Revolution der Träume (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
512 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7116-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Revolution der Träume -  Andreas Izquierdo
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Berlin, Ende 1918: Die drei Freunde Carl, Isi und Artur haben sich bis in die Hauptstadt durchgeschlagen und erleben die Zeit des Umbruchs alle auf ihre Weise. Der Kaiser ist gestürzt - Träume von Freiheit liegen in der Luft. Carl beobachtet das Treiben der Aufständischen mit Sympathie, aber auch mit Sorge. Eigentlich will er nur noch eins: echten Frieden. Und Kameramann sein, bei der berühmten UFA! Artur hat sich derweil in kürzester Zeit zum König der Berliner Unterwelt hochgearbeitet. Doch Erfolg lockt Neider an - und Neider bedeuten Gefahr. Isi wiederum sucht im politischen Kampf die Herausforderung und freundet sich mit Leuten aus dem linken Umfeld an. Als sie allerdings den Adelssprössling Aldo von Torstayn kennenlernt, geraten ihre Prinzipien ins Wanken ... In >Revolution der Träume< zeigt Andreas Izquierdo die Abgründe der jungen Weimarer Republik. Kenntnisreich und fesselnd erzählt er von drei Freunden, die versuchen, in einer Welt im Wandel zu bestehen: ein spannender historischer Roman für Herz und Kopf.

ANDREAS IZQUIERDO ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er veröffentlichte den mit dem Sir-Walter-Scott-Preis ausgezeichneten historischen Roman >König von Albanien< (Neuausgabe DuMont 2024) und zahlreiche weitere Romane, u. a. den SPIEGEL-Bestseller >Der Club der Traumtänzer< (2014) und >Fräulein Hedy träumt vom Fliegen< (2018). Zuletzt erschien die >Wege der Zeit<-Trilogie, die die Bände >Schatten der Welt< (2020), >Revolution der Träume< (2021) und >Labyrinth der Freiheit< (2022) umfasst. And

1

Auf den Tod angesprochen, pflegte mein Vater zu sagen, dass alles bloß halb so schlimm sei, wenn man ihm denn nur in einem schönen Anzug entgegentrete. Natürlich, er war Schneider, und seine Einschätzung zeugte von einem gewissen Geschäftssinn, auch wenn er so etwas selbstredend nie vor Kunden gesagt hätte. Dennoch wusste er, dass es wahr war, und ich wusste es auch, weil er es mir auf unzähligen Beisetzungen bewiesen hatte.

Tatsächlich war ich in meiner Kindheit öfter auf Beerdigungen als auf Hochzeiten, Erntedankfesten, Gemeindefeiern oder Geburtstagen zusammen. Keiner von uns beiden mochte den Tod, obwohl er uns in gewisser Weise über Wasser hielt, aber zum großen Verdruss meines Vaters zog sich unsere Kundschaft eben nur zweimal im Leben gut an: bei ihrer Hochzeit und bei ihrem Begräbnis. Und da Hochzeitskleider in aller Regel weitervererbt wurden, blieben meistens nur die Beerdigungen.

Warum mir ausgerechnet die vom 23. Januar 1910 in besonderer Erinnerung geblieben ist, weiß ich nicht, vielleicht, weil der Kaiser ein paar Tage später Geburtstag hatte und Artur anlässlich dieses Ehrentags den übelsten Streich ausheckte, den Thorn in seiner Geschichte je über sich ergehen lassen musste. Was für Artur und mich der Anfang von allem war.

An diesem Sonntag jedenfalls war es bitterkalt.

Schnee stob in pudrigen, eisigen Wolken durch die Straßen, und lediglich die Frommsten kämpften sich, vermummt gegen den schneidenden Ostwind, dem Geläut der St.-Georgen-Kirche entgegen. Nach der Messe würden sie kommen, um Abschied zu nehmen, jetzt aber stand die Witwe mit ein paar verlorenen Gestalten um den kleinen Kohleofen der guten Stube herum und wärmte sich die Hände. Einfache Leute. Grobe Kleidung, vielfach geflickt, in mehreren Lagen übereinandergetragen, für einige bereits ihre gesamte Garderobe. Die Tür zum einzigen Nebenzimmer war verschlossen. Darin, klamm wie in einer Gruft: der Tote mit gefalteten Händen auf dem Bett.

In der dem Ofen gegenüberliegenden Ecke, im Halblicht eines stürmischen Wintertages: Vater und ich. Wir hatten schöne Anzüge an, mit Weste, Krawatte und Vatermörderkragen, und hielten genügend Abstand zu den anderen, sodass unser Wispern nicht weiter auffiel.

»Schau dir das an, mein Junge«, flüsterte Vater und nickte zu der Gruppe am Ofen hinüber. »Man möchte einen Schneider rufen.«

»Du bist Schneider, Vater!«, antwortete ich leise.

»Niemand hat einen schönen Anzug.«

»Sie sind alle arm, Vater.«

»Wir sind auch arm, mein Junge, und schau nur, wie wir aussehen.«

Inmitten des Grauen, Zerrissenen, Geflickten, Ausgeblichenen, Fleckigen und Derben wirkten wir wie Edelleute, die sich ins falsche Viertel verirrt hatten.

»Die Leiche sieht gut aus«, versicherte ich ihm.

»Ganz genau, junger Mann, und warum tut sie das?«

»Weil sie einen schönen Anzug anhat!«

»Der morgen vergraben wird!«, gab Vater zurück, und ich konnte die Kränkung darüber in seiner Stimme hören.

Er seufzte, genauso, wie er es immer tat, wenn die Hinterbliebenen in unsere Schneiderstube eintraten und hektisch ihre Hüte oder Kappen abnahmen. Niemand nahm beim Schneider die Kopfbedeckung ab, es sei denn, jemand war gestorben. Dann drehten sie ihre Hüte verlegen in den Händen und fragten zögerlich, ob Vater nicht mal mitkommen könnte, um Maß zu nehmen.

Später kehrte der dann zurück und klagte, dass diese vermaledeite Stadt die einzige auf der ganzen Welt sei, in der man nach dem Priester gleich den Schneider rufe: Er verstand einfach nicht, warum erst im Tod wichtig wurde, was dem Verblichenen im Leben sehr viel mehr genutzt hätte.

»Gott wird deinen Anzug zu schätzen wissen«, tröstete ich.

»Gott interessiert sich nicht für Anzüge.«

Ich blickte zu der Witwe, die sich gramgebeugt an den einzigen Tisch eines ansonsten überaus kargen, aber sauberen Raumes gesetzt hatte, gestützt von einer Nachbarin, während die anderen vor dem Ofen weiter zusammenrückten. Verhaltenes Flüstern und unterdrückte Schluchzer füllten das Zimmer mit erstickender Andacht, und nur das Geflacker von Kerzen ließ Schatten tanzen in den bleichen Gesichtern, aus denen dann und wann Tränen mit Taschentüchern getupft wurden.

Mein Vater beugte sich zu mir herüber, und noch bevor er etwas sagte, wusste ich, was kommen würde, denn wir führten diese Beerdigungsgespräche auf die eine oder andere Art schon seit Jahren.

»Weißt du, wie viele Stiche ich früher geschafft habe?«, fragte er mich.

Natürlich tat ich das, aber ich gab mich ahnungslos und antwortete: »Wie viele?«

»Sechzig Stiche in der Minute!«

»So viele?«

»Nicht einer weniger! Und wie viele Stiche haben die besten Schneiderinnen damals geschafft?«

»Wie viele?« Ich spielte dieses Spiel gern mit.

»Fünfzig Stiche! Bloß fünfzig Stiche!«

»Donnerwetter!«

»Heute habe ich meine kleine Amerikanische. Die schafft dreihundert. Aber mit der Maschine ist das ist nicht mehr dasselbe.«

»Wieso ist es nicht mehr dasselbe?«, fragte ich, wie ich es schon oft getan hatte, und hoffte dabei, aufrichtig neugierig zu klingen.

»Die Liebe!«, rief mein Vater.

Die Leute sahen zu uns herüber, doch als wir beharrlich schwiegen, wandten sie sich wieder dem Ofen zu.

»Die Liebe«, flüsterte mein Vater. »Es gibt keine Liebe mehr. Früher hast du den Stoff gehalten, ihn zwischen den Fingern gefühlt, verstehst du? Heute ist alles anders.«

Die Wohnungstür öffnete sich, zwei graue, schneebedeckte Gestalten strichen herein. Und mit ihnen die eisige Luft des Treppenhauses, noch bevor einer der beiden die Tür wieder schließen konnte. Einen Moment standen sie unschlüssig dort, dann grüßten sie mit einer kleinen Geste in die Runde und kondolierten der Witwe flüsternd. Die nahm die Tröstung mit zusammengepressten Lippen entgegen und blickte ihrerseits zur Tür, hinter der ihr toter Mann lag. Die beiden nahmen die Hüte ab, begannen, sie unschlüssig in ihren Händen zu drehen, und traten schließlich wie auf Zehenspitzen in das Zimmer.

Ich erhaschte einen Blick hinein: Drinnen herrschte Dunkelheit, die Fensterläden waren fest verschlossen, und nur ein kleines Grablicht auf einem schäbigen Nachttisch tanzte im Durchzug undichter Fenster. Ich sah sie an das Bett treten, die Köpfe zum Gebet senken, sich anschließend bekreuzigen und wieder herausschleichen, die Tür hinter sich schließend.

Eine Weile noch starrte Vater sie an, als erwartete er, dass sie etwas sagten, aber sie schwiegen, und nachdem sie sich am Ofen etwas aufgewärmt hatten, verließen sie die Wohnung genauso verstohlen, wie sie gekommen waren.

Vater seufzte erneut.

Er war furchtbar stolz auf sein Handwerk, aber nicht allein deswegen pries er seine Vergangenheit bei jeder Gelegenheit. Er beugte sich erneut herüber und nahm unser leises Gespräch wieder auf: »Die haben jetzt neuerdings Konfektionsware! Hast du das schon gehört?«

»Konfektionsware?«

»In Fabriken gemacht. Ich hörte, dass es da in Berlin ein riesiges Kaufhaus gibt …«

»Wertheim.«

Er sah mich erstaunt an: »Hatte ich das schon mal erzählt?«

»Was? Nein, also, ich glaube nicht.«

»Jedenfalls gibt es in diesem Kaufhaus Tausende von Anzügen. Und noch mehr Kleider. Ganze Etagen soll es davon geben!«

»Berlin ist weit weg.«

»Gerade mal einen Tag mit der Ostbahn!«

»Aber das ist doch nicht dasselbe wie ein schöner handgemachter Anzug von einem Schneider.«

Vater zückte ein Taschentuch und tupfte sich die Stirn: »Aber wenn so etwas auch bei uns kommt?«

»Hier im Osten zählt Handwerk noch etwas, Vater!«

Er nickte beruhigt und sagte: »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

Plötzlich funkelten seine Augen, und ich atmete tief durch, denn ich wusste, was er im Begriff war, mir ins Ohr zu flüstern: Riga.

»Wenn ich da an Riga denke …«

»Riga?«

»Ich war der beste Schneider in Riga!«

»Wirklich?«, rief ich scheinbar erstaunt.

»O ja, mein Junge! Gleich am Domplatz hatte ich meine Schneiderei: Friedländer. Alle sind sie zu mir gekommen: Deutsche, Russen, Letten, Juden, Christen. Alle sind sie zum Friedländer.«

»Es war sicher ein sehr großes Geschäft?«, fragte ich pflichtgemäß.

»Sehr groß, mein Junge, ich hatte fünf Untergebene! Fünf! Kannst du dir das vorstellen?«

»Die größte Schneiderei von Riga?«

»Ganz genau!«

Glockenklang kam auf, tanzte gegen Schnee und Wind bis an die Wohnungstür heran. Die Kirche war aus – die braven Thorner würden bald hier sein.

»Die feinen Herren und Damen hättest du sehen sollen!«

»Die waren sicher sehr elegant?«

»Elegant?«, fragte er fast empört zurück. »Herrlich waren die anzuschauen! Herrlich! Und weißt du, wer die Herrlichste von allen war?«

Natürlich wusste ich das, aber ich sah in fragend an: »Wer?«

»Deine Mutter, mein Junge, deine Mutter! Sie sah aus wie eine Romanow! Wie eine Romanow!«

»Sie war sehr schön, nicht wahr?«

Vater schüttelte fast schon verärgert den Kopf: »Ach, Junge, was du wieder redest! Sie war unbeschreiblich schön! Alle haben sie bewundert! Einmal hat ihr ein echter Graf den Hof gemacht! Ein echter Graf! Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein!«

»Doch! Sie hatte dieses Kleid an. Oh, was für ein Kleid das war! Meine beste Kreation! Burgundrote Seide, acht Reihen Volants. Und das Mieder! Man konnte ihre Taille mit bloßen Händen umgreifen, dazu dieser kecke Cul de Paris. Die Männer waren verrückt nach ihr!...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2021
Reihe/Serie Wege-der-Zeit-Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Aufstand • Babylon Berlin • Berlin • Berliner Geschichte • berlin vor den goldenen zwanzigern • Demokratie • der traumpalast • Deutsche Geschichte • eine familie in deutschland • Ernst Lubitsch • Erster Weltkrieg • Familie • Fräulein Gold • Freiheit • Freundschaft • Fritz Lang • frühe weimarer republik • Geschichte • Geschichte des Films • glücksbüro • Historischer Roman • Historische Unterhaltung • Jeffrey Archer • Ken Follet • Kino • Lehrerin einer neuen Zeit • Liebesgeschichte • matrosen-aufstand • neunzehnhundertachtzehn • Peter Prange • Rebellion • Revolution • schatten der Welt • Schicksal • Schicksalsroman • spannend • Spartakus-Aufstand • Starke Frauen • traumtänzer • Ufa • Unterhaltung • Weimarer Republik • Zwanzigerjahre • Zwanzigstes Jahrhundert • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8321-7116-9 / 3832171169
ISBN-13 978-3-8321-7116-2 / 9783832171162
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