Die Matrosen der Schweiz (eBook)
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32172-2 (ISBN)
Jens Sparschuh, geboren 1955 in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), studierte von 1973-1978 Philosophie und Logik in Leningrad. 1983 promovierte er in Berlin, seitdem arbeitet er freiberuflich. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen und Kinderbüchern. 2009 erschien »Putz- und Flickstunde« (zusammen mit Sten Nadolny). 1989 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2018 den Prix Chronos und 2019 den Günter-Grass-Preis.
Jens Sparschuh, geboren 1955 in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), studierte von 1973–1978 Philosophie und Logik in Leningrad. 1983 promovierte er in Berlin, seitdem arbeitet er freiberuflich. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen und Kinderbüchern. 2009 erschien »Putz- und Flickstunde« (zusammen mit Sten Nadolny). 1989 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2018 den Prix Chronos und 2019 den Günter-Grass-Preis.
Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken
Mickel? Da muss man nicht lange suchen, man findet sowieso nichts – zumindest, wenn man den elektronischen Weltgeist Amazon befragt. Der vermeldet zur Suchanfrage Mickel, Karl, Schriften: »Derzeit nicht verfügbar. Ob und wann dieser Artikel wieder vorrätig sein wird, ist unbekannt.« Ich vermute, das ist sehr wohl bekannt.
Aber egal, Gesammelte Werke haben ja ohnehin immer etwas von einem Ehrengrab an sich. Man geht respektvoll daran vorbei – und fertig. Da steige man also besser gleich hinab in die staubigen Katakomben des zvab.com, des Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher, und begebe sich dort auf Detailsuche – in diesem übersichtlichen Labyrinth ist tatsächlich noch einiges zu finden.
Die fein säuberlich aufgelisteten Benutzungsspuren nebst jenen Signaturen, die die verstrichene Zeit inzwischen gut sichtbar auf ihnen hinterlassen hat, machen Mickels Werke zu dem, was sie sind: zu Klassikerausgaben. Mal steht dort hinsichtlich des Zustands: »Insgesamt nachgedunkelt, gut, dem Alter entsprechend erhalten« oder auch: »Einband leicht fleckig, hinten mit kleinen Eselsohren«. Von der »Gelehrtenrepublik«, Reclam Leipzig, 1974, heißt es: »Vorderer Umschlag gilb- und staubfleckig. Innen sehr gut.« (Letzteres kann ich übrigens durchaus bestätigen.) Bei »Einstein/Nausikaa«, Rotbuch, 1974, steht: »... etwas angeknabbert« (– was auch immer man sich im Einzelnen darunter vorzustellen hat, ich stelle es mir lieber nicht vor). Ein Exemplar des Gedichtbandes »Eisenzeit«, ebenfalls Rotbuch, 1976, kann immerhin mit dem Hinweis »ungelesen« punkten. (Auch das: übliches Klassikerschicksal!) Der Reclam-Band »Odysseus in Ithaka«, Leipzig, 1976, ist »mit handschriftlichen Korrekturen vom Autor« versehen, deshalb kostet er 16,80 Euro.
Meinen »Odysseus« habe ich damals für 1,50 Mark bekommen. Das schmale Bändchen gehört bei mir zum eisernen Bestand. Die Haltbarkeit dieser Gedichte beruht ganz simpel darauf, dass sie ausschließlich Wesentliches enthalten, in ihnen also nichts Überflüssiges Platz hat, das (alles!) verderben könnte. Es verhält sich mit ihnen wie mit guten, erstklassigen Geräten: Durch Benutzung werden sie nur immer besser.
Nehme ich dieses schwarze Reclam-Bändchen zur Hand, fällt mir eine seltsame Spiegelung auf: Vorne steht, weiß auf schwarz: »Karl Mickel: Odysseus in Ithaka«, und hinten, auf dem Rücktitel, schwarz auf weiß: »Karl Mickel: in Berlin lebender Dresdener«.
Mickel kam von Dresden nicht los. Als Neunjähriger erlebte er den Untergang seiner Stadt; das Brandmal dieses Infernos trug er ein Leben lang. Mickels Odysseus verlässt im Titelgedicht des Bandes, ganz im Unterschied zu Homers Epos, Ithaka wieder: »Die Welt ein Schiff! voraus ein Meer des Lichts / Uns hebt der Bug, so blicken wir ins Nichts.«
1935 als Sohn eines Mühlenbautischlers geboren, hat er seine proletarische Herkunft nicht nur nicht verleugnet, er war stolz darauf, von ganz unten zu kommen. »Einmal«, so schreibt er im Text »Mein Heine«, »besuchte ich einen Mitschüler aus höherer, d. h. kleinbürgerlicher, Sphäre, dessen Eltern eine sog. Gute Stube zu unterhalten sich verpflichtet fühlten.« Dort machte er zum ersten Mal Bekanntschaft mit Goethe.
Karl Mickel verfügte über ein – und hier muss man einen Begriff aus der Asservatenkammer des real (nie!) existierenden Sozialismus verwenden – ausgeprägtes »Klassenbewußtsein«. (Das schloss übrigens auch ein Bewusstsein seiner eigenen Extra-Klasse mit ein.) Es fand Ausdruck in Texten, die auf einzigartige Weise, zugleich aber ganz selbstverständlich – und oft genug sogar in einer einzigen Zeile – das Hohe und das Niedere, Goethe und sächsischen Gossenjargon, zusammenbrachten.
Legendär ist sein Gedicht »Der Tisch« aus dem Jahr 1973, in dem er das väterliche Erbe antritt und vor den Augen des Lesers einen Tisch, 1,80 x 1,80, baut: Geschliffen im Blankvers fünfhebiger Jamben, setzt er ihn derart meisterlich zusammen, dass es ihn tatsächlich gibt, weil er – dank Mickels Handwerkskunst – einfach nicht mehr wegzudenken ist.
Von 1953 an studierte Mickel in Berlin Wirtschaftsgeschichte und Marxismus, später Archivkunde, und als er damit fertig war, war er noch lange nicht damit fertig. Wer ihn kannte, kannte ihn als einen stets Neugierigen. Dabei richtete sich diese Neu-Gier keineswegs auf das tagesaktuell Neue, sondern auf das vermeintlich Alte, auf die Klassiker, so als hätte dieser Arbeiterjunge aus Sachsen in einem, in seinem Leben all das nachholen wollen, was seinen Leuten aus der Unterschicht über Jahrhunderte hinweg vorenthalten worden war. Wie kaum ein anderer seiner Generation stiftete er den Bund von Sinn und Sinnlichkeit. Aus jener Zeit, 1957, stammt ein frühes Gedicht Mickels, »Reisen«, das mit der Strophe endet: »Die Hände streck ich aus dem Zug / Ich will mit der Hand sehn! / Hand Hand Windpflug / Begreifen ist schön.«
Ganz anders im Ton, krude, fast makaber, aber von vergleichbarem Impetus: das Finale des Gedichts »Inferno XXXIV. Für Kirsten« aus dem Jahr 1972: »Noch im Arsch des Teufels/ Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.« Mickels poetischer Imperativ lautete: Blicke Du durch.
1960 wurde er Redakteur der Zeitschrift »Junge Kunst«. Mickels 1966 veröffentlichtes Gedicht »Der See« löste eine vehement geführte Lyrikdebatte aus, die erst durch das Macht- und Schlusswort eines ZK-Funktionärs beendet wurde. Dieses Gedicht verschaffte Mickel ein Publikationsverbot. Zynisch gesprochen: Es zeugte immerhin von einer hohen Wertschätzung der Literatur, von einem fast religiösen Glauben an die Macht des Wortes, dass man in der DDR, in der es – schon weil es am rein Materiellen mangelte – erstaunlich idealistisch zuging, für ein Gedicht mit einem Publikationsverbot belegt werden konnte. Umständehalber begann Mickel zu übersetzen; und, vor allem, er verzog sich zu den Klassikern.
Sein diesbezügliches Wissen war mitunter beängstigend, aber nie einschüchternd. Was er wusste, teilte er gern mit anderen.
Nach 1990 waren wir beide Autoren des Kölner Theaterverlags Nyssen & Bansemer. In einem Band dieses noblen, nicht mehr existenten Verlages hatte ich – in aller Unschuld – eine für mich damals bahnbrechende Erkenntnis notiert, zu der ich bei der Lektüre von Schillers »Die Bürgschaft« gekommen war: Die magischen drei Hindernisse, die sich dem zur pünktlichen Rückkehr verpflichteten Möros in den Weg stellen, lauten ja der Reihe nach: 1. Regen; 2. Räuberbande; 3. Ruhebedürfnis des Helden. Letzteres also, nach der inneren Logik der Steigerung, das schwerste. Der Held ist einfach müde. Was für ein dramatischer Höhepunkt! Und dabei so nachempfindbar alltäglich.
Mickel, mit dem ich nach einem Essen bei unserer Verlegerin Dr. Ute Nyssen noch zusammensaß und der selbst mit ein paar Couplets in diesem Band vertreten war, goutierte grinsend, zwischen zwei Zigarrenzügen, meine eher psychologische Lesart. Das hätte es von mir aus eigentlich gewesen sein können. Doch dann setzte Mickel aus dem Stand zu einem Exkurs an, der mich sprachlos machte. (Dass Mickel in den 1960er-Jahren einmal einen großen Essay zu Schillers »Bürgschaft« geschrieben hatte, entdeckte ich – zu meiner großen Beschämung – erst sehr viel später.)
Er begann mit dem Briefwechsel von Goethe und Schiller, namentlich jenem, übrigens auswendig von ihm herbeizitierten, sachlichen Einwand, den Goethe am 5. September 1789 vorgebracht hatte: »In der Bürgschaft möchte es physiologisch nicht ganz zu passieren sein, daß einer, der sich an einem regnigten Tag aus dem Strome gerettet, vor Durst umkommen will, da er noch ganz nasse Kleider haben mag«, es ging weiter mit einer Deutung der historisch-materialistischen Analyse in Brechts Parodie der Schillerballade und wurde zu einer grundsätzlichen wirtschaftshistorischen Erörtertung des aus der Finanz- und Kreditwirtschaft stammenden Begriffs der »Bürgschaft«, worauf sich nun vor meinen staunend aufgerissenen Augen der Tyrann in einen Gläubiger, die Freunde in Schuldner und Bürge verwandelten. – Chapeau, Charles!
Die Studenten an der Hochschule für Ökonomie, wohin Mickel in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre mit einem Lehrauftrag zurückgekehrt war, müssen jedenfalls ungemein von Mickels zeitweiligem Publikationsverbot profitiert haben. Damals begann er mit seinem Anti-Roman »Lachmunds Freunde«. 1970 berief Helene Weigel ihn als dramaturgischen Mitarbeiter an das BE. 1978 wurde Mickel Dozent, ab 1992 Professor für Verssprache und -geschichte an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch.
Hat man einmal mit seinen Gedichten begonnen, kann man es auch mit seinen Dramen, Operntexten oder dem in jeder Hinsicht merkwürdigen Roman »Lachmunds Freunde« aufnehmen. Er ist Mickels großer Experimentierraum, genauer: die Dunkelkammer, in der viele seiner Gedanken entwickelt wurden. Scharfe Trennlinien zwischen Kunst und Wissenschaft zog dieser Denkdichter ja nie. Davon zeugen insbesondere auch die »Mottek sagt«-Gedichte, die er seinem Lehrer, dem Wirtschaftshistoriker Professor Hans Mottek, gewidmet hat.
Einmal, wir saßen in der Karl-Liebknecht-Straße, erzählte ich ihm von einer russischen Ex-Kommilitonin. Die hatte jahrelang an einer Dissertation über einen seinerzeit sehr bekannten, inzwischen aber völlig vergessenen, zum Phantom gewordenen russischen Logiker des 19....
Erscheint lt. Verlag | 4.11.2021 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Arno Schmidt • Briefe • Das Leben kostet viel Zeit • Essays • Feuilleton • Fjodor Dostojewski • Heinrich Heine • Johann Wolfgang Goethe • Leonard Cohen • Porträts • Reden • Rezensionen • Thomas Mann • Uwe Timm • Vladimir Nabokov |
ISBN-10 | 3-462-32172-2 / 3462321722 |
ISBN-13 | 978-3-462-32172-2 / 9783462321722 |
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