Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen -  Virginia Woolf

Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen (eBook)

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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70295-5 (ISBN)
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Immer wieder hat sich Virginia Woolf mit der Frauenfrage befasst. Am berühmtesten ist wohl ihr hellsichtiger Essay Ein Zimmer für sich allein (1929). In Vom Verachtetwerden, zehn Jahre später erschienen, ist Woolfs Ton weniger ironisch, ihre Haltung unnachgiebiger. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fragt sie sich, wie Frauen einen Krieg verhindern sollen, wenn sie ausgeschlossen sind von Aufgaben in Öffentlichkeit und Politik, und übt damit grundsätzliche Kritik am Patriarchat. Auf eindrückliche Weise verbindet Woolf hier schon früh das Private mit dem Politischen, den Aufstieg der Faschisten mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Macht- und Denkstrukturen: Die Wurzel des Faschismus liege in der Vorherrschaft des Mannes in sämtlichen Lebensbereichen. Aber Woolf kritisiert nicht nur, sondern entwirft auch ein utopisches Gesellschaftmodell, eine Welt, in der Frauen Familie und Erwerbstätigkeit verbinden, sich in Ausbildung und Beruf frei entfalten, wirtschaftliche Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit erreichen: So könnten Frauen für dieselbe Sache arbeiten und kämpfen wie Männer, auf Augenhöhe mit ihnen. Woolfs noch heute hochaktueller Essay macht deutlich, dass Terror, Unrecht, Autoritarismus nur dann wirklich aus der Welt zu schaffen sind, wenn sie auch im »Kleinen« erkannt und bekämpft werden.

Virginia Woolf (1882-1941) gilt als Englands größte Autorin der Moderne. Ihre Romane werden in einem Atemzug mit James Joyce und Marcel Proust genannt, zudem verfasste sie zahllose Essays und hinterließ umfangreiche Tagebücher. Obwohl Tochter einer wohlhabenden Intellektuellen-Familie - Thomas Hardy und Henry James gingen in ihrem Elternhaus ein und aus - hat sie nie eine Schule, geschweige denn eine Universität besucht. 1917 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Leonard den Verlag The Hogarth Press, in dem auch »Ein Zimmer für sich allein« erschien. Als Opfer sexuellen Missbrauchs in der Familie, litt sie zeitlebens unter wiederkehrenden schweren Depressionen. Am 28. März 1941 fand ihr Mann einen Brief auf dem Kaminsims, der mit den Zeilen begann: »Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde ...« Virginia Woolfs Leiche wurde in einem nahegelegenen Fluss entdeckt.

VIRGINIA WOOLF (1882–1941) gilt als Englands bedeutendste Autorin der Moderne. Ihre Romane werden in einem Atemzug mit denen von Joyce und Proust genannt, zudem verfasste sie etliche Essays und hinterließ umfangreiche Tagebücher. Obgleich Tochter wohlhabender Intellektueller – Thomas Hardy und Henry James gingen in ihrem Elternhaus ein und aus – hat sie nie eine Schule, geschweige denn eine Universität besucht. 1917 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Leonard den Verlag The Hogarth Press, in dem neben Vom Verachtetwerden auch ihr zweiter bedeutender feministischer Essay Ein Zimmer für sich allein erschien. Zeitlebens litt Virginia Woolf unter schweren Depressionen. Am 28. März 1941 fand ihr Mann einen Brief auf dem Kaminsims, der mit den Zeilen begann: "Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde ..." Virginia Woolfs Leiche wurde in einem nahe gelegenen Fluss entdeckt.

Eins


Drei Jahre sind eine lange Zeit, einen Brief unbeantwortet zu lassen, und Ihr Brief ist sogar noch länger ohne Antwort geblieben. Ich hatte gehofft, er würde sich von selbst beantworten oder andere würden es an meiner Stelle tun. Aber da liegt er mit seiner noch immer unbeantworteten Frage vor mir: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach ein Krieg verhindern?

Es ist wahr; viele Antworten haben sich aufgedrängt, aber keine ist darunter, die nicht einer Erklärung bedürfte, und Erklärungen brauchen Zeit. Und selbst dann gibt es Gründe, warum es so besonders schwierig ist, Missverständnisse zu vermeiden. Eine ganze Seite ließe sich mit Ausreden und Entschuldigungen füllen; mit Bekundungen der Untauglichkeit, der Inkompetenz, eines Mangels an Wissen und Erfahrung; und sie wären wahr. Und nachdem sie ausgesprochen worden wären, würden immer noch einige so fundamentale Schwierigkeiten bleiben, dass sich ein Verstehen Ihrerseits oder eine Erklärung unsererseits als unmöglich erweisen könnte. Aber einen so bemerkenswerten Brief wie den Ihren – einen Brief, der in der Geschichte der menschlichen Korrespondenz vielleicht einzigartig ist, denn wann hat ein gebildeter Mann je zuvor eine Frau gefragt, wie ihrer Meinung nach ein Krieg verhindert werden kann? – lässt man nicht so gern unbeantwortet liegen. Unternehmen wir also den Versuch, auch wenn er zum Scheitern verurteilt ist.

Entwerfen wir zunächst das, was alle Briefschreiber instinktiv entwerfen, eine Skizze der Person, an die sich der Brief richtet. Ohne eine warme und atmende Person am anderen Ende der Seite sind Briefe wertlos. Sie also, der diese Frage stellt, sind ein bisschen grau an den Schläfen, das Haar auf dem Kopf ist weniger dicht. Sie haben die mittleren Lebensjahre nicht ohne Anstrengung erreicht, in der Anwaltschaft; aber im Großen und Ganzen war Ihr Weg erfolgreich. Nichts Vertrocknetes, Gehässiges oder Unzufriedenes liegt in Ihrem Gesichtsausdruck. Und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, Ihr Erfolg – Ehefrau, Kinder, Haus – ist verdient. Sie sind nie in die zufriedene Apathie der mittleren Jahre versunken, denn, wie mir Ihr Brief aus einem Büro im Herzen von London zeigt, anstatt den Kopf ins Kissen zu stecken, die Kühe zu stoßen, die Kirschen zu stutzen – schreiben Sie Briefe, besuchen Versammlungen, führen den Vorsitz über dies und das und stellen mit Geschützdonner in den Ohren Fragen. Ansonsten haben Sie Ihre Ausbildung an einer der besten Privatschulen begonnen und an der Universität abgeschlossen.

Hier taucht nun die erste Schwierigkeit in der Verständigung zwischen uns auf. Zeigen wir rasch, warum. Wir entstammen beide dem, was man in dieser hybriden Zeit, in der trotz unterschiedlicher Herkunft Klassen fest verankert bleiben, der Einfachheit halber die gebildete Klasse nennt. Wenn wir uns in Fleisch und Blut begegnen, sprechen wir mit demselben Akzent; benutzen Messer und Gabel auf dieselbe Weise; erwarten, dass uns Dienstmädchen das Dinner bereiten und nach dem Dinner abwaschen, und während des Dinners können wir uns ohne große Schwierigkeiten über Politisches und Persönliches unterhalten; Krieg und Frieden, Barbarei und Zivilisation – über all die Fragen, die Ihr Brief aufwirft. Darüber hinaus verdienen wir beide unseren Lebensunterhalt selbst. Aber … Diese drei Punkte markieren einen Abgrund, eine Kluft, die so tief zwischen uns klafft, dass ich drei Jahre und länger auf meiner Seite gesessen und mich gefragt habe, ob es irgendeinen Sinn hat, über sie hinwegzusprechen. Bitten wir also jemand anderen – Mary Kingsley –, für uns zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen jemals offenbart habe, dass die Erlaubnis, Deutsch zu lernen, der einzige bezahlte Unterricht war, den ich je erhielt. Zweitausend Pfund wurden für den meines Bruders ausgegeben, ich hoffe noch immer, nicht vergeblich.« Mary Kingsley spricht nicht nur für sich selbst, sie spricht, immer noch, für viele Töchter gebildeter Männer. Und sie spricht nicht bloß für sie; sie weist auch auf eine sehr wichtige sie betreffende Tatsache hin, eine Tatsache, die alles Folgende zutiefst beeinflusst: auf Arthurs Bildungsfonds. Sie, der Sie Thackerays Pendennis gelesen haben, werden sich daran erinnern, welche Rolle die geheimnisvollen Buchstaben A.B.F. in den Haushaltsbüchern spielen. Seit dem dreizehnten Jahrhundert zahlen englische Familien Geld auf dieses Konto ein. Von den Pastons bis zu den Pendennis, alle gebildeten Familien zahlen seit dem dreizehnten Jahrhundert bis heute Geld auf dieses Konto ein. Es ist ein unersättlicher Topf. Viele Söhne auszubilden verlangte große Anstrengungen vonseiten der Familie, damit er immer gefüllt blieb. Denn Ihre Ausbildung bestand nicht allein im Lernen aus Büchern; Sport bildete Ihren Körper aus; Freunde brachten Ihnen mehr bei als Bücher oder Sport. Die Unterhaltung mit ihnen erweiterte Ihren Horizont und bereicherte Ihren Geist. In den Ferien reisten Sie; erwarben sich einen Sinn für Kunst; Kenntnisse der auswärtigen Politik, und ehe Sie Ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten, gab Ihr Vater Ihnen einen Zuschuss, mit dem es Ihnen möglich war, Ihr Leben zu finanzieren, während Sie den Beruf erlernten, der Sie heute als verdienter Jurist dazu berechtigt, Ihrem Namen die Buchstaben K.C. hinzuzufügen. All das entstand aus Arthurs Bildungsfonds. Zu welchem Ihre Schwestern, wie Mary Kingsley andeutet, ihren Beitrag leisteten. Nicht nur ist ihre eigene Bildung in ihn eingeflossen, mit Ausnahme solcher kleinen Beträge wie dem zur Bezahlung der Deutschlehrerin; auch viele der Vergnügungen und Extras, die letztendlich einen wesentlichen Teil der Bildung ausmachen – Reisen, Gesellschaft, Abgeschiedenheit, eine Unterkunft außerhalb des Elternhauses –, gingen in ihn ein. Er war ein unersättlicher Topf, eine handfeste Tatsache – Arthurs Bildungsfonds –, so handfest, dass sie einen Schatten auf die gesamte Landschaft warf. Und in der Folge sehen wir, obwohl wir dasselbe betrachten, unterschiedliche Dinge. Was ist diese Ansammlung von Gebäuden dort mit ihrem halb klösterlichen Erscheinungsbild, mit Kapellen und Hallen und grünen Sportplätzen? Für Sie ist es Ihre alte Schule, Eton oder Harrow, Ihre alte Universität, Oxford oder Cambridge, die Quelle von Erinnerungen und unzähligen Traditionen. Für uns aber, die wir durch den Schatten von Arthurs Bildungsfonds sehen, ist es ein Tisch in einem Klassenzimmer, ein Omnibus auf dem Weg zu einer Unterrichtsstunde, eine kleine Frau mit einer roten Nase, die selbst nicht sehr gebildet ist, aber eine kranke Mutter zu versorgen hat und seit Erreichen der Volljährigkeit einen Zuschuss von 50 Pfund im Jahr erhält, von denen Kleidung gekauft, Geschenke gemacht und Reisen unternommen werden müssen. Das ist die Wirkung, die Arthurs Bildungsfonds auf uns hatte. Auf so magische Weise verändert er die Landschaft, dass die edlen Höfe und Gevierte von Oxford und Cambridge den Töchtern gebildeter Männer oft wie löchrige Unterröcke erscheinen, wie kalte Hammelkeulen und wie der Zug, der zur Fähre ins Ausland abfährt, während der Schaffner ihnen die Tür vor der Nase zuschlägt.

Die Tatsache, dass Arthurs Bildungsfonds die Landschaft verändert – die Hallen, die Sportplätze, die heiligen Bauwerke –, ist von großer Bedeutung; aber dieser Aspekt muss zukünftigen Diskussionen vorbehalten bleiben. Angesichts der wichtigen Frage, die es hier zu betrachten gilt – wie sollen wir Ihnen helfen, einen Krieg zu verhindern –, geht es uns nur um die in diesem Zusammenhang offensichtliche Tatsache, dass Bildung etwas bewirkt. Eine gewisse Kenntnis der Politik, der internationalen Beziehungen, der Wirtschaft ist offensichtlich nötig, um die Ursachen zu verstehen, die zu Kriegen führen. Die Philosophie, sogar die Theologie könnten hilfreich sein. Als Ungebildeter, als jemand ohne geschulten Geist, könnten Sie sich mit solchen Fragen nicht zufriedenstellend befassen. Krieg als Folge unpersönlicher Kräfte übersteigt, wie Sie zugeben werden, das Verständnisvermögen des ungeschulten Geistes. Krieg als Folge der menschlichen Natur hingegen ist etwas anderes. Wenn Sie nicht glauben würden, dass die menschliche Natur, die Beweggründe, die Gefühle gewöhnlicher Männer und Frauen zu Kriegen führen, hätten Sie nicht mit der Bitte um Hilfe an uns geschrieben. Sie müssen zu dem Schluss gekommen sein, dass Männer und Frauen hier und jetzt imstande sind, ihren Willen geltend zu machen; sie sind keine Schachfiguren oder Marionetten, die an Schnüren tanzen, von unsichtbaren Händen gehalten. Sie können eigenständig handeln und denken. Vielleicht können sie sogar die Gedanken und Taten anderer beeinflussen. Diese Art der Überlegung muss Sie dazu gebracht haben, sich an uns zu wenden; und zu Recht. Denn glücklicherweise gibt es einen Bildungszweig, der unter die Rubrik »unbezahlte Bildung« fällt – jenes Verständnis vom Menschen und von seinen Motiven, das, löst man den Begriff aus seinen wissenschaftlichen Zusammenhängen, Psychologie genannt werden könnte. Die Ehe, jener große Beruf, der unserer Klasse seit Anbeginn der Zeit bis ins Jahr 1919 als einziger offensteht, Ehe, diese Kunst, den Menschen auszuwählen, mit dem sich das Leben erfolgreich leben lässt, sollte uns einige Fertigkeiten in diesem Fach gelehrt haben. Aber hier sind wir mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert. Denn obwohl beide Geschlechter viele Instinkte miteinander gemein haben, war das Kämpfen doch immer die Gewohnheit des Mannes, nicht die der Frau. Gesetz und Brauch haben diesen...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2021
Reihe/Serie Gatsby
Nachwort Antje Ràvik Strubel
Übersetzer Antje Rávik Strubel
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Essay • Feminismus • Gesellschaft • Sexismus
ISBN-10 3-311-70295-6 / 3311702956
ISBN-13 978-3-311-70295-5 / 9783311702955
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