Auch morgen (eBook)

Politische Texte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1., Originalausgabe
194 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76855-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auch morgen - Nora Bossong
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Ob in ihren preisgekrönten Romanen, Reportagen oder Essays - Nora Bossongs Texte führen stets mitten hinein in die schmerzhaft relevanten Problemfelder unserer Zeit. Wo andere vorschnelle Urteile fällen oder sich auf sich selbst zurückziehen, schaut sie genau hin, hört teilnahmsvoll zu und stellt Fragen: nach kolonialer Schuld und globaler Gerechtigkeit, nach den Herrschaftsansprüchen des Westens und der Natur des Bösen. Mit analytischem Scharfsinn und sprachlicher Kraft entlarvt sie falsche Idealisierungen und populistischen Kulissenzauber, warnt vor Geschichtsvergessenheit und wachsender Demokratiemüdigkeit. Sie reist zu den Gelbwestenprotesten in Paris, zu den Gegnern des deutschen Kohleausstiegs in Jänschwalde, zu den Gedenkfeiern zum 25. Jahrestag des Völkermords in Ruanda und zum Prozess gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher in Den Haag - und sie zeigt, dass sich Versöhnung zwar nicht verordnen lässt, unser Bemühen darum aber nie nachlassen darf.



Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, schreibt Lyrik, Romane und Essays, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Nora Bossong lebt in Berlin.

Menschenrechte für rechte Menschen


»Direitos Humanos são para humanos direitos.« Dieser so schön elliptisch geschwungene Satz beschäftigt mich, seitdem ein Freund mir davon erzählte. Übersetzt aus dem Portugiesischen heißt er so viel wie: Menschenrechte sind für rechte Menschen, oder auch: für rechtschaffene, für passende, für die richtigen Menschen.

Menschenrechte für rechte Menschen. Was aber ist das denn, der rechte, richtige Mensch? Geäußert hat diesen Satz der brasilianische General Augusto Heleno im Oktober 2019 in einem Interview. Heleno war unter anderem für den UN-Blauhelmeinsatz in Haiti verantwortlich, so kamen wir auf ihn. Mein letzter Roman Schutzzone war gerade erschienen, wir saßen im Hamburger Frühherbst bei einem Bier zusammen und sprachen darüber, was diese Weltinstitution namens UN noch sein könne und was aus all den Hoffnungen geworden sei, für die diese Institution steht oder eben stand.

Ihre Blauhelme nennt man auch Friedenstruppen, und sie könnten unseren, ich glaube, allgemeinmenschlichen Wunsch nach Frieden verkörpern, eine Art Engelsheerscharen für eine Zeit, in der man zu genau weiß, dass Engel immer wieder nicht gekommen sind, wenn sie hätten eingreifen müssen, nicht nur um Leben, sondern um das grundlegend Menschliche zu retten.

Auf Haiti hatten die Friedenstruppen in einem Quartier mit dem schönen Namen Cité Soleil, einem Slum von Porte-au-Prince, in nur wenigen Stunden 22 ‌000 Kugeln verschossen. Einige dieser Kugeln trafen Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, andere trafen Unbeteiligte. Es sollen bis zu siebzig Menschen gestorben sein, darunter auch Kinder. Die Operation Iron Fist sei ein Massaker gewesen, meinen Menschenrechtsgruppen. Sie sei ein Erfolg gewesen, meint Heleno.

Seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hat es immer Mittel und Wege gegeben, diese zwar anzuerkennen, aber doch bitte schön nicht für alle. Immer wieder haben sich Ideologien von rechts wie von links ihren richtigen Menschen geschaffen. Sie haben aussortiert, wer diesem Richtigen nicht entsprach. Der Mensch ist aber nicht zuerst richtig, er ist vor allem Mensch, fehlbar, verletzlich, hilflos, sanft, oft mittelmäßig und, ja, mitunter sogar böse oder sagen wir boshaft, eigennützig, nachtragend und rachsüchtig. Genau davon erzählt Literatur, sie erzählt nicht vom richtigen Menschen, sondern vom Menschen. Sie erzählt von all jenen, die daran scheitern, die richtigen Menschen zu sein, oder zum Scheitern verdammt werden, sie erzählt auch von jenen, die das Richtige zu definieren versuchen, in ihrem Wunsch nach Ordnung, Gewalt und Herrschaft. Literatur erzählt davon, wie Menschen an sich selbst scheitern oder zugrunde gehen, und, ja, manchmal werden sie auch glücklich aneinander, zumindest für den Moment. Ganz sicher muss sie gerade nicht definieren, was der richtige Mensch ist, auch wenn es das gibt in Romanen, Gedichten, Essays, die dann aber vielleicht eher ideologisch als literarisch zu nennen wären. Sie muss Menschen nicht definieren, sondern darf sie zeigen in ihrer ganzen Zerrissenheit, in ihrer Verlorenheit zwischen dem, was mutmaßlich richtig, und dem, was mutmaßlich falsch ist. Literatur darf zweifeln, und sie darf auch verzweifeln. Sie ist nicht verpflichtet, Hoffnung zu geben, auch wenn es schön ist, wenn sie das kann.

Und ich gebe zu: Als ich die Arbeit an meinem letzten Roman beendet hatte, in dem ich mich mit dem wiederholten Scheitern der UNO im Anblick schlimmster Gräueltaten befasst hatte, mit Ohnmacht, persönlicher und institutioneller, mit dem, was innerhalb kürzester Zeit an Vernichtung möglich ist zwischen Menschen, und mit dem so hartnäckigen Umstand, dass offensichtlich immer wieder geschieht, was nie wieder geschehen sollte, Kriegsverbrechen und Völkermord, plus jamais, never again, dass es mir mit der Zeit so viel mehr eine menschliche Konstante zu sein schien als unsere Fähigkeit zum Frieden, da war es mit meiner Hoffnung vorbei. Ich war vollständig leer. Ich kultivierte keine leere Hoffnung, ich gab das Prinzip Hoffnung gänzlich auf. Sie war einfach verbraucht, bis ins Letzte, die Hoffnung darauf, dass das menschliche Miteinander nicht vor allem aus dem Zufügen von Leid besteht. Und auch, wenn es im Vergleich klein wirken mag: Auch die Hoffnung in die Literatur und ihre Kraft, die mal eine transformatorische, mal eine aufklärerische, mal eine tröstende ist, gab ich verloren.

»Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler«, hat Antonio Gramsci einmal bemerkt. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, ich glaube, sie hat Schüler, aber die Geschichte lehrt eben nicht nur dieses: Nie wieder, sie lehrt für die, die es möchten, Umsturz, Unterdrückung, Überlegenheit, Indoktrination. Sie unterrichtet Revolutionstheorie, Willkürherrschaft, Massenmord und wie sich all das als legitim behaupten lässt. Sie unterrichtet, dass man wunderbar von Menschenrechten sprechen kann, von Freiheit, Würde und Gleichheit aller, wenn man nur eben sortiert, wem diese Rechte, die Würde und die Freiheit zustehen und wem nicht, wer gar nicht unter den Begriff des Menschen zu fassen ist oder weshalb der Mensch als Einzelner misshandelt werden darf, wenn dies dem Kollektiv oder der Partei dient.

Während der Recherche zu meinen Büchern und Reportagen habe ich immer wieder beeindruckende Menschen getroffen, aber ich habe auch viel Zynismus, Geltungshunger und Selbstherrlichkeit kennengelernt. Einige haben sich selbst gern als Weltretter gesehen, dabei nur falsche Hoffnung verkauft, weil der Handelspreis dafür gerade gut stand. Andere haben weggesehen. Wieder andere haben gezielt Hass geschürt. Mit Worten kann so vorzüglich gelogen und manipuliert werden, und immer wieder ist im Namen des Richtigen nichts anderes geschehen, als eigene Machtansprüche durchzusetzen auf Kosten anderer Menschen, ihrer Hoffnungen, ihrer Wünsche und ihrer Unversehrtheit.

Hoffnung sei gar nicht so gut, wie wir immer meinten, hat mir einmal eine Freundin gesagt. Sie binde nur Energie, und wir hielten uns an etwas, das gar nicht mehr mit der Wirklichkeit in Bezug stünde. Ja, das mag sein, und von den drei Stufen, die ich gelernt habe als berufliche Entwicklung innerhalb der UNO (aber sicher nicht nur da), vom Idealismus zum Pragmatismus zum Zynismus, halte ich den Pragmatismus in der Wirklichkeit vielleicht sogar für die beste Stufe. Doch das literarische Denken hat gerade die Kraft, das, was auf der planen Fläche der Wirklichkeit geschieht, zu übersteigen und zu durchdringen. Sie kann Utopien schaffen, ja, allerdings ist mein Wunsch danach vorsichtiger geworden. Sie hat vor allem die Kraft, uns ins Herz zu sehen ebenso wie dorthin, wo alles, was wir mit dem Herzen verbinden, aufhört, in die Abgründe und auf die Versteinerungen unserer Gefühle wie unseres Denkens.

Und sie blickt damit auch auf das, was zwischen uns liegt und was uns zugleich verbindet. Sie kann in das sehr intime Miteinander von zwei Menschen schauen ebenso wie auf die Dienstvorschriften, Funktionszusammenhänge, die Säle der Menschenrechtsausschüsse von Parlamenten und Vereinten Nationen und nicht zuletzt auf die Menschenrechte selbst, ihre mutmaßliche Universalität und darauf, dass sie davon abhängig sind, wer sie liest, wer sie hört, wer sie anwendet, gelten lässt, und für wen.

Es steckt eine Doppelbödigkeit ja auch in den Beschlüssen, in der Ambivalenz oder Dialektik der Werte, auch jener, die wir als große Errungenschaften ansehen. Wenn man mit den Menschenrechten die Menschen zu definieren beginnt, beginnt man auch das zu definieren, was nicht dazugehört, nicht dazugehören soll. Oder wie es Toni Morrison beschreibt: »Die Menschenrechte, zum Beispiel, ein Organisationsprinzip, auf das die Nation sich gründete, waren unausweichlich an den Afrikanismus gekoppelt. Seine Geschichte, sein Ursprung wird ständig mit einem anderen verführerischen Konzept verbunden: der Hierarchie der Rassen. […] Das Konzept der Freiheit entstand nicht in einem Vakuum. Nichts rückte die Freiheit derart ins Licht wie die Sklaverei – wenn sie sie...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Amnestie • Burundi • Demokratie • Den Haag • Deutsche Geschichte • Deutschland • Diktatur • edition suhrkamp 2773 • Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis 2024 • ES 2773 • ES2773 • Europa • Frankreich • Frieden • Gedenkkultur • Gelbwesten • Genozid • Gerechtigkeit • Gewalt • Glaube • Globalisierung • Herrschaft • Historie • Holocaust • Ideologie • Internationale Gemeinschaft • Jänschwalde • Joseph-Breitbach-Preis 2020 • Klimawandel • Kolonialismus • Krieg • Kriegsverbrechen • Kunst • Liberalismus • Literatur • Menschenrechte • Paris • Politik • Populismus • Religion • Ruanda • Schutzzone • Shoah • Strafrecht • Thomas Mann Preis 2020 • Verbrechen gegen die Menschlichkeit • Vereinte Nationen • Völkermord • Wahrheitsfindung • Wahrheitskommision
ISBN-10 3-518-76855-7 / 3518768557
ISBN-13 978-3-518-76855-6 / 9783518768556
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