Stiller Schrecken (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2612-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stiller Schrecken -  James Ellroy
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Das schockierende Psychogramm eines Serienmörders Marty Plunkett war ein seltsamer Junge: ein Träumer - hochbegabt und eigenbrötlerisch. Doch im Kopf dieses Jungen ging Schreckliches vor ... So unglaublich es auch scheinen mag: Nichts in diesem Buch über die verdunkelte Seele eines Killers ist der bloßen Fantasie entsprungen, denn das Buch basiert auf gründlichen Recherchen mehrerer authentischer Kriminalfälle. 'Ellroy ist ein amerikanisches Phänomen, eine Kultgestalt zwischen Thomas Pynchon und Jeff Koons.' Die Zeit 'Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur.' Süddeutsche Zeitung 'Er schreibt die blutigsten Krimis Amerikas.' Zeit-Magazin 'Anarchisch kaputt, sexbesessen und mit einem unheimlichen Gespür für alles Pathologische, Zerstörerische ... Aus seinen Büchern weht der Wind des Bösen.' Bücherjournal 'Ellroy ist der wichtigste zeitgenössische Kriminalautor... seine Romane beginnen da, wo die Recherchen der Polizei nicht mehr weiterführen, und wenn sie enden, sind die Morde zwar geklärt, aber nichts wird dadurch besser.' Der Spiegel 'Einer der größten amerikanischen Autoren aller Zeiten.' L.A. Times

James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1981 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.

James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1981 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.

3


Meine Mutter verlangte nichts weiter, als dass ich ein vernünftiges Maß an Stille bewahrte und sie nicht mit Fragen danach belastete, was sie gerade denke. Darin war ihr Verlangen impliziert, dass ich bescheidene Zurückhaltung zeigte, in der Schule, beim Spielen und zu Hause. Wenn sie dieses Diktat für eine Strafe hielt, irrte sie sich: In meinem Kopf konnte ich gehen, wohin ich wollte.

Wie die anderen Kinder in der Nachbarschaft ging ich zur Grundschule in der Van Ness Avenue, gehorchte, lachte und weinte über lächerliche Dinge. Andere Kinder aber fanden Schmerz/Freude in äußeren Reizen, während sie bei mir von einer Filmleinwand reflektiert wurden, die sich an dem, was mich umgab, nährte und es für meine eigene, gehirninterne Betrachtung montierte, und zwar mit einem stahlscharfen geistigen Schneidegerät, das jederzeit genau wusste, was ich brauchte, um mich nicht zu langweilen.

Diese Vorführungen liefen so:

Miss Conlan oder Miss Gladstone etwa standen an der Tafel und salbaderten geschwollen. Sie verblassten visuell, proportional zu meiner wachsenden Langeweile, und unwillkürlich fingen meine Augen dann an, nach etwas zu suchen, was mich geistig wachhalten würde.

Die größeren Kinder saßen hinten im Klassenzimmer, und von meinem Pult an der linken hinteren Ecke hatte ich ein perfektes, diagonal nach vorn gerichtetes Blickfeld, das mir Profil­aufnahmen aller meiner Klassenkameraden gestattete. Wenn die Lehrerin visuell/ akustisch auf ein Minimum reduziert war, verschwammen die Gesichter der anderen Kinder ineinander und bildeten neue; Fetzen geflüsterter Gespräche fügten sich zusammen, bis Jungen/Mädchen-Hybriden aller Art mir ihre Unterwerfung erklärten.

In einem Vakuum geliebt zu werden war wie ein Wachtraum; der Straßenlärm klang wie Musik. Aber eine abrupte Bewegung im Zimmer oder das Klappern von Büchern, die draußen auf dem Gang zu Boden fielen, verdarb alles. Pieter, der große blonde Junge, der von der dritten bis zur sechsten Klasse neben mir saß, verwandelte sich von einem anbetungsvollen Vertrauten zu einem Monster, und der Geräuschpegel bestimmte, wie grotesk seine Züge wurden.

Nach langen, angstvollen Augenblicken fixierte ich dann den vorderen Teil des Klassenzimmers, konzentrierte mich auf die Schrift an der Tafel oder auf den Monolog der Lehrerin und warf, wenn ich glaubte, damit davonzukommen, irgendeine Zwischenbemerkung ein. Dies beruhigte mich und veranlasste die anderen Kinder, sich mir frontal zuzuwenden, was einen zündenden Funken in den Teil meines Gehirns warf, der schnelle, grausame Karikaturen produzierte. Gleich darauf hatte die hübsche Judy Rosen das große Pferdegebiss von Claire Curtis; der Popelfresser Bobby Greenfield fütterte Roberta Roberts mit seinen Rotzkügelchen und ließ sie auf die Kaschmirpullis fallen, die sie tagtäglich bei jedem Wetter in der Schule trug. Dann lachte ich bei mir, nur selten laut. Und ich fragte mich immer, wie weit ich’s noch bringen könnte – ob ich die Sache so weit würde verfeinern können, dass selbst der böse Lärm mir nicht mehr wehtun könnte.

Apropos wehtun – nur andere Kinder waren damals in der Lage, mir ein Gefühl der Verwundbarkeit zu geben, und schon mit acht oder neun war das mulmige Gefühl, in einem irrationalen Drang nach Vereinigung gefangen zu sein, körperlich spürbar – ein ahnungsvolles Entsetzen durchzuckte mich, die Verzweiflung, die in sexuelles Streben mündet. Ich bekämpfte dieses Bedürfnis, indem ich es verleugnete, für mich blieb und ein gehässiges Gebaren an den Tag legte, das keine Mätzchen von anderen Kindern hinnahm. In einem Artikel in einer der letzten Ausgaben von People hat ein halbes Dutzend meiner damaligen Altersgenossen aus der Nachbarschaft zum Besten gegeben, was sie von mir als Kind hielten. »Unheimlich«, »komisch«, »zurückgezogen« waren die Adjektive, die am häufigsten gebraucht wurden. Kenny Rudd, der damals auf der anderen Straßenseite wohnte und der heute Designer für Computer-Baseballspiele ist, kam der Wahrheit am nächsten: »Es hieß immer: Pfoten weg von Marty; der hat sie nicht alle. Ich weiß nicht, aber ich glaube, vielleicht hatte er mehr Angst als alles andere.«

Bravo, Kenny – obwohl ich froh bin, dass du und deine schwachsinnigen Kameraden diese schlichte Tatsache nicht kannten, als wir Kinder waren. Meine Seltsamkeit stieß euch ab und gab euch jemanden, den ihr aus sicherer Entfernung hassen konntet – aber hättet ihr gespürt, was ich damit verbarg, ihr hättet meine Angst ausgebeutet und mich dafür gequält. So aber ließt ihr mich in Ruhe und machtet es mir leichter, meine physische Umgebung zu entdecken.

Von 1955 bis 1959 erforschte ich die unmittelbare Topografie und erhielt dabei eine außergewöhnliche Sammlung von Fakten: Das Backstein-Apartmentgebäude an der Beechwood – zwischen Clinton und Melrose – hatte einen Haustierfriedhof an der Rückseite; die Reihe der neu erbauten »Junggesellennester« war aus verrottetem Holzwerk, minderwertigem Putzmaterial und Spanplatten zusammengeschustert; der apokryphe »Fickstall« war in Wirklichkeit eine Bungalow-Anlage am Raleigh Drive, wo ein Prof der University of Southern California mit College-Knaben homosexuelle Spiele trieb. Wenn der Müll abgeholt wurde, vertauschte Mr. Eklund, der ein Stück weiter oben wohnte, seine Ginflaschen mit den Sherryflaschen aus Mrs. Nultys Mülltonne, zwei Häuser weiter unten. Weshalb er das machte, war mir nicht klar, obwohl ich wusste, dass sie ein Verhältnis miteinander hatten. Die Bergstroms, die Seltenrights und die Munroes feierten im Juli ’58 eine Nacktparty am Pool der Seltenrights an der Rodgewood, und das war der Beginn einer Affäre zwischen Laura Seltenright und Bill Bergstrom – beim Anblick von Bills überproportionierter Bratwurst verdrehte Laura die Augen zum Himmel.

Und der Vorführer im Clinton Theatre verkaufte »Pep-Pillen« an die Mitglieder der Schwimmstaffel der Hollywood High School; und der »Phantom-Homo«, der zehn Jahre lang durch die Nachbarschaft gekreuzt war und nach kleinen Jungs geguckt hatte, war ein gewisser Timothy J. Costigan, der in der Saticoy Street in Van Nuys wohnte. In dem »Burgerville«-Stand an der Western Avenue taten sie klein gehäckseltes Pferdefleisch ins Chili – ich hörte, wie der Besitzer einmal abends mit dem Lieferanten redete, als sie glaubten, es hörte sie keiner. Ich wusste das alles – und lange Zeit genügte es mir, es zu wissen.

Die Jahre kamen und gingen. Meine Mutter und ich machten so weiter. Ihr Schweigen war erst überwältigend, dann normal, und das meine erst angestrengt später mühelos, als mein geistiger Erfindungsreichtum wuchs. Und in meinem letzten Jahr an der Junior High School stellten die Lehrer dann schließlich fest, dass ich nur sprach, wenn ich angeredet wurde. Dies veranlasste sie, mich zum Besuch bei einem Kinderpsychologen zu zwingen.

Er wirkte auf mich wie ein herablassender Mann mit einer unnatürlichen Neigung zu kleinen Kindern. Sein Büro war angefüllt mit einer nicht allzu subtil arrangierten Sammlung von Spielzeug – Stofftiere und Puppen, dazwischen Maschinenpistolen und Soldatenfiguren. Ich wusste sofort, dass ich schlauer war als er.

Er zeigte auf die Spielsachen, während ich mich auf die Couch setzte. »Ich hatte keine Ahnung, was für ’n großer Bursche du bist. Vierzehn. Das Spielzeug da ist für kleine Kinder, nicht für große Kerls wie dich.«

»Ich bin lang, nicht groß.«

»Ist das Gleiche. Ich bin klein. Kleine Kerls haben andere Probleme als große Kerls. Findest du nicht?«

Seine Fragerei war leicht zu durchschauen. Wenn ich »ja« sagte, würde ich damit zugeben, dass ich Probleme hatte; wenn ich »nein« sagte, würde er einen Sermon darüber ablassen, dass doch jeder Probleme hätte, und mir ein paar von seinen erzählen, um auf diese billige Tour mein Mitgefühl zu erwecken. »Weiß ich nicht. Ist mir auch egal«, sagte ich.

»Leute, denen ihre Probleme egal sind, sind sich meistens selber egal. Aber das ist ’ne verfluchte Einstellung, findest du nicht auch?«

Ich zuckte die Achseln und bedachte ihn mit dem ausdruckslos starren Blick, mit dem ich sonst die anderen Kinder auf Distanz hielt; gleich darauf schrumpfte er auf Stecknadelkopfgröße, und mein Geist konzentrierte sich auf einen Teddybären zu meiner Rechten. Innerhalb eines Sekundenbruchteils zielte der Teddy mit einer Plastikpanzerfaust auf den Kopf des Psychologen, und ich fing an zu kichern.

»Tagträume, mein großer Freund? Willst du mir sagen, was so komisch ist?«

Ich schaffte einen nahtlosen Übergang von meinem Hirnkino auf den Doktor und lächelte dabei. Ich sah, dass er beunruhigt war. Mein Blick fiel auf einen ausgestopften Bugs Bunny, und ich fragte: »Is’ was, Doc?«

»Martin, junge Leute, die sehr still sind, haben meistens eine Menge im Kopf. Du bist ein heller Kopf; deine Schulzeugnisse beweisen es. Findest du nicht, dass es Zeit ist, mir zu sagen, was du auf dem Herzen hast?«

Bugs Bunny fing an, mit den Augenbrauen zu wackeln und spielerisch am Hals des...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2022
Übersetzer Rainer Schmidt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Abgründe • Charles Manson • Eltern • Fetisch • Genie • Krimi • Kriminalität • Psychologie • Schizophrenie • Seele • Serienkiller • Serienmörder • Trampen • USA • Vampirismus • Verbrechen
ISBN-10 3-8437-2612-4 / 3843726124
ISBN-13 978-3-8437-2612-2 / 9783843726122
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