Wächter der letzten Pforte (eBook)
696 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-2142-1 (ISBN)
Henning Mützlitz durchwandert bereits seit der Kindheit phantastische Welten, bis er beschloss, seine eigenen zu erschaffen. Seit einem Redaktionsvolontariat ist er als freier Journalist und Schriftsteller tätig. Er ist unter anderem Chefredakteur des Genre-Magazins Geek!, in dem er sich mit verschiedenen Formen der Phantastik in Wort und Bild beschäftigt. Daneben schreibt er phantastische und historische Romane.
Kapitel 1
Liocas kam zu Bewusstsein. Die Schwärze, die ihn umfangen hatte, wich einem warmen Licht, das durch die Augenlider schien. Er zwang sich, die Augen zu öffnen und blickte in Richtung der tiefstehenden Sonne. Die Dämmerung tauchte das Tal in einen rötlichen Schimmer, und die langen Schatten der Viliastannen kündigten den Abend an.
Der Knappe richtete sich auf, doch als er sich einige Handbreit bewegt hatte, sank er stöhnend zurück auf den Boden. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Schlachtross niedergetrampelt, jeder Knochen im Körper schien ihn peinigen zu wollen.
Benommen blieb er auf der Seite liegen. Er starrte in die rauschenden Kronen der Bäume und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was ist nur geschehen? Seine Finger krallten sich im Erdreich fest. Der Boden war noch warm vom Tag, doch der Wind strich über seinen Körper und ließ ihn frösteln. Er trug einen scharfen Geruch mit sich.
Ein heiserer, unmenschlicher Schrei drang an Liocas’ Ohr, und Schatten stiegen vor ihm auf. Sein Verstand riet ihm, sich trotz der Qualen zu erheben. Er kämpfte gegen den übermächtigen Wunsch an, einfach liegenzubleiben, und bemerkte, dass er trotz der Schmerzen kaum verletzt war. Kein Knochen war gebrochen, und die dunklen Flecken auf seiner Kleidung stammten nicht von seinem eigenen Blut.
Endlich kam er auf die Knie.
Rundherum bot sich ein Bild, das die schlimmsten Prophezeiungen der Hohen Priesterschaft des Urias wie eine harmlose Gutenachtgeschichte wirken ließ: So weit Liocas sehen konnte, war die Landschaft von verkrümmten, verstümmelten und zerrissenen Leibern bedeckt. Inmitten dieses Todesfelds schien er das einzige menschliche Wesen zu sein, das sich noch bewegte. Schwärme von Krähen saßen auf den Toten und hockten auf den umliegenden Felsen und Bäumen. Die gierigen Schreie der Aasfresser vermischten sich zu einem grausamen Kanon.
Unzählige Leichen von barbarischen Kriegern, valdorischen Rittern und deren Pferden türmten sich bis zu den Rändern des Tals auf. In jede Himmelsrichtung erstreckten sich die blutgetränkten Körper wie ein Teppich aus Fleisch und Stahl, der sich über das fruchtbare Grün der sommerlichen Vegetation gelegt hatte. Aufgeschlitzte Körper, abgerissene Extremitäten und bis zur Unkenntlichkeit zugerichtete Gesichter tränkten das Tal des Flusses Asakon in Blut.
Neben-, über- und aufeinander lagen die Überreste der streitenden Heere, ihre Leiber teilweise derart ineinander verkeilt, dass sie wie ein Berg aus Innereien wirkten, die ein Fleischer zum Einkochen beiseitegelegt hatte. In groteske Verrenkungen verzerrt, ragten hier und da Hände oder Füße in den Himmel, anscheinend in einem letzten verzweifelten Versuch, den göttlichen Einen um Hilfe anzuflehen.
Doch er hatte sie nicht erhört.
Natürlich hat er sie nicht erhört, dachte Liocas. Ihm begannen Tränen über das Gesicht zu laufen. Warum sollte er auch? Warum jemanden retten, der sich schon vor Jahrhunderten von ihm abgewandt hatte? Dem Knappen stockte der Atem. Er riss sich den visierlosen Helm vom Kopf und begann angesichts des Massakers, das um ihn herum stattgefunden hatte, hemmungslos zu weinen.
Ein furchtbarer Gestank lag über dem Kampfplatz. Liocas krümmte sich, denn ihn überkam eine fürchterliche Übelkeit. Er übergab sich neben einem Pferdekadaver, der noch an einen eisenbeschlagenen tequarischen Kriegswagen gespannt war. Nachdem sich sein Magen in unendlichen Krämpfen entleert hatte, übermannte ihn die Verzweiflung vollends. Lange Zeit blieb er schluchzend am Boden liegen, umgeben von den zerrissenen Leibern einstmals stolzer Krieger.
Doch irgendwann wich das Entsetzen einer inneren Leere, so als weigere sich sein Bewusstsein, von dem Schrecken um ihn herum weiterhin Kenntnis zu nehmen. Zögerlich richtete er sich auf und versuchte, einige Schritte zu gehen. Bereits nach wenigen Fuß glitt er in einer Blutlache aus und schlug auf den Boden. Die leeren Augen eines rumpflosen Barbarenkopfs starrten ihn anklagend an. Liocas erschauderte, versuchte die erneut aufwallende Übelkeit zu unterdrücken, quälte sich auf und taumelte weiter.
Wie konnte das alles nur geschehen? War er tatsächlich der einzige, der dieses Inferno überlebt hatte? Oder hatte ihn sein Orden zurückgelassen, weil sie ihn für tot hielten? War er vielleicht tatsächlich gefallen und in die Tosenden Abgründe gefahren, in denen die Verfluchten ihre irdischen Schulden abbüßen mussten? War seine Seele dazu verdammt, hier zu verweilen, weil er versagt hatte?
Hastig versuchte er bekannte Gesichter unter den valdorischen Rittern zu erkennen. Doch das war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Ordenskrieger waren meist so fürchterlich entstellt, dass Liocas sich immer wieder mit Grausen abwenden musste.
Schwarze Vögel aufscheuchend, stolperte er weiter und fand nach einer Weile die Farben seines Ordens. Zumindest konnte er hier und da die blutgetränkten Überreste der Wappenröcke mit dem Zeichen des doppelköpfigen Löwen erkennen. Von den imponierenden Schlachtreitern war wenig mehr geblieben als eine diffuse Masse aus Fleisch und Metall, zwischen denen Kleidungsfetzen oder eine zerborstene Lanze hervorragten.
So sehr er es auch wollte, es gelang Liocas einfach nicht, den Blick von den Überresten der Kämpfer zu nehmen. Diese Hölle auf Erden konnte nicht das Ergebnis der Grausamkeit der gegnerischen Armee sein. So fanatisch und ungestüm die Reihen der Tequari-Barbaren auch auf die Ritter losgestürmt waren, das konnte einfach nicht das Werk von Menschen sein. Nein, hier hatte eine andere Macht ihren Zorn entladen.
Liocas sank auf die Knie und betete im Stillen zum Wächter aller Kraft für die Seelen seiner gefallenen Ordensbrüder. Während er zu seinem Gott sprach, spürte er, wie die Verzweiflung wich und Stärke in seine Glieder zurückkehrte. Er erhob sich und schaute sich um, um den schnellsten Ausweg aus dem Tal zu finden, das einem Massengrab glich, solange das letzte Licht des Tages noch die Möglichkeit dazu bot. Egal, in welche Richtung er sich wenden würde, wahrscheinlich konnte er diesem Alptraum nicht vor Einbruch der Dunkelheit entfliehen.
In nördlicher Richtung, aus der die Horden der Barbaren herangestürmt waren, schien sich der Totenteppich am weitesten zu erstrecken. Offenbar hatte sich irgendetwas mit unbändiger Gewalt von Süden her über den friedlich dahinströmenden Asakon hinweg durch das Tal bewegt, dabei die Schlachtreihen der Ordenskrieger und danach die gesamte Kriegshorde der Barbaren vernichtet.
War dieses Inferno von seinen eigenen Leuten ausgelöst worden? Waren vielleicht weitere Kameraden dem Tode entronnen?
Liocas versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, als die Schlacht losbrach: Die Panzerreiter der Allianz waren in breiter Formation auf die von den nördlichen Hügelkuppen angreifenden Barbaren zugeritten. Er war zusammen mit den Fußsoldaten seines Herrn Lord Volkos hinter ihnen marschiert. Nachdem die Ritter durch die ersten Reihen der Wilden hindurchgestürmt waren, und sich weitere Ströme schreiender Tequari in das Tal ergossen, war er in ein rücksichtsloses Hauen und Stechen in der Mitte der Senke verwickelt worden. Kaum jedoch, dass der Kampf begonnen hatte, war er nach einem Schlag gegen seinen Körper zu Boden gegangen und kurz darauf bewusstlos geworden. Wahrscheinlich hat mich ein Schild oder ein Wurfgeschoss getroffen. Er betastete seinen Kopf, fand aber weder eine Wunde noch eine Beule, die von einem Schlag herrühren konnte. Ihm tat zwar nach wie vor jede einzelne Faser des Körpers weh, eine Verwundung konnte er aber nicht entdecken.
Mein Helm! Der Helm hat mir das Leben gerettet, dachte er und dankte seinem Herrn mit einem weiteren kurzen Gebet.
Jetzt wird es Zeit, dass ich hier wegkomme. Vielleicht treffe ich im Süden auf andere Überlebende, die wissen, was passiert ist.
Er lief ein paar Schritte, doch sein Blick fiel unvermittelt auf einen ausgestreckten Arm, der unter einem Berg Tequari-Leichen hervorlugte. Die Innenseite des muskulösen, aber schlanken Arms war mit den fremdartigen Zeichen versehen, die sich viele Barbaren in die Haut zu stechen pflegten.
Liocas wusste nicht warum, aber er kniete nieder, betrachtete die verschnörkelten und dennoch so archaisch anmutenden Hautbilder, die vom Handgelenk bis zur Ellenbeuge reichten. Behutsam strich er mit der Hand darüber. Vor Schreck zuckte er zurück, als er merkte, dass sich der Arm warm anfühlte.
Urias! Das hier ist keine Leiche!
Vorsichtig tastete er nach einem Puls, und nach einigen Augenblicken spürte er ein schwaches Pochen an den Fingerkuppen. Er schob den Torso eines Barbarenkriegers zur Seite, wodurch seine Kleidung mit Blut getränkt wurde, und wühlte sich keuchend durch weitere Tote und deren Einzelteile. Dann war er endlich bis zu dem Körper vorgedrungen, zu dem der Arm gehörte.
Zum Vorschein kam eine junge Kriegerin. Liocas fühlte ein weiteres Mal nach ihrem Puls und fand ihn an der Halsschlagader, dort etwas kräftiger. Er packte sie erst an den Armen, dann an der lädierten Lederrüstung und zog sie vorsichtig aus dem Haufen heraus. Die Barbarin schien etwa in seinem Alter zu sein und verfügte über die drahtig-muskulöse Statur der Tequari-Frauen, von denen er viele auf dem Schlachtfeld gesehen hatte. Am halben Körper war sie mit Narben und Hautzeichen bedeckt, die ihre Stellung innerhalb ihres Clans verdeutlichten, so viel wusste Liocas von den Gebräuchen der Barbaren. Die junge Frau schien allerdings etwas kleiner zu sein als die anderen Kriegerinnen, wahrscheinlich stammte sie von einem der Clans des Nordens, vermutete der Knappe.
Als er sie bis zu einem freien Stück Wiese...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | action • Fantasy • Magie • Spannung • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-7534-2142-1 / 3753421421 |
ISBN-13 | 978-3-7534-2142-1 / 9783753421421 |
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