Mädchenschule (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01168-7 (ISBN)
Pascale Hugues, geboren in Straßburg, ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihrem ersten Buch «Marthe und Mathilde» gelang ihr auf Anhieb ein großer Erfolg. Für ihr Buch «Ruhige Straße in guter Wohnlage» erhielt sie den Prix Simone Veil und den Europäischen Buchpreis. Pascale Hugues ist Deutschlandkorrespondentin des französischen Nachrichtenmagazins «Le Point», Kolumnistin beim «Tagesspiegel» und schreibt regelmäßig für verschiedene deutsche Medien. Sie lebt in Berlin.
Pascale Hugues, geboren in Straßburg, ist Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihrem ersten Buch «Marthe und Mathilde» gelang ihr auf Anhieb ein großer Erfolg. Für ihr Buch «Ruhige Straße in guter Wohnlage» erhielt sie den Prix Simone Veil und den Europäischen Buchpreis. Pascale Hugues ist Deutschlandkorrespondentin des französischen Nachrichtenmagazins «Le Point», Kolumnistin beim «Tagesspiegel» und schreibt regelmäßig für verschiedene deutsche Medien. Sie lebt in Berlin. Lis Künzli, geboren bei Luzern, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Übersetzerin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, Camille Laurens, Pierre Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
1 Das Wiedersehen
Ob das wirklich eine gute Idee war? Meine ehemaligen Schulkameradinnen auf der Terrasse dieses kleinen Hotels am Fuß des Münsters zu versammeln? Kein Windhauch heute Abend. Über Straßburg die reglose sommerliche Hitzeglocke. Als ich die Gläser für den Aperitif bereitstelle, bin ich mir meiner Sache auf einmal nicht mehr so sicher. Ein halbes Jahrhundert lang haben wir uns nicht gesehen. Wir waren damals neun Jahre alt. Saßen in derselben Klasse. Das ist das Einzige, was wir gemein haben, dieses kurze Segment ganz zu Beginn unserer Lebenslinie. Ein bisschen mager, um auf ein unbeschwertes Wiedersehen, Gespräche bis spät in die Nacht zu hoffen. Was werden wir uns zu erzählen haben? Und wenn sich niemand an niemanden erinnern kann und wir den Abend damit verbringen, einander zu mustern und verlegene Kehlgeräusche von uns zu geben? Wenn wir in den trüben Tiefen dieser so fernen Zeit stochern und keine einzige Erinnerung an die Oberfläche steigt? Was habe ich mir da nur zusammengereimt? Dass man eine solch weit zurückliegende Vertrautheit einfach wieder abrufen kann? Dass es reicht, drei, vier Jahre in derselben Grundschule zu verbringen, und die Freundschaft hält für immer?
Mit Ausnahme von Françoise, die dabei ist, neben mir einen Turm aus Toastbrotdreiecken vor dem Einstürzen zu sichern, habe ich alle aus den Augen verloren. Ich versuche, mir gut zuzureden: Schließlich haben fast alle meine Einladung angenommen. Das ist doch ein gutes Zeichen. Diejenigen, die nicht kommen können, haben mir geschrieben, es tue ihnen leid. Wir werden zehn sein heute Abend.
Aber was macht sie nur? Ich habe Pascale L. schon vor einer ganzen Weile bemerkt. Hinter einer Buschhecke verborgen, schaut sie auf die Uhr. Bestimmt mag sie es nicht, zu früh da zu sein. Sie dreht noch eine Runde um den Häuserblock. Als vom Münster herunter sieben tiefe Schläge ertönen, steht Pascale L. auf der Hotelterrasse. «Bin ich die Erste?» Sie hat diesen künstlich erstaunten Blick der Ängstlichen, die stets vor den andern da sind und so tun, als wäre das ein merkwürdiger Zufall. Françoise eilt auf sie zu und umarmt sie. Pascale L. und Françoise sind seit der Schule Freundinnen. Der Vater von Pascale L. war Pförtner im Rathaus, Françoises Mutter ihm als Putzfrau unterstellt. Da waren die Kleinen natürlich unzertrennlich. Heute sind sie nicht mehr unbedingt auf einer Wellenlänge, aber sie sehen sich noch ab und zu aus Loyalität. Pascale L. hat noch immer ihr Kleinmädchengesicht, einen zartrosa Teint, kein bisschen Schminke, makellose Zahnreihen, klare Augen. Sie ist noch genauso pummelig wie früher, nur dass es heute niemand mehr wagen würde, ihr wie damals aus Spaß in die Wange oder in die Fettpölsterchen am Po zu kneifen. Noch immer derselbe praktische Kurzhaarschnitt. Trotz der grauen Haare und der Brille erkennt man sie sofort. Sie wird den anderen, die jetzt nach und nach eintrudeln, als Fanal dienen.
Es ist wie bei einem Ratespiel. Ich präsentiere Ihnen ein Gesicht, das nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat mit dem vor fünfzig Jahren, und Sie versuchen, es mit einem Namen zu verbinden. Da kommt Pilar, ganz klein in ihrem marineblauen K-Way, eine Strickweste auf dem Arm und eine riesige Tasche um die Schulter: «Sie haben für später ein Gewitter angekündigt.» Die anderen rufen aus: «Pilar! Wir hätten dich unter Tausenden wiedererkannt!» Ihre Kleinmädchenlocken sind dünner geworden, ihre Augen hinter einer großen Brille versteckt. Sie hat muskulöse Arme und einen Sprachtick. Sie sagt nach jedem Satz: «So was in der Art.» Pilar erinnert sich nicht an mich. Nicht an mein Gesicht und auch nicht an meinen Namen. «Verlangt bloß nicht von mir, mich an Gesichter zu erinnern», entschuldigt sie sich, um mich nicht zu verletzen. «Ich habe ein auditives Gedächtnis. Namen kann ich behalten, Gesichter hingegen … Aber ich habe eine Entschuldigung, ich nehme an, ihr habt euch alle ein bisschen verändert.»
Als Jeannine ruhigen Schrittes auf uns zukommt, ziehen sich die Stirnen in Falten: «Du, nein … Lass mich überlegen … Ich kann dich nicht einordnen.» Roseline hingegen wird von allen erkannt, ihr Sommerweizenblond, ihre Augen, die sich zu Schlitzen verengen, wenn sie lächelt. «Und die Zöpfe!» Für mich sind Roseline und Jeannine zwei Zopfpaare, Jeannine ein braunes, Roseline ein blondes. Wie Lianen, die ihnen bis zum Po fallen. «Aber was ist denn aus euren Zöpfen geworden?» Jeannines Haare sind kurz, dünner als damals, aber noch nicht grau. Ein sanftes Lächeln zwischen zwei Kreolen und Sommersprossen. Roseline trägt einen schulterlangen Pagenschnitt und immer noch denselben geraden Pony, der, ich gehe jede Wette ein, einen resoluten Charakter und einen praktischen Sinn verrät.
Pascale W. und Catherine fallen einander in die Arme. «Na sag mal, das ist ja eine ganze Weile her», ruft Pascale W. und drückt Catherine heftig an sich. Die beiden waren Nachbarinnen geworden, als ihre Familien Ende der sechziger Jahre in die Cité Nucléaire einzogen, eine der ersten großen Sozialwohnungsanlagen, die am Stadtrand, in Cronenbourg, auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der Armee gebaut wurden. Noch lange nach dem Krieg gab es dort Luftabwehrraketen.
Das Viertel entlehnte seinen Namen von dem kleinen Kernreaktor auf dem Gelände des nationalen Forschungszentrums CNRS. Pascale W. wohnte in der Rue Lavoisier, Catherine in der Rue Paraclet. Kaninchenställe, hieß es bei uns zu Hause. Lauter identische kleine Schachteln, little boxes, wie im Song von Graeme Allwright. Für Pacale W. und Catherine jedoch war die Cité nucléaire der große Luxus. Ein Badezimmer mit warmem Wasser, Rollläden, Zentralheizung, ein eigenes Zimmer und ringsherum Mohnblumenfelder, so weit das Auge reichte. Der Turm des Münsters in der Ferne erinnerte daran, dass die Stadt nicht allzu weit weg war. Catherine und Pascale W. legen wie auf Knopfdruck los mit ihren «Weißt du noch …?». Gummitwist auf dem Gehsteig, Puppen im Treppenhaus an Regentagen, Madame Franz, ihre Lieblingslehrerin, die sie zurücklassen mussten, welche Tragödie, als sie die Schule wechselten. Madame Franz! Wir stoßen einen Schrei des Entzückens aus. Ihretwegen ist Catherine Lehrerin geworden. «Madame Franz hat etwas in mir ausgelöst. Sie hat mir die Liebe zum Beruf geweckt. Ich habe für meine Schüler dieselbe Empathie wie sie. Man muss das Leiden der Kinder verstehen. Madame Franz, die hatte ein vorbildliches Bildungsverständnis.» Catherine beschließt ihre Sätze mit einer feierlichen Miene. Sie hat noch immer ihr ernsthaftes kleines Gesicht und den Ausdruck der fleißigen, tüchtigen Schülerin, die immer alles recht macht.
Als Myriam eintrifft, dunkle Haut, lockige Haare, wird sie von allen für Houria oder Lahouaria gehalten, eine der beiden marokkanischen Schwestern. Oder tunesischen. Oder algerischen. So genau weiß das niemand.
«Das ist wegen deiner Kraushaare … Woher kommst du denn, lass mich nachdenken.» Jeannine kapituliert. «Nein, ich geb’s auf …»
«Tunesien!», verrät Myriam. «Das heißt, nur mein Vater. Meine Mutter war Französin.»
Als sie meine E-Mail erhalten hatte, glaubte Myriam erst an einen Internetbetrug. Ein Buch, das die Lebensgeschichte von Mädchen nachverfolgt, die sich nicht einmal mehr aneinander erinnern. An der Sache muss etwas faul sein. Schließlich beschloss sie, doch zu kommen. «Es ist wie in einer Realityshows. Irgendwann bist du dran. Du wirst eingeladen. Und jetzt bin ich an der Reihe, diese Chance konnte ich mir doch nicht entgehen lassen.»
Pilar und Myriam sind Krankenpflegerinnen im Hôpital civil. Seit Jahren laufen sie sich jeden Tag über den Weg, aber bisher hat keine der beiden gewagt, den ersten Schritt zu tun und die andere anzusprechen. Jetzt reden sie miteinander, als sei es das Natürlichste der Welt, als knüpften sie an ein Gespräch an, das sie vor wenigen Tagen erst unterbrochen hatten. «Bingo!», ruft Martine mit ihrer Flötenstimme. Sie ist gerade angekommen und geht schnurstracks zu Myriam und reibt ihr die Schulter. Sie saßen in der Schule nebeneinander. Myriam ist die Einzige, die sie erkennt. Außer mir. Aber sie geht lachend herum und grüßt, sagt, es sei zauberhaft, dieses ganze Völkchen wiederzusehen. Eine zierliche Martine mit großen blauen Augen. Sie hüpft von einem Bein aufs andere, es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte unseren kleinen Trupp Wiederauferstandener beklatscht.
Der junge Kellner, der mit der Flasche Rosé und den Minibrezeln von einer zur andern geht, sieht erschrocken aus. Er fragt sich, wie diese Tanten auf einmal auf seiner Terrasse gelandet sind. Da stehen wir. Mustern einander. Es heißt, auf der Hut zu sein, um nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Vor allem, nicht auszurufen: «Was, das bist du? Das gibt’s doch nicht. Wie alt du geworden bist.» Die Zeit hat Furchen um die Münder gezogen, die Lider aufgedunsen, die Stirne in Falten gelegt. Die Körper sind schwerer geworden. «Ab Ende vierzig alterst du entweder gut, oder du alterst schlecht», sagt Françoise, als wäre sie an eine Abzweigung gekommen. «Es bringt nichts, sich das Leben zu vermiesen und nur noch Salat zu essen, es liegt sowieso an den Genen.»
«Ich hätte trotzdem ein bisschen besser aufpassen sollen», bedauert Jeannine und streicht reflexartig über ihre Hüften. Auch unsere Stimmen haben sich verändert. Unser Stimmbruch ist weniger spektakulär als der der Jungen, aber keine von uns hat die nervenaufreibende...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2021 |
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Übersetzer | Lis Künzli |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Bestsellerautorin • Bestseller-Autorin • Biografie Neuerscheinung 2021 • Das Klassenbuch • Frauenfreundschaft • Frauenleben • Frauenschicksale • Marthe und Matilde • Poesiealbum • Soziale Ungerechtigkeit • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-644-01168-0 / 3644011680 |
ISBN-13 | 978-3-644-01168-7 / 9783644011687 |
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