Kant (eBook)
128 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61196-0 (ISBN)
Jörg Fauser wurde 1944 bei Frankfurt am Main geboren. Nach Abitur und abgebrochenem Studium lebte er längere Zeit in Istanbul und London. Er arbeitete u.a. als Aushilfsangestellter, Flughafenarbeiter, Nachtwächter. Ab 1974 widmete er sich hauptberuflich dem Schreiben. Seine Romane, Gedichte, Reportagen und Erzählungen sind eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur. Jörg Fauser verunglückte 1987 in der Nacht nach seinem Geburtstag tödlich bei München auf der Autobahn.
Es war der erste laue Abend im März, aber der Mann vor dem Hotel trug noch dunklen Mantel, Schal und Hut. Seine Brille reflektierte das Neonlicht über dem Eingang. Das Astra lag in einer Seitenstraße der Altstadt – Billardkneipen, Ramschläden, Sexshops und Secondhandboutiquen für Grenzgänger zwischen den Geschlechtern. Der Blick, den der Mann um sich warf, nachdem er Jimmy Chang seine Karte gegeben hatte, verriet, wie unbehaglich er sich fühlte.
»Dr. Eduard Kopmann, Generalvertretung der SPUMEX in der Bundesrepublik Deutschland, 8000 München-Bogenhausen.« Jimmy Chang, der Nachtportier, las so laut, dass Kant, der in der Halle saß und in einer alten Ausgabe der South China Morning Post blätterte, jedes Wort verstehen konnte. Für einen Anglo-Chinesen sprach Jimmy ein ziemlich verständliches Deutsch. »Und Sie möchten Herrn Kant in welcher Angelegenheit sprechen?«
»Privat bestimmt nicht, Menschenskind.«
Kant hob den Kopf. In diesem Satz steckte fast alles, was ihn an den Aufträgen reizte, die er manchmal übernahm: rauszufinden, wo die Verachtung in Angst umschlug. Und die Angst in Taten.
Er fing Jimmys Blick auf und nickte.
»SPUMEX, was ist das?«
Sie saßen im Salon auf der ersten Etage, den die Chinesen als Spielzimmer benutzten – schwere rote Samtvorhänge, schwarze Ledersessel, vergoldete Lampen und ein achteckiger, mit Filz bespannter Marmortisch. Ein Summer warnte vor ungebetenem Besuch. Hinter einer geheimen Tapetentür konnte sogar ein Roulettekessel verschwinden.
Dr. Kopmann steckte sich eine Zigarette an, ohne Kant eine anzubieten. »Eine Großhandelskette«, sagte er. »Früchte, Gemüse, Weine.«
»Interessant«, sagte Kant. »Aber ganz außerhalb meiner geschäftlichen Interessen. Von wem haben Sie meine Adresse?«
»Wir haben gemeinsame Bekannte, Herr Kant.«
Aus dem Mund Kopmanns, der seine schwere Kleidung wie einen Panzer trug, klangen auch diese Worte wie versuchte Körperverletzung.
»Ziemlich unwahrscheinlich. Ich war nur mal im Einzelhandel, und das ist auch schon lange her. Von welchen Bekannten sprechen Sie?«
»Sie haben doch diese – Freundin?«
»Verzeihung, welche Freundin?«
»Frau Hutwalker. Vanessa Hutwalker.«
Kopmann drückte seine Zigarette aus und tupfte sich mit dem dunklen Schal den Schweiß von der Stirn. Den Mantel hatte er anbehalten. Den Hut auch. Kant saß in einem Leinenhemd da. Die Chinesen hatten es gern warm.
»Und meine Frau …«
»… kennt Vanessa von ihrer Beauty-Farm«, ergänzte Kant den Satz. »Es geht also um Ihre Frau, Herr Kopmann.«
»Es geht um meine Frau«, sagte Kopmann, und zum ersten Mal klangen seine Worte nicht wie ein verbaler Genickschuss.
»Da muss ich Ihnen aber gleich etwas dazu sagen«, unterbrach ihn Kant. »Scheidungssachen, Ehekrisen, Partnertausch, Hausfreunde und Sex-Saunas übernehme ich nicht, Herr Dr. Kopmann. So wenig wie Heiratsschwindel und betrügerischen Bankrott. Da müssten Sie sich schon an jemanden vom Bund Deutscher Detektive wenden, die haben die Hardware und die innere Einstellung.«
»Und was übernehmen Sie, Herr Kant?«
»Da halte ich es mit meinem bekannten Namensvetter aus Königsberg«, sagte Kant und griff nach seinem Zigarrenetui. »Ich übernehme alles mit einem kategorischen Imperativ.«
»Dann bin ich bei Ihnen goldrichtig«, sagte Kopmann und nahm den Hut ab.
Neun Uhr morgens war für Kant so abenteuerlich früh, dass er gleich wachgeblieben war. Rund um den Shakespeare-Platz Spaziergänger und Hunde, Mütter und Kinder und ein Ozongehalt in der Luft, der ihm auf den Kreislauf schlug. Um 3 nach 9 traten sie aus dem Eingang einer Jugendstilvilla. Dr. Kopmann bekam ein Küsschen, und die Frau – dunkler Pagenkopf, weißer Morgenmantel – sah zu, wie er den Benz aus der Garage holte und davonfuhr. Dann noch ein Blick auf die Blumenrabatten im Vorgarten, und sie verschwand im Haus. Kant widmete sich dem Wirtschaftsteil der FAZ.
Etwas Warmes, Trockenes auf seinem Gesicht, die Frühlingssonne, gut. Etwas Weiches, Feuchtes an seinem Bein, ein Hund, nicht so gut. Kant teilte einen Tritt aus und stellte zu spät fest, dass er ein Kind getreten hatte, das auf dem Weg zum Sandkasten an seine Wade geraten war. Gebrüll. Kindermädchen, Rentner, Voyeure, auch die Köter ergriffen Partei gegen ihn. Er flüchtete zu seinem Auto. Ein rotes Alfa-Romeo-Sportcoupé, auch das noch. Ein Mistfink warf ihm tatsächlich eine Wurstsemmel nach, ein Gurkenschnitz pappte an der Windschutzscheibe. Als er um die Ecke bog, fuhr sie gerade in einem taubengrauen Golf GTI aus der Garage. Schnüfflerglück.
Lisa Kopmann, 41, seit 16 Jahren verheiratet mit Dr. Eduard Kopmann, 53, eine Tochter, 15. Für ihn die zweite, für sie die erste Ehe. Ein Klassiker – im gleichen Betrieb kennengelernt, Filmbranche, Kopmann Einkäufer, Lisa Sekretärin. Nach der Heirat dann neue Gefilde, Zelluloid eher passé, Südfrüchte im Kommen, Hausse in Weinen, Bonanza in Kiwis. Von der SPUMEX geschluckt, aber Generalvertretung, Superjob, von Messe zu Fachausstellung, von Wining zu Dining, Frau zu Hause, erste Adresse, ein Kind. Lisa Kopmann, 41, was tun?
Der Alte hatte ihm leidgetan, das war es. Ein Haufen Elend unter englischem Tuch, Panzer futsch nach drei steifen Drinks. Generalvertreterleid, deutsche Männerseele ranzig wie ein Klumpen tibetanische Butter unter Höhensonne. Gegen jeden Instinkt, gegen alles bessere Wissen den Scheck mit dem Vorschuss kassiert, zwei Mille, Generalvertreter ließen sich nicht lumpen, und abgezockt worden mit einem Bubenpärchen nach allen Regeln der Blufferkunst von Max, dem Galeristen, dem nicht ein Bild seiner Sammlung mehr gehörte, nicht ein Fußbreit seiner Teppiche, nicht ein Porzellan seiner Erbschaft, nicht die Rolle, an der das Toilettenpapier hing, das ihm auch nicht mehr gehörte, geschweige denn sein Name oder seine Frau. Na und? Jedenfalls war es Kant, in aller Herrgottsfrühe, mitten auf der Straße, mitten in noch einem fragwürdigen Job.
An dem Golf konnte er, ohne aufzufallen, lange dranbleiben, von Bogenhausen bis zum Stachus im gleichmäßig fließenden Stadtverkehr. Im Parkhaus hatte Kant Glück und fand auf der gleichen Etage einen freien Platz. Ihren silbrigen Lackmantel behielt er leicht im Auge, auf der Straße war er einige Schritte hinter ihr. Guter Gang, gute Beine, sie war nicht gerade klein, die Sonne spielte mit den Silberfäden in ihrem schwarzen Kopftuch. An ihrem Arm wippte eine große Ledertasche. Sie betrat ein Kaufhaus. Shopping, dachte Kant. Was für eine öde Art, sein Geld zu verdienen, was für eine öde Arie, und wenn du sie verlierst, kannst du morgen weitermachen. Kein Ehekram, eiserne Regel gebrochen, und mit dem Vorschuss frühstückte Max jetzt im Roma Champagnersorbets und Wachteleier.
Lisa Kopmann nahm hier ein Dessous in die Hand, dort ein Parfüm. Schmales Gesicht mit dunkler Brille, nervöser Mund. Angespannt. Kleptomanin, schoss es Kant durch den Kopf, der sich selbst schon beobachtet fühlte von Verkäuferinnen und Fernsehaugen. In der Ehe völlig vereist, kann nicht mehr anders, braucht den heißen Schock, wenn sie zu Hause die Beute auspackt, eine Haushaltsseife für 1,89, ein Paar Nylons für 2,95. Könntest du gleich auf die Liste setzen, an die du dich doch nicht hältst, Scheidungssachen, Heiratsschwindel und Kleptomanie, wofür braucht man Kant? Privat bestimmt nicht. Aber zwischen den Hosenanzügen in den brandneuen Trendfarben und den Hotpants à gogo sah Lisa Kopmann so aus, als brauche sie jemanden äußerst privat.
Und dann verschwand sie in einer Umkleidekabine.
Kant war gezwungen, einen kleinen Bogen zu schlagen. Bodystockings, Negligés, die neuen Tanga-Modelle, er hätte dringend eine Zigarre gebraucht, eine zweite Jugend, eine Tätigkeit, die den Geist mehr forderte als seine schmutzige Fantasie. Er kehrte zu den Umkleidekabinen zurück, widerstand den abschätzigen Blicken der Substitutinnen. Cool, Kant, das kannste doch. So lange wird’s ja nicht dauern, bis Madame anprobiert hat.
Anprobiert? Er konnte sich nicht erinnern, dass sie etwas mitgenommen hatte in die Kabine. Außer ihrer Umhängetasche. Jetzt sieh mal zu, dass nichts anbrennt. Er fand einen Anprobierspiegel, der ihm erlaubte, die Kabinen im Auge zu behalten, ohne sie direkt anzustarren.
Trotzdem hätte er die Kopmann verpasst, wenn er nicht auf ihren Gang geachtet hätte. So wie sie schritten nur Frauen, die an Hochhackige seit Jahrzehnten gewöhnt waren. Obwohl er fast schwankte, als sie schon zusammen im Aufzug nach unten fuhren. Den Lackmantel hatte sie gewendet und trug jetzt das Gold nach außen. Dazu aber hochhackige, schwarze Lederstiefel, eine blonde Lockenperücke, einen blutroten Mund. Und ein Parfüm, das sogar Kant, der Parfüms für überflüssig hielt, zum Überfluss animiert hätte.
»Fahren Sie dem Kollegen nach.«
Für den Alfa war keine Zeit, als Lisa Kopmanns anderes Ich in ein Taxi...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2021 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Antiheld • BRD • Detektiv • Detektivgeschichte • Deutsche Literatur • Drogen • Drogenhandel • Entführung • Gemüse • Illegale • Jörg Fauser • Krimi • Kriminalgeschichte • Kriminalroman • Lösegeld • Pferderennen • Rotlichtmilieu • Schmuggel • Szene • Thriller • Wette |
ISBN-10 | 3-257-61196-X / 325761196X |
ISBN-13 | 978-3-257-61196-0 / 9783257611960 |
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