Der geheimnisvolle Briefschreiber (eBook)

Frühe Erzählungen

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76785-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der geheimnisvolle Briefschreiber - Marcel Proust
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Im Herbst 2019 begeisterte ein sensationeller Fund das französische Feuilleton: neun frühe, bislang vollkommen unbekannte Novellen, Skizzen und Erzählungen des jungen Marcel Proust, entstanden lange vor dessen Jahrhundertwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aufgetaucht waren diese Texte im Nachlass des französischen Verlegers Bernard de Fallois, der in den 50er Jahren über Proust promovieren wollte und dafür Einblick erhielt in Material, das beim Tod des Autors nicht vernichtet worden war. Er gab das Vorhaben auf - und die Texte gerieten in Vergessenheit.

Ein mysteriöser Verehrer entpuppt sich als Verehrerin; ein Hauptmann erinnert sich an eine homoerotische Begegnung, ohne sie als solche zu erkennen; eine gute Fee beschert dem Helden als Ausgleich für Krankheit und Leiden künstlerische Kreativität: Proust stimmt hier sein Instrumentarium für die Abfassung seines großen Romanwerks. Aber warum hat er diese Texte nie veröffentlicht? Hatte er Angst vor dem Skandal, den die bemerkenswert offene Thematisierung von Homosexualität hätte provozieren können, wie der Herausgeber vermutet? Fest steht: in diesen Versuchen steckt bereits die ganze Zukunft von Prousts Jahrhundertepos.



<p>Marcel Proust wurde am 10. Juli 1871 in Auteuil geboren und starb am 18. November 1922 in Paris. Sein siebenbändiges Romanwerk <em>Auf der Suche nach der verlorenen Zeit</em> ist zu einem Mythos der Moderne geworden.</p> <p>Eine Asthmaerkrankung beeinträchtigte schon früh Prousts Gesundheit. Noch während des Studiums und einer kurzen Tätigkeit an der Bibliothek Mazarine widmete er sich seinen schriftstellerischen Arbeiten und einem - nur vermeintlich müßigen - Salonleben. Es erschienen Beiträge für Zeitschriften und die Übersetzungen zweier Bücher von John Ruskin. Nach dem Tod der über alles geliebten Mutter 1905, der ihn in eine tiefe Krise stürzte, machte Proust die Arbeit an seinem Roman zum einzigen Inhalt seiner Existenz. Sein hermetisch abgeschlossenes, mit Korkplatten ausgelegtes Arbeits- und Schlafzimmer ist legendär. <em>In Swanns Welt</em>, der erste Band von Prousts opus magnum, erschien 1913 auf Kosten des Autors im Verlag Grasset. Für den zweiten Band, <em>Im Schatten junger Mädchenblüte</em>, wurde Proust 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Die letzten Bände der <em>Suche nach der verlorenen Zeit</em> wurden nach dem Tod des Autors von seinem Bruder herausgegeben.</p>

Diese abgeschlossene Erzählung (siehe Abbildung 1), die eine Zeitlang in Freuden und Tage vorgesehen und damals dem Pianisten Léon Delafosse (1874-1955) gewidmet war, ist trotz einiger nicht ausgeführter Details vergleichbar mit anderen im Sammelband veröffentlichten Erzählungen: durch das Geständnis des nicht Gestehbaren beim nahenden Tod, der die Karten des Lebens neu mischt, angesichts der Agonie, die dem Geheimnis seine moralische Schwere nimmt.

Wie der im Verlauf der Erzählung einmal aufgegriffene Titel zeigt, spielt sich alles über Briefe ab, mysteriöserweise sind sie in die Wohnung der Heldin Françoise gelangt, die sich vorstellt, sie stammten von einem Soldaten. Nun ist das gerade die Zeit, Sommer 1893, als Proust mit einigen Freunden einen Briefroman zu schreiben anfängt, bei dem ihm die Rolle einer in einen Unteroffizier verliebten Frau von Welt zufällt, die sich ihrem Beichtvater offenbart (dessen Rolle Daniel Halévy spielt, während Louis de La Salle die des Offiziers übernimmt; siehe Correspondance, Bd. IV, S.413-421; siehe auch Briefe 1, S.147-150). Der zu mehreren verfasste Roman wurde nicht vollendet, aber Proust hat parallel dazu, möglicherweise heimlich, eine Erzählung geschrieben, in der der Beichtvater von Françoise, der Abbé de Tresves, erst auf den letzten Seiten auftritt und auch die eigentliche Erzählung nicht in Briefform gehalten ist.

Die auf mysteriöse Weise auftauchenden Briefe erinnern indirekt an Edgar Allan Poes Novelle Der entwendete Brief, die Proust schätzte (siehe Correspondance, Bd. X, S.292; siehe auch Briefe 1, S. 658-659). Auch von den Grotesken und Arabesken Poes fließt etwas in Prousts Erzählung ein, in Gestalt jener Sterbenden (Christiane), die ihrer Freundin Françoise ihre Auszehrung eingesteht. Dieser Halbschatten, der den Kern der Erzählung umgibt, lässt an den Nerval’schen Gegensatz von Wirklichkeit und Traum denken (in einer Variante ist vom zweiten Leben die Rede).

Die Jugenderzählung zeigt den angehenden Romancier, wie er sich an Erzählformen versucht, die er in der Folge nicht weiter übernehmen wird. Zu Anfang sucht er die seelische Verfassung seiner Figur durch die aufwändige Beschreibung ihrer Hände wiederzugeben (man denkt unwillkürlich an die berühmte Mütze von Charles Bovary). Bald versucht er sich (ungeschickt) am Erzeugen von Spannung, wenn Françoise im Esszimmer die Briefe findet. An den ausgestrichenen Stellen und den Einfügungen zwischen den Zeilen wird erkennbar, dass der Erzähler Schwierigkeiten hat, die notwendigen erzählerischen Umstände glaubhaft zu machen. Mit dieser Schwierigkeit wird noch der Autor der Recherche zu kämpfen haben, dem mancher Satz umständlich gerät, wenn es darum geht, in einer verzwickten konkreten Situation die Reflexion unterzubringen, auf die es dem Erzähler ankommt.

In der Recherche wird ein Brief von einer geheimnisvollen Briefschreiberin auftauchen: jenes Telegramm, das der Held der Flüchtigen erhält, als er aus Venedig abreisen will, unterzeichnet mit Albertine, die doch tot ist (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd.6, S.335-340) – eine Verwechslung mit dem Namen Gilbertes, die ihre Hochzeit ankündigt. Die gesamte frühere Erzählung scheint sich in diesem einzigen Umstand zu verdichten. Im selben Band wird ein weiterer geheimnisvoller Korrespondent auftreten. Der Held erhält nach Erscheinen seines Artikels im Figaro einen Brief von ihm: »Ich erhielt noch einen anderen Brief außer dem von Madame Goupil, doch der Name Sautton war mir unbekannt. Es war eine Schrift wie von Leuten aus dem Volk, die Ausdrucksweise war entzückend. Ich war sehr bekümmert, daß ich nicht in Erfahrung bringen konnte, wer ihn geschrieben hatte« (S.261). Bekanntlich ist diese Episode, deren Bezüge verwischt werden, von einem Brief inspiriert, den Agostinelli 1907 Proust nach Erscheinen von dessen Artikel »Impressions de route en automobile« (»Die geretteten Kirchen. Die Kirchtürme von Caen. Die Kathedrale von Lisieux – Tage im Automobil«, in: Nachgeahmtes und Vermischtes) schrieb (siehe Correspondance, Bd. VII, S.315). Doch das Schema dieser rätselhaften Bewandtnis ist, wie hier zu sehen, in der romanesken Vorstellungswelt Prousts sehr viel älter.

Wie weiter zu erkennen ist – denn auch Wörter haben ihre Geschichte –, taucht hier erstmals aus Prousts Feder die Wendung »Stempel der Authentizität« auf, die am anderen Ende seines Werks wiederkehren wird, Mitte der Wiedergefundenen Zeit, wenn der für die »Ewige Anbetung« eingenommene Erzähler hinsichtlich der unwillkürlichen Reminiszenzen statuiert: »[I]hr erstes Charakteristikum bestand darin, daß ich nicht frei war zu wählen, daß sie mir nur so und nicht anders einfach gegeben wurden. Ich spürte aber, daß gerade dies der Stempel ihrer Authentizität war.« (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd.7, S.276f.) – ein Beweis, dass ein Ausdruck nie ein für alle Mal verloren ist, sondern noch lange weiterleben kann, sofern er das Konzept, das der Schriftsteller sich geduldig erarbeitet, für immer fixiert.

Eine Erzählung in Rätselform, ist die Fabel in der Atmosphäre des Gesellschaftsromans angesiedelt, um die Homosexualität in Szene zu setzen, hier anhand von Gomorrha. Dabei wird es um die unerwiderte Liebe gehen, das erdrückende Schuldgefühl, das Verhältnis von Geheimnis und Geständnis, die Last des gesellschaftlichen Urteils, die Beziehung von Moral und (katholischer) Religion.

Dass die Briefschreiberin sich als Briefschreiber verstellen muss, während Proust das, was er über Homosexualität weiß, in das heimliche Drama einer Frau übersetzt, führt zu komplexen Zweideutigkeiten. Zudem ist beim Autor immer wieder eine Konfusion hinsichtlich der Vornamen zu beobachten: Françoise und Christiane werden ständig verwechselt, was zu häufigen Korrekturen führt und manchmal ganz übersehen wird. Die Auflösung des Rätsels wird unwillentlich – ein Lapsus Calami Prousts – im französischen Original durch die weibliche Form des Partizips [»elle l’avait donc vue«] gegeben und damit die Identität des mysteriösen Korrespondenten ziemlich früh aufgedeckt. Sodass selbst Geheimnis und Geständnis sich verkehren: die eine, die ein nicht einzugestehendes Geheimnis in sich verschließt, gesteht es in ihren Briefen; und die andere, die es erfährt und die nichts zu verbergen hat, bleibt darin gefangen.

Die Anspielungen auf katholische Frömmigkeit sind nicht frei von parodistischen Anklängen an die klassischen Redner und Prediger. Wie in den Gefährlichen Liebschaften tritt der Priester auf dem Höhepunkt des Dramas auf den Plan. Der Hauch von Erbauungsroman verflüchtigt sich in der zweifachen Infragestellung der moralischen Gebote, die schließlich gegenüber dem Drama versetzt erscheinen und die Schwere einer verhängnisvollen Schuld aufrechterhalten. Freilich bewahrt das sublime Opfer, zu dem der Beichtvater rät und das Christiane tatsächlich darbringen wird, seine ganze Tiefe.

Angesichts der Forderungen Gottes dienen hier die Anweisungen des Arztes als Alibi, um das Geheimnis mit Gewalt aufzubrechen. Die These lautet, dass ein bestimmter Grad an Leiden samt seinen...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2021
Übersetzer Bernd Schwibs
Sprache deutsch
Original-Titel Angabe fehlt
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auf der Suche nach der verlorenen Zeit • Erzählungen • Fin de siècle • Frankreich • Homosexualität • Le Mystérieux Correspondant deutsch
ISBN-10 3-518-76785-2 / 3518767852
ISBN-13 978-3-518-76785-6 / 9783518767856
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