verlust
ISBN-10 3-518-75347-9 / 3518753479
ISBN-13 978-3-518-75347-7 / 9783518753477
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von R. Howard Bloch; Carla Hesse

eBook Download (2023)
University of California Press (Verlag)
41,99