Die Reise der Pilgerin (eBook)

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2021 | 1. Auflage
350 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2717-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Reise der Pilgerin -  Christiane Lind
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Eine gefährliche Liebe.

Braunschweig zur Zeit der Kreuzzüge: Die junge Leonore von Calven begibt sich auf Wallfahrt nach Jerusalem. Was niemand weiß: Leonore trägt ihr Pilgergewand nur zum Schein, denn der wahre Grund ihrer Reise muss verborgen bleiben. Viele Gefahren lauern auf dem Weg in die Heilige Stadt. Doch die junge Frau findet hilfsbereite Gefährten - und sie ist nicht die Einzige, die ein Geheimnis hütet. Als Leonores Leben bedroht wird, rettet sie der Karawanenführer Nadim. Durch ihn taucht sie in eine faszinierende fremde Welt ein und muss sich der Frage stellen, ob eine Christin einen Sarazenen lieben darf ...

Der Roman erschien vormals unter dem Titel 'Die Geliebte des Sarazenen'.



Christiane Lind, geboren 1964, ist Sozialwissenschaftlerin und wuchs in Niedersachsen auf. Nach Zwischenstationen in Gelsenkirchen und Bremen lebt sie heute mit ihrem Ehemann und fünf Katern in Kassel. Bei atb ist ihr Roman 'Die Heilerin und der Feuertod' lieferbar; 2015 erschien 'Die Medica und das Teufelsmoor'.

1


St. Marien bei Bad Gandersheim, 1170

Die schwarze Gestalt beugte sich über sie wie ein riesiger Rabe. Leonore schreckte hoch und hob abwehrend die Arme. »Leonore, Kind, wach auf!«, sagte der Unglücksvogel mit harscher Stimme. Endlich erwachte sie aus dem Dämmerschlaf – und atmete auf. Das dunkle Wesen, das ihr solche Angst eingejagt hatte, war nur Schwester Methildis. Leonore versuchte, sich im Licht des frühen Morgens zurechtzufinden. Hatte sie etwa die Laudes verschlafen?

»Du musst aufstehen. Und zieh dir etwas Ordentliches an!« Ungewöhnlich drängend klang die Stimme der Benediktinerin, die sonst so ruhig und unerschütterlich wirkte. »Der Wagen deines Vaters wartet.«

Leonore fuhr sich schläfrig durch die kurzen dunklen Locken und versuchte, den Nachhall des Traumes abzuschütteln. Was hatte Schwester Methildis eben gesagt? »Mein Vater – ist er etwa hier? Was wünscht er?«

»Frag’ nicht, Kind.« Methildis’ Stimme klang etwas sanfter. »Trage heute dein bestes Kleid. Ein neues Leben wartet auf dich. Dein Vater holt dich zu sich nach Braunschweig.«

»Aber ….« Leonore setzte sich auf und fröstelte in der Kälte der Klosterzelle. Nun erst wurde sie sich der Bedeutung der Worte bewusst, mit denen die Nonne sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Leonore spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. »Ich dachte … ich habe gehofft, dass ich mein Leben hier mit Euch verbringen werde.«

Die Benediktinerin beugte sich zu ihr herab und strich ihr übers Haar. »Das haben wir alle erwartet. Doch dein Vater hat etwas anderes mit dir vor.«

Leonore biss sich heftig auf die Unterlippe, eine alte Gewohnheit, die stets hervorbrach, wenn sie sich ängstigte. »Ich kenne ihn doch gar nicht.«

»Hadere nicht, Kind. Eine Tochter muss dem Familienoberhaupt gehorchen. Pack nun deine Sachen und komm.« Mit diesen Worten ging Methildis und schloss die Tür des kargen Raums hinter sich.

Leonore setzte sich auf und schüttelte benommen den Kopf. Ihr Vater. Warum ängstigten sie diese Worte? Müsste sie sich als gute Tochter nicht freuen, dass sie in den Schoß ihrer Familie zurückkehren durfte? Aber es war eine Familie, die sie nicht kannte. An die sie sich nicht erinnerte. Ihre Mutter war im Kindbett gestorben, und der Vater hatte seine Tochter in die Obhut der Benediktinerinnen gegeben, sobald sie das fünfte Jahr erreicht hatte, und sich dann nicht weiter um sie gekümmert. Zwölf Jahre lebte sie nun schon bei den Nonnen und betrachtete die Schwestern als ihre Familie. In Sankt Marien fühlte sie sich heimisch. Leonore fröstelte und rieb sich die Arme. Vorsichtig setzte sie ihre bloßen Füße auf den kalten Steinboden und eilte auf Zehenspitzen zu der Holztruhe, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Hastig zerrte sie die Kleidungsstücke heraus. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie die weiche Seide fühlte. Doch bald setzte sich wieder eine Kummerfalte auf ihre Stirn. Schwester Methildis hatte gut reden. Das beste Kleid anziehen. Die Wahl fiel leicht, wenn man nur zwei Kleider besaß. Beide hatte Leonore im letzten Jahr von ihrem Vater gesandt bekommen und selbst umgearbeitet, damit sie ihrer zierlichen Gestalt passten. Eine noch größere Überraschung als das wertvolle Geschenk war die Nachricht gewesen, dass ihr Vater noch lebte. Gar nicht weit entfernt in Braunschweig lebte – und offenbar nicht schlecht, wenn er ihr so prachtvolle Kleider schicken konnte. Sechzehn Jahre lang hatte sie geglaubt, ein Waisenkind zu sein, und plötzlich tauchte ihr Vater auf und mischte sich in ihr Leben ein. Sein Brief an die Äbtissin und die Anweisung, dass Leonore den Schleier nicht nehmen sollte, hatten das Mädchen tief erschüttert. Ihr Lebensweg, der so klar vorgezeichnet schien, hatte sich von einem Tag auf den anderen geändert.

Schwester Methildis hatte versucht, sie zu beruhigen. »Dein Vater wollte sich alle Möglichkeiten offen halten«, meinte die Büchermeisterin und gab Leonore Handschriften zum Kopieren, um sie von ihren Sorgen abzulenken. »Vielleicht entscheidet er im nächsten Jahr, dass du für immer hier im Kloster bleiben kannst.«

Doch Leonore hatte damals schon geahnt, dass es anders kommen würde. Niemand schickte einer Benediktinerin grundlos farbenfrohe Kleider. Viele Tage wartete sie, gekleidet in blaue oder türkisfarbene Seide. Wartete auf den Vater, der nicht kam. Viele Tage fürchtete sie, dass der fremde Vater sie zu sich nach Braunschweig rufen lassen würde und ihr ein Leben drohte, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Eine Welt, die sie schon vor langer Zeit gegen den Frieden des Klosters eingetauscht hatte. Doch die Wochen vergingen, und nichts geschah. Es schien, als hätte der Vater sie einfach wieder vergessen. Da legte Leonore die Kleider sorgfältig zusammen, verstaute sie in der Truhe und kleidete sich wieder in die Farben der Benediktinerinnen. Alle Gedanken an ihren Vater hatte sie mit den Kleidern verborgen.

Heute nun kehrten die Ängste zurück. Draußen wartete ein Wagen, der sie aus Sankt Marien entführen würde. Zu einem Fremden, den sie Vater nennen sollte. Der türkisfarbene Stoff raschelte, als sie sich das Kleid überzog. Leonore schluckte, Tränen traten ihr in die Augen, und sie fühlte sich mit einem Mal, als ob sie an einem tiefen Abgrund stünde, kurz davor, hinuntergestoßen zu werden. Dabei wollte sie sich nur noch verkriechen. Sie warf sich aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kissen und weinte über das Geschick, das ihr Leben getroffen hatte.

In ihrer Verzweiflung hatte sie nicht bemerkt, dass Schwester Methildis zurückgekehrt war. »Komm, Kind, es wird Zeit.« Die Nonne reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Leonore wischte sich die Augen und suchte Fassung zu gewinnen. Ihr kamen leicht die Tränen, aber Weinen würde jetzt nicht helfen. Nein, sie wollte stark und tapfer sein und ihrem Vater gefasst gegenüber treten. Eilig kleidete sie sich an, faltete das blaue Kleid und legte es sorgfältig in einen Beutel. Die wenigen anderen Kleidungsstücke, die ihr gehörten, folgten. Obenauf legte sie ihren größten Schatz, ein Pergament mit Bibelworten, das ihr die Büchermeisterin geschenkt hatte. Sie nickte Schwester Methildis zu und warf einen letzten Blick in die Kammer, in der sie einen Großteil ihres Lebens verbracht hatte.

Stumm schlich Leonore hinter der alten Nonne her, versuchte, die Gänge, durch die sie so häufig gelaufen war, mit den Augen in sich aufzunehmen, um sich später an sie erinnern zu können. Im Hintergrund hörte sie die vertrauten Geräusche des Tagesbeginns im Kloster. Die Schwestern strebten in die kleine Kapelle zu den Laudes. Nie hätte Leonore geglaubt, dass sie mit Sehnsucht an das Morgengebet denken würde. Heute würde sie das Kloster verlassen, ohne noch einmal dem Offizium nachkommen zu können. Wehmütig erinnerte sich Leonore an die vielen, vielen Morgen, an denen sie knapp an Zeit die Gänge entlang geeilt war, um noch rechtzeitig zu den Morgengebeten in der Kapelle zu sein. Wie oft hatte sie sich gewünscht, noch etwas schlafen zu können, sich in die Decke zu schmiegen, und hatte die eiserne Disziplin der Benediktinerinnen gefürchtet.

Als Kind hatte sie ihre Mühe mit den Ritualen und Regeln der Schwestern gehabt, hatte oft mit sich und dem Leben gehadert, weil es sie an diesen Ort geführt hatte. Im Laufe der Jahre aber lernte Leonore die Sicherheit und Beständigkeit zu schätzen, die das Klosterleben ihr bot. Bald konnte sie sich ein Leben außerhalb des Klosters kaum mehr vorstellen. Sie genoss es, jeden Tag ihren Aufgaben im Kräutergarten oder in der Bibliothek nachzugehen. Sie lächelte, als sie an die geliebten Arbeiten dachte. Wie gerne hegte und pflegte sie die Kräuter und Pflanzen im Klostergarten. Stunde um Stunde hatte sie unter der Anleitung von Schwester Flordelis vor den Beeten gekniet, die warme Erde gerochen und sich den Setzlingen gewidmet. Jede einzelne Pflanze liebten die Nonnen, Schnecken und andere Schädlinge verfolgten sie dagegen mit aller Härte. Für Leonore blieb der Garten ein freundlicher Ort, wo sie ihren Gedanken nachhängen und einer Tätigkeit nachgehen konnte, die sie beherrschte. Jedes Jahr wieder bewunderte sie die Schöpfung, wenn aus den Samen und Setzlingen Kräuter und Blumen erwuchsen.

Neben dem Kräutergarten galt ihre Liebe der Arbeit in der Klosterbibliothek. Die Stunden, in denen sie Bücher abschrieb und mit größter Sorgfalt Buchstaben auf Pergamente malte, zählten für Leonore zu den schönsten Augenblicken ihres Lebens. Zwischen den Schriftrollen, unter der Anleitung von Schwester Methildis, hatte das unglückliche Kind eine Welt entdeckt, in der es nicht ungeschickt und fehl am Platze wirkte, sondern für die es alle Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbrachte. Nach kurzer Zeit beherrschte sie die Kunst des Schreibens und der Büchermalerei so gut wie ihre Lehrmeisterin. Wer nur würde jetzt ihren Platz einnehmen und die Pergamente kopieren? Etwa Walpurga mit den dicken Händen und ungeschickten Fingern, die stets Tinte über die Schriftrollen verschüttete? Oder, schlimmer noch, Margaret, die Quirlige, die nie stillsitzen konnte und sich ständig verschrieb? Leonore seufzte. Warum musste sie alles aufgeben, um nach Braunschweig zu reisen? In eine fremde Stadt, zu einem Unbekannten, der sich ihr Vater nannte. Warum hatte er sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal besucht, sondern schickte jetzt nach ihr wie nach Gesinde? Schwester Methildis drehte sich zu ihr um, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

»Komm, Kind.« Die Nonne lächelte ihr zu. »Wir Frauen müssen uns in unser Schicksal fügen. So will es unsere Bestimmung.«

»Aber nein!«, brach es aus Leonore...

Erscheint lt. Verlag 7.6.2021
Reihe/Serie Die große Pilgerinnen Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 13. Jahrhundert • Braunschweig • Deutschland • Frauenschicksal • Gesellschaft • Heilige Stadt • Historischer Roman • Jerusalem • Kreuzzug • Liebe • Mittelalter • Mord • Niedertracht • Pilger • Pilgerin • Rache • Roman • Verbrechen
ISBN-10 3-8412-2717-1 / 3841227171
ISBN-13 978-3-8412-2717-1 / 9783841227171
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