Engel des Todes (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00715-4 (ISBN)
Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt Krimis, biographische und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimireihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft fu?r deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, «Der rote Judas», stand auf der Shortlist fu?r den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Bonner Region.
Thomas Ziebula ist freier Autor und schreibt Krimis, biographische und historische Romane. 2001 erhielt er den Deutschen Phantastik-Preis, 2020 den Goldenen Homer. Seine erste Krimireihe um Inspektor Paul Stainer vereint auf beeindruckende Weise Thomas Ziebulas Leidenschaft für deutsche Zeitgeschichte, spannende Kriminalfälle und seine Liebe zu Leipzig, das bis heute seine Lieblingsstadt in Deutschland ist. Der erste Band der Reihe um Inspektor Stainer, «Der rote Judas», stand auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020. Der Autor lebt in der Bonner Region.
2 Tänzerin
Böse Traumbilder weckten ihn. Er blinzelte in den Deckenstuck und versuchte, sie festzuhalten: Mord und Totschlag, Blut und Geschrei – irgendwer hatte den Generalmajor angegriffen, an viel mehr erinnerte er sich schon nicht mehr. Oder doch! Er hatte sich zwischen den Generalmajor und den Attentäter geworfen und sich gleichzeitig gefragt, warum er so dumm war, für einen wie den Alten sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Weil es mein Beruf ist, dachte er und setzte sich im Bett auf, weil es mein verdammter Beruf ist.
Ein Blick nach rechts – Valerie schlief noch. Meine Güte, wie ihr blauschwarzes Haar auf dem weißen Seidenkissen schimmerte! Wie ein Fächer aus Rabengefieder. Und die schneeweiße Haut, die hohe Wölbung der Stirn über den schwarzen Brauenbögen und den schweren Lidern, die langen schwarzen Wimpern und der große Mund mit den vollen, so herrlich geschwungenen Lippen! Ein Übermaß an Schönheit, kaum zu ertragen.
Er bezwang den Wunsch, die Schlafende zu küssen, schob sich leise aus dem Bett und ging nackt hinüber ins Kaminzimmer. Auf der Schwelle ein letzter Blick noch auf seine Tänzerin, seine Herzdame, seine geliebte Hexe. Was für ein Glück, sie endlich wieder bei sich zu haben! Er formte die Lippen zum Kussmund und schloss dann geräuschlos die Tür hinter sich.
Letzte Holzstücke glühten noch in der Kaminasche, die Restwärme kroch ihm die Beine hinauf, über Rücken und Brust. Der dicke Perserteppich schmeichelte seinen Fußsohlen, die Luft roch abgestanden und schal.
Wie so oft, wenn er sich allein im Kaminzimmer aufhielt, blieb er kurz vor dem Ölporträt über dem schweren Eichensekretär stehen und betrachtete das schmale Frauengesicht: schwarzes zu einem Zopf geflochtenes Haar, hochstehende Wangenknochen, Haut so weiß wie die Perlen um den schlanken Hals, wehmütig lächelnder großer Mund mit schönen vollen Lippen, nahezu schwarze Augen.
Seine Mutter an ihrem siebten Hochzeitstag, kurz vor ihrem Tod. Damals war er vier Jahre alt gewesen. Wenn er an seine Mutter dachte, stand ihm meistens dieses Bild vor Augen. Wahrscheinlich, weil er es seit vierzig Jahren beinahe täglich betrachtete. Abgesehen von der Zeit auf der Kadettenschule und der Militärakademie; und von den Kriegsjahren natürlich.
«Maman bien-aimée», murmelte er; und nickte dann, als hätte er ihre Antwort gehört.
Er ging zur Fensterseite, zog einen Vorhang auf und öffnete das Fenster. Frostige Luft schlug herein, er wickelte sich in den bordeauxroten Stoff und beugte sich trotzdem hinaus: Raureif bedeckte den Rasen, der fette schwarze Kater des Nachbarn schlich um den marmornen Springbrunnen, den der Vater der Mutter zum sechsten Hochzeitstag geschenkt hatte; ein schwarzer Vogel hockte auf dessen Rand und sang sein Morgenlied, eine Amsel.
Er stutzte – eine Amsel? Wirklich? Waren die denn schon zurück? Er lauschte in den Morgen hinaus, während er die kalte Luft einsog, stand und lauschte so andächtig, als würde er zum ersten Mal den Gesang einer Amsel hören.
Oder zum letzten Mal.
Das Stampfen einer Lokomotive riss ihn aus seiner Versunkenheit, der D-Zug nach Halle. Für einen Moment hielt er den Atem an, und ein kalter Schauer kroch ihm über Nacken und Schultern. Er verabscheute dieses Geräusch. Als der Zuglärm sich entfernt hatte, hörte er Stiefelknallen und Rufe aus der nahen Kaserne, worüber er sich wunderte. So früh schon zum Appell? Und das am Sonnabend? Seltsam – gestern Abend jedenfalls war von Alarmbereitschaft nicht die Rede gewesen.
Einen Atemzug lang stieg ein Traumbild wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins – der Attentäter, seine Militärpistole, sein Finger am Abzug, die Entschlossenheit in seinen Zügen, der ahnungslose Generalmajor. Das Bild verblasste und löste sich auf, doch es blieb das Gefühl, das er auch im Traum empfunden hatte: klammheimliche Freude.
Und trotzdem hatte er sich dazwischengeworfen.
«Ein Traum», murmelte er, «nur ein Traum.» Er schaute in die graue Wolkendecke, hinter der unsichtbar die Sonne aufging.
Merkwürdig, dieser Radau aus der Kaserne um diese Zeit, dachte er, während er das Fenster schloss und es ihm säuerlich aus dem Magen in die Kehle kroch. Viertel vor sieben Uhr schätzte er, Siegloch würde heute erst gegen neun mit dem Wagen vorfahren. Noch Zeit genug also für ein gepflegtes Frühstück.
Auf dem Weg ins Herrenzimmer las er seine Kleider vom Teppich auf – Wäsche, Socken, Hemd und Uniformhose lagen verstreut und zwischen Valeries Sachen um den Lesesessel herum. Darin hatten sie sich gestern Abend geliebt. Er nahm ihren seidenen BH hoch, küsste ihn, legte ihn über die Sessellehne.
Im Herrenzimmer ging er zum Schachtisch, wo seine Uniformjacke über einem Stuhl hing; auf einmal fühlte er sich unbehaglich. Er zog seine goldene Taschenuhr aus der Jacke: Vierzehn Minuten vor sieben – auf sein inneres Uhrwerk konnte er sich jederzeit verlassen. Vor dem Fenster zum Garten sang unermüdlich die Amsel. So ein Vogel hat gut singen, dachte er, so ein Vogel hat keine Sorgen.
Um zehn vor zehn wollte er im Neuen Rathaus sein, die Zeremonie war für zehn Uhr angesetzt; schon wieder musste irgendein Afrika-Veteran für besondere Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet werden. Dabei hatte die neue Regierung militärische Auszeichnungen abgeschafft. Jedoch – Anordnung aus Dresden. Von General Maercker persönlich. Dieser selbstherrliche Zwerg neigte dazu, seinen Willen mit dem Gesetz zu verwechseln!
Die Verleihung des Ordens hatte der Alte, Generalmajor von Pilsach, ihm aufs Auge gedrückt. Er hasste ihn dafür, auch dafür.
Der Lärm aus der Kaserne ging ihm nicht aus dem Kopf, und er spähte zum Fernsprecher, während er in die Unterhose stieg. Ob er vor dem Frühstück mal beim Kommandostab anrufen sollte?
Ein durchdringender Schrei ließ seinen Atem stocken, sodass er einen Augenblick stand wie festgefroren und sein Blick zum Fenster zuckte – draußen im Garten schrie eine Kreatur in Todesnot. Die Socken in der Rechten, lief er zum Fenster: Der schwarze Kater huschte vom Springbrunnen weg zur Lorbeerhecke hin, in seinem Maul zappelte die kreischende Amsel.
«Gustl!» Wie aus dem Nichts: Valeries Stimme. «Du hast mich noch gar nicht geküsst heute Morgen!» Er atmete tief ein, wischte sich die Tränen aus den Augen und drehte sich um: In ein Leintuch gehüllt stand sie in der Tür und zog einen Schmollmund, seine geliebte Tänzerin, seine zärtliche Hexe. Himmel, was für herrliche Schultern, dachte er.
«Was fällt dir denn ein?» Die Gestrenge mimend, rauschte sie heran, schlug ihm mit den Fingerspitzen auf die Wange und verschloss ihm gleich darauf mit ihren weichen Lippen den Mund. «Sofort kommst du wieder zu mir ins Bett!» Hinter sich her zog sie ihn zurück ins Schlafzimmer.
In der Hitze ihrer Arme, ihrer Küsse, ihrer Schenkel vergaß er den Kater, die Amsel, die Uhr, vergaß den Generalmajor und den Lärm aus der Kaserne. Er vergaß sogar Siegloch und die Zeremonie im neuen Rathaus, und als er das nächste Mal auf die Uhr blickte, staunte er, weil es schon nach acht war. Das gepflegte Frühstück konnte er vergessen.
Im Garderobenzimmer später hörten sie das Mädchen im Esszimmer mit den Kaffeetassen klappern. «Sie muss einfach Lärm machen, sie kann nicht anders.» Valerie verdrehte die Augen. «Reich mir mal meine Strümpfe, mein geliebter Krieger.»
«Bitte nenn mich nicht ‹Krieger›.» Er langte Valeries schwarze Seidenstrümpfe vom Waschtisch, reichte sie ihr und stellte sich wieder vor den Garderobenspiegel. «Du weißt, dass ich das nicht mag.»
«Aber das bist du doch!»
«Das war ich, meine süße Hexe.»
Aus irgendeinem Grund hatte sie eine Schwäche fürs Heroische mit all seinen glänzenden Abzeichen. Noch hatte er ihr nicht verraten, dass er seinen Abschied einreichen würde. Das Kuvert mit dem entsprechenden Schreiben an den Generalmajor lag bereits frankiert im Sekretär. Spätestens am Montag wollte er es in die Post geben. Ihm war ein wenig bange vor dem Augenblick, in dem er es ihr sagen würde. Doch noch musste sie nichts davon wissen.
Er schloss den Hosengurt, strich sich mit Pomade das blonde Haar zurück, modellierte seinen langen blonden Schnurrbart und schlüpfte in die Uniformjacke – der Blaue Max zwischen den Kragenaufschlägen, das Eiserne Kreuz und zwei weitere Orden an der Brustleiste und auf den Schulterstücken der goldene Stern, der seinen Rang verriet.
Aufmerksam und mit skeptischem Blick betrachtete er sein Spiegelbild: August von Herzberg, Oberstleutnant der sächsischen Infanterie, hochdekorierter Kriegsheld, rechte Hand des Leipziger Stadtkommandanten, vierundvierzig Jahre alt, hagere eins fünfundachtzig groß.
Die Uniformjacke hatte deutlich Luft in den Schultern, saß auch über Bauch und Brust keineswegs straff, und dennoch hatte er das Gefühl, dass sie ihm zu eng war, ihm sogar das Atmen schwer machte. Von Herzberg freute sich auf sein neues Leben als Zivilist. Glücklich war...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Reihe/Serie | Paul Stainer | Paul Stainer |
Zusatzinfo | Mit 1 2-farb. Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1.Weltkrieg • 20er Jahre • Ermittler • Ermittlerkrimi • Historischer Kriminalroman • Historische Spannung • Kapp-Putsch • Kommissar • Kriminalroman • Leipzig • Mord • NSDAP • Paul Stainer • Rache • Spannung • Thriller • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-644-00715-2 / 3644007152 |
ISBN-13 | 978-3-644-00715-4 / 9783644007154 |
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