Reden ist Silber, Schweigen dein Tod - Elizabeth Goddard

Reden ist Silber, Schweigen dein Tod

Buch | Softcover
352 Seiten
2021 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-216-8 (ISBN)
8,00 inkl. MwSt
Rae Burke hat als investigative Journalistin für eine gute Story schon viel aufs Spiel gesetzt - aber diesmal geht es um mehr. Ihre Schwägerin Zoey wird vermisst, und als Rae sich auf Spurensuche in ihrer Vergangenheit begibt, kommen erschreckende Dinge ans Licht. Niemand könnte als Unterstützer in dieser Sache besser geeignet sein als Liam McKade. Doch wird der ehemalige Undercover-Ermittler sich darauf einlassen, wieder mit ihr zusammenzuarbeiten? Immerhin hat sie ihm beim letzten Mal nicht nur das Herz gebrochen - er wäre ihretwegen auch beinahe gestorben. Und Rae hat sich längst wieder zur Zielscheibe gefährlicher Männer gemacht ...

Elizabeth Goddard hat Computertechnologie studiert und mehrere Jahre in dieser Branche gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie ist Mutter von vier inzwischen fast erwachsenen Kindern und lebt in Michigan.

1. Kapitel ZWEI TAGE VORHER … DIENSTAG, 8:43 UHR DENVER, COLORADO Rae Burke stand in der Kälte vor der Tür auf der Veranda. In ihrem Inneren rangen Grauen und Hoffnung miteinander. Die Vorhänge des kleinen Hauses, in dem ihr Bruder Alan mit seiner Frau Zoey und seiner süßen vierjährigen Tochter Callie wohnte, waren zugezogen. Rae klopfte noch einmal. Einen Moment später ging die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Ihr Bruder blieb im Schatten stehen. Ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, schaltete sie das Licht an. Schon besser. Das Haus wirkte sofort wärmer und gemütlicher. Alles sah aus wie immer – bis auf ihren Bruder. Normalerweise war er tadellos gekleidet; sie hatte ihn nur selten in Jogginghose gesehen. Rae stellte ihre Handtasche auf den Tisch bei der Garderobe und zog die Jacke aus, dann hielt sie inne und sah Alan forschend an. Seine Augen waren blutunterlaufen und er hatte sich nicht rasiert. »Du konntest nicht schlafen«, stellte sie fest. Er schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Wie sollte ich auch?« »Oh, Alan.« Sie umarmte ihn, wie es nur eine Schwester konnte. Ohne seine Arme loszulassen, trat sie einen Schritt zurück. »Ich nehme an, du hast die Polizei benachrichtigt?« Er schüttelte ihre Hände ab und rieb sich den Nacken. »Ja, ich habe sie bei der Polizei als vermisst gemeldet. Sie wollten natürlich wissen, ob wir uns gestritten haben oder ob sie so etwas schon öfter gemacht hat.« Er schaute Rae vielsagend an. Vor Jahren war Zoey schon einmal für mehrere Tage verschwunden, aber damals war sie noch nicht mit Alan verheiratet gewesen. »Wie lang ist sie schon fort?« Vielleicht brauchte Zoey einfach eine kleine Auszeit. Sich um ein Kind mit besonderen Bedürfnissen zu kümmern, konnte kräftezehrend sein. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zu lange. Callie bedeutet Zoey alles. Uns beiden.« Rae nickte. »Zoey würde sie nie verlassen. Sie würde dich nie verlassen. Erzähl mir, was passiert ist.« »Also, Zoey hat Callie morgens um neun zur Verhaltenstherapie gebracht. Um eins hat mich die Therapeutin angerufen. Ich habe Callie abgeholt und dachte, Zoey hätte sich nur hingelegt und den Wecker nicht gehört. Ich habe sie auf ihrem Handy anzurufen versucht und ihr eine Nachricht geschrieben. Aber sie hat nicht geantwortet.« Sie waren in den offenen Ess- und Wohnbereich hinübergegangen, wo Alan nun nervös auf und ab lief. Regale mit Büchern für Leseanfänger und Ratgebern über Kinder mit Autismus säumten die Wände. »Ihr Auto war auch nicht da.« Tiefe Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn. »Ihr Handy war zuletzt hier zu Hause eingeloggt, aber wie man sieht, ist sie nicht hier. Entweder ist ihr Akku leer oder sie hat das Handy ausgeschaltet, keine Ahnung. Ich habe gewartet, dass sie nach Hause kommt oder sich bei mir meldet. Erst habe ich natürlich noch geglaubt, sie würde zurückkommen und eine vernünftige Erklärung haben. Ich habe ihre Freundinnen angerufen. Ich habe dich angerufen. Schließlich habe ich die Polizei kontaktiert und ihnen klarzumachen versucht, dass Zoey ihre Tochter niemals zurücklassen würde.« Warum hatte Alan sich nicht früher bei ihr gemeldet? Sie bemühte sich, nicht verletzt zu reagieren. Sie kannte die Antwort: Alan hatte gehofft, Zoey würde doch noch zurückkommen, und Rae nicht alarmieren wollen. Sie hatte ihn gewarnt und er wollte auf keinen Fall ihr »Ich habe es dir ja gleich gesagt« hören. »Die einzige gute Nachricht ist, dass mich die Polizei jetzt endlich ernst nimmt, da Zoey über Nacht fortgeblieben ist. Ich wollte dich informieren, bevor du es aus den Nachrichten erfährst.« »Hast du die Nachbarn gefragt, ob sie etwas gesehen haben?« »Natürlich! Was denkst du denn?« Sie hatte ihn nicht verärgern wollen, aber sie verstand natürlich, dass er durch den Wind war. Rae ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Sie bezweifelte, dass Alan etwas gegessen hatte. Sie schaute in den Kühlschrank. Eier. Toastbrot. Marmelade. Kein Speck. »Was machst du da?« »Na, Frühstück. Du musst bei Kräften bleiben. Außerdem hat Callie bestimmt Hunger, wenn sie …« Rae blickte sich um. »Ist sie in der Therapie oder in der Schule?« Sein Gesicht verdunkelte sich. »Sie ist hier zu Hause.« »Bringt das nicht ihren gewohnten Tagesablauf durcheinander?« »Den behalte ich so gut wie möglich bei. Deshalb kann ich ja nicht losziehen, um Zoey zu suchen!«, flüsterte Alan frustriert. »Meine Tochter braucht mich. Gestern Abend hat sie ständig nach Zoey gefragt. Die Gutenachtgeschichte habe ich dann übernommen, aber sie war darüber nicht gerade glücklich und hat sich die ganze Nacht unruhig im Bett gewälzt.« Rae verrührte die Eier, die sie aufgeschlagen und in eine Schüssel gegeben hatte. Zoey war Veganerin – die Eier waren nur für Alan. Deshalb hatte Rae auch keine Milch zum Unterrühren gefunden. Nicht einmal Soja- oder Mandelmilch. Sie hatte Obst und Gemüse im Kühlschrank erwartet, aber er war ungewöhnlich leer. Zoey war offenbar vor ihrem Verschwinden zu abgelenkt gewesen, um einzukaufen. Alan tigerte weiter auf und ab und sah aus, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. »Sie will ihre Mutter, aber ich kann sie ihr nicht geben.« Raes Herz wurde schwer. »Und du willst deine Frau.« Falls Zoey nicht zurückkam oder gefunden wurde, würde die Polizei irgendwann Alan ins Visier nehmen. Und falls doch, würde die Polizei Alan verdächtigen, für das, was seiner Frau zugestoßen war, verantwortlich zu sein. Solche Geschichten kamen fast täglich in den Nachrichten: »Mann tötet seine Frau und versucht die Wahrheit zu vertuschen.« Diese Gedanken behielt Rae allerdings lieber für sich. Alan hatte genug andere Sorgen. Sie beobachtete ihren Bruder beim Hin- und Herlaufen. Er war kein Mörder. Und Zoey war nicht tot. Sie musste am Leben sein. Etwas anderes würde Rae nicht akzeptieren. Um ihres Bruders willen. Um Callies willen. Bei der Suche nach einer vermissten Person waren die ersten zweiundsiebzig Stunden entscheidend, vor allem die ersten achtundvierzig, bevor dann die Aussichten auf Hinweise schwanden und Spuren verloren gingen. Rae steckte das Toastbrot in den Toaster und rührte dann die Eier um. »Ich weiß, dass ich nur nach Strohhalmen greife, aber vielleicht ist sie zu ihrer Mutter gefahren? Du hast der Polizei gesagt, dass es keine Auseinandersetzung gab. Aber ich bin deine Schwester. Sag mir bitte ehrlich: Hattet ihr Streit?« »Nein, hatten wir nicht!« Eine gewisse Nuance in seinem gereizten Tonfall ließ sie aufmerken. Als investigative Journalistin interviewte sie oft Menschen, die die Wahrheit zu verheimlichen versuchten. Deshalb war sie geübt darin, auf solche Feinheiten zu achten. Trotzdem war Alan kein Lügner. Er würde Zoey nicht verletzen, selbst wenn er verärgert war. Seine sanfte und einfühlsame Art hatte Zoey von Anfang an fasziniert. Falls er jetzt etwas vor Rae verheimlichte, dann nur deshalb, weil die Meinungsverschiedenheiten, die Zoey und er möglicherweise gehabt hatten, niemanden etwas angingen. »Okay. Hast du ihre Mutter denn schon gefragt?«, wollte sie wissen. »Nein.« Rae hatte nie herausgefunden, warum ihre Schwägerin keinen Kontakt zu ihrer Mutter hatte. Hatte Zoey Alan ihre Geheimnisse anvertraut? Rae wusste nicht, was sie noch sagen sollte, und konzentrierte sich fürs Erste auf die Eier in der Pfanne. Alan hätte Callie bestimmt irgendwann ein Frühstück gekocht. Er würde auch in dieser Krise nicht vergessen, sich um seine Tochter zu kümmern, oder? Sie legte eine Scheibe Toastbrot auf jeden Teller, dann warf sie einen fragenden Blick zum Flur. »Das Frühstück ist fertig. Sollen wir Callie holen?« Obwohl Rae absolut keinen Appetit hatte, würde sie etwas essen. Vielleicht würde Alan es dann auch tun. Er warf einen Blick auf die Uhr und schüttelte schnell den Kopf. »Sie hat schon etwas gegessen. Cornflakes mit der letzten Mandelmilch. Danach habe ich sie zum Spielen in ihr Zimmer gebracht. Aber sie ist eingeschlafen und ich habe sie ins Bett gelegt. Ich habe keine Ahnung, ob das ihren Rhythmus zu sehr durcheinanderbringt, aber da sie letzte Nacht ja nicht gut geschlafen hat, braucht sie ein Nickerchen. Und das verschafft mir eine Pause. Callie isst nur bestimmte Sachen und selbst die nur, wenn sie auf eine ganz bestimmte Art zubereitet sind.« Er warf einen skeptischen Blick auf die Eier. Hatte sie damit etwas falsch gemacht? Rae seufzte. »Ich wollte nur helfen. Aber wir beide können doch essen, oder?« »Danach ist mir wirklich nicht.« »Du musst für Callie stark bleiben. Und auch für Zoey.« Rae teilte den Pfanneninhalt auf zwei Teller auf. Sie stellte sie auf den Tisch, setzte sich und hoffte, Alan würde sich zu ihr gesellen. Er runzelte die Stirn, doch dann nickte er, kam zu ihr herüber und setzte sich langsam. Dann starrte er seinen Teller an, als würde er durch ihn hindurchsehen. Rae schob ihre Portion Ei mit der Gabel hin und her und kam sich absolut lächerlich vor. Hatte sie wirklich geglaubt, einer von ihnen könnte etwas essen? »Soll ich hierbleiben und dir mit Callie helfen? Das kann ich gerne machen.« Sie hatte im Moment keine Arbeit und andernfalls hätte sie sie hinten angestellt, um ihrem Bruder zu helfen. Und Zoey. Ihrer Freundin. Oh, Gott, bitte … Sie wusste nicht, was sie beten sollte. »Nein. Wenn schon Zoey nicht da ist, braucht Callie wenigstens mich. Ich will dafür sorgen, dass für sie alles so normal wie möglich ist. Ich habe ihr erzählt, dass ihre Mutter eine Freundin besucht.« »Glaubst du, sie ahnt, dass etwas nicht stimmt?« »Ich beschäftige sie, damit sie nicht merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber auf Dauer geht das nicht. Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird. Kinder wie Callie sind …« »Es ist okay, Alan. Du brauchst es mir nicht zu erklären. Eine solche Nachricht wäre für jedes Kind schwer zu verkraften.« Sie schluckte schwer. »Ich will für dich da sein. Was kann ich tun?« Alan pikste ein wenig Ei auf seine Gabel, hob sie aber nicht zum Mund. Als er schließlich sprach, war offensichtlich, wie schwer ihm die Worte fielen: »Du hast mich vor ihren Geheimnissen gewarnt. Ich weiß, dass sie tagelang verschwunden war, als ihr zusammengewohnt habt. Vielleicht hat ihr jetziges Verschwinden mit damals zu tun. Ich hoffe einfach, sie kommt zu mir zurück. Zu uns.« Dass er eine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen herstellte, verriet seine Verzweiflung. Als er den Blick hob und sie ansah, glaubte Rae, seine Gedanken lesen zu können. »Du willst, dass ich … Ich soll sie suchen?« »Nachforschungen sind Teil deines Berufs. Ich weiß, dass deine Arbeit anders aussieht als die einer Polizistin, aber es gibt Gemeinsamkeiten. Du erinnerst mich oft an Papa.« »Ich bin bestimmt nicht wie Papa.« Ihr Vater hatte als Journalist viele Auszeichnungen bekommen. Er war Auslandskorres- pondent gewesen und hatte sich für Menschen eingesetzt, die selbst keine Stimme hatten. Unermüdlich hatte er das Böse auf der Welt enthüllt, bis es ihn schließlich zum Schweigen gebracht hatte. Rae versuchte in seine Fußstapfen zu treten. Allerdings ohne dabei zu sterben. »Doch. Doch, du bist wie er. Die Kriegsgebiete, die Schlachten, in denen du kämpfst, sind anders, ja, aber du findest Menschen, Rae. Du deckst ihre Geschichten auf.« Das hatte sie früher getan. Jahrelang hatte sie Enthüllungsstorys geschrieben. Aber nach dem »Debakel«, wie ihr Chef es bezeichnet hatte, hatte man ihr gekündigt. Diese Sache hätte ihr viel Anerkennung einbringen können, wenn sie anders ausgegangen wäre. »Hast du der Polizei erzählt, dass Zoey vor einigen Jahren schon einmal verschwunden ist?«, kam Rae auf das eigentliche Thema zurück. »Ich habe ihnen alles erzählt, schließlich habe ich nichts zu verbergen.« Rae trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Rae, du hast mir nie irgendwelche Details über damals erzählt, als Zoey während des Studiums fort war.« »Ich konnte dir nichts erzählen, weil ich nichts wusste.« Wenigstens nichts, was irgendetwas hätte ändern können – oder das jetzt könnte. Rae zwang sich, von dem Ei zu essen, das inzwischen kalt und gummiartig geworden war. Alan folgte ihrem Beispiel. Wenigstens etwas. Vielleicht könnte sie wirklich etwas erreichen, wenn sie seiner Bitte nachkam und Nachforschungen anstellte. »Was ist mit Mama? Weiß sie, was passiert ist?« »Mir graut davor, es ihr zu sagen.« »Ruf sie an. Sie kommt bestimmt, um bei ihrer Enkelin zu sein.« Ihre Mutter wohnte in Texas und arbeitete als Sekretärin für einen Erdölkonzern. Raes Blick wanderte zum Fernseher. Alan hatte den Ton stumm geschaltet. In den Nachrichten lief ein Bericht über sterbliche Überreste, die gefunden und identifiziert worden waren. Normalerweise schaute ihr Bruder lieber Naturdokus und andere wissenschaftliche Sendungen, aber wahrscheinlich wollte er wegen Zoeys Verschwinden die Augen offen halten. Eins stand fest: Wenn Zoey nicht bald heimkam, würden Reporter sein Haus belagern. Polizisten würden kommen, Fragen stellen und alles durchsuchen. Sein und Callies Leben würde noch mehr auf den Kopf gestellt werden. Was würde das bei Callie auslösen? Raes Magen zog sich zusammen. »Und Rae …« Sie schaute Alan fragend an. »Denk bitte daran!« Sie hatte ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt. Um seinetwillen zwang sie sich, zuversichtlich zu wirken. »Woran?« »Wenn du das machst, dann denk daran, dass es hier nicht um eine Story geht. Es geht nicht um den Pulitzerpreis, sondern um unsere Familie. Um meine Frau, egal, welche Geheimnisse sie hat.« Bedauern machte sich in ihr breit. Sie verstand genau, was er meinte. »Natürlich ist das für mich keine Gelegenheit für eine Story, Alan. Ich hoffe, du kennst mich gut genug, um das zu wissen.« »Das hoffe ich auch.« Vielleicht würde Zoey einfach zurückkommen, so wie damals. Sie hatte irgendein unbeschreibliches Trauma überlebt. Kurz danach hatte sie Alan kennengelernt. Rae hatte den Verdacht, dass Zoey bei ihrem letzten Verschwinden von einem Stalker missbraucht worden war. Ihre Freundin hatte nie über ihr Zuhause oder ihre Familie sprechen wollen und nur gesagt, dass sie nie zurückgehen würde. Obwohl Rae in der aktuellen Situation das Beste hoffen wollte, befürchtete sie das Schlimmste: dass Zoey sich in einer furchtbaren Lage befand oder womöglich tot war. Alan schob seinen Teller weg. »Fang bei ihrer Mutter in Jack-son Hole an. Finde sie und sprich mit ihr. Vielleicht ist sie inzwischen umgezogen. Zoeys Vater ist vor langer Zeit gestorben. Mehr hat sie mir über ihr früheres Leben nicht erzählt. Es war, als wollte sie ihre Vergangenheit vergessen. Sich davor verstecken. Da sie so viel durchgemacht hat, habe ich sie nie gefragt, warum sie nach Colorado gezogen ist. Wir haben die Vergangenheit hinter uns gelassen und all unsere Hoffnungen auf die Gegenwart und die Zukunft gesetzt. Wir haben ja sogar heimlich geheiratet, damit sie sich nicht unter Druck fühlen musste, Menschen aus ihrem alten Leben zur Hochzeit einzuladen. Wenn ich jetzt zurückblicke, erkenne ich, dass das ein Fehler war. Ich hätte sie bitten müssen, mir mehr zu erzählen. Diese Menschen einzubeziehen.« »Es war kein Fehler, sie zu heiraten. Das darfst du auf keinen Fall denken!« »Ich liebe sie. Liebe deckt viele Sünden zu, nicht wahr? Sie zu heiraten, war nicht falsch. Callie ist der lebende Beweis dafür. Aber ich hätte einiges anders machen können. Ich halte es für sinnvoll, bei ihrer Mutter anzufangen. Einen besseren Plan haben wir nicht.« Rae schluckte schwer. Zu Jackson Hole sollte sie mindestens tausend Kilometer Abstand halten. Dort wohnte immerhin der Grund für ihre finanziellen und emotionalen Probleme. Die Ursache für den täglichen Schmerz in ihrem Inneren. Alan beobachtete sie. Er wartete auf eine Antwort. War sie bereit dazu? Die Polizei würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um Zoey zu finden, aber Rae wusste aus Erfahrung, dass sie nicht immer Erfolg hatte. Es gab einfach zu viele Schlupfwinkel und zu viele Verbrecher. Sie schloss die Augen und atmete langsam aus. Was soll ich nur machen? Bin ich die Richtige für den Versuch? Und wenn sie Alan enttäuschte? Ihn, Callie und Zoey? »Warum rufst du nicht ihre Mutter an?«, fragte Rae. »Was soll ich ihr sagen? Hallo, hier ist Ihr Schwiegersohn, von dem Sie nichts wussten, Ihre Tochter wird vermisst?« »Ich verstehe das Problem, aber ich finde trotzdem, dass du es tun solltest.« Alan fuhr sich mit den Händen durchs Haar und ihm entkam ein erstickter Schluchzer. Er biss sich auf die Lippe und begegnete Raes Blick. »Ich weiß nicht, wie ich sie erreichen kann. Und selbst wenn ich eine Nummer hätte, würde ich im Moment keinen vernünftigen Satz zustande bringen. Rae, wenn du mir nicht hilfst, wer dann? Außer der Polizei natürlich. Außer den Medien, die irgendwann Zoeys Bild überall veröffentlichen. Ich fühle mich so schrecklich hilflos. Wirklich, am liebsten würde ich sofort selbst losziehen, aber wir wissen beide, ich würde alles nur noch schlimmer machen. Du dagegen bist gut in so was. Wenn du es nicht machst, dann …« »Okay. Okay.« Rae stand auf und brachte die Teller zur Spüle. »Lass mich bitte einen Moment nachdenken.« Alan trat neben sie. »Wir sollten jede Hilfe nutzen, die uns zur Verfügung steht. Wenn ich dich beim Recherchieren irgendwie unterstützen kann, mache ich das natürlich. Damit kenne ich mich aus. Aber Callie muss natürlich an erster Stelle stehen.« »Papa wäre stolz auf dich, Alan.« Rae lächelte ihn vorsichtig an. »Du bist zwar kein investigativer Journalist, aber du denkst wie einer.« »Diese Gene hast du geerbt, das weißt du ganz genau. Ich bin der Computernerd.« Rae öffnete den Mund, doch Alan war noch nicht fertig. »Spar dir die Frage. Ich habe ihren privaten Laptop natürlich schon untersucht. Der hilft uns nicht weiter. Darauf befinden sich nur Suchanfragen zu Möglichkeiten, wie sie unserer Tochter helfen kann, ein glückliches Leben zu führen. Auf ihrem Arbeitsrechner habe ich nur Dinge gefunden, die mit ihrem Teilzeitjob für die Cybersicherheitsfirma zu tun haben. Ich habe mir das alles angesehen, bevor ich die Polizei angerufen habe.« Er zuckte mit den Schultern. »Das heißt nicht, dass ich ihr nicht trauen würde. Ich musste einfach zuerst nachsehen.« Natürlich hatte Alan dahin gehend schon alles überprüft. Zoey hatte eine genauso große Leidenschaft für Informatik, sicher einer der Gründe, warum die beiden zueinandergefunden hatten. »Die Polizei wird das auch alles durchsuchen wollen. Sie werden ihre Anrufe zurückverfolgen und alle digitalen Spuren, die sie hinterlassen hat.« Sosehr Rae auch hoffte, dass Zoey jeden Moment ins Haus spazieren würde, sagte ihr sechster Sinn, dass das nicht so bald geschehen würde. Wenn überhaupt. »Bevor du ihre Mutter suchst, musst du noch etwas wissen.« Alan setzte sich wieder an den Küchentisch. »Was denn?« »Ich habe etwas erfahren. Die Polizei hat mir gesagt, dass es keine Zoey Dumont gibt, die von Wyoming nach Colorado gezogen ist. In Jackson Hole hat nie jemand mit diesem Namen gelebt. Es kann also nicht ihr Geburtsname sein.« »Du meine Güte! Wer ist deine Frau dann?« Er stieß die Luft aus. »Das wüsste ich auch gern.«

1. KapitelZWEI TAGE VORHER ...DIENSTAG, 8:43 UHRDENVER, COLORADORae Burke stand in der Kälte vor der Tür auf der Veranda. In ihrem Inneren rangen Grauen und Hoffnung miteinander. Die Vorhänge des kleinen Hauses, in dem ihr Bruder Alan mit seiner Frau Zoey und seiner süßen vierjährigen Tochter Callie wohnte, waren zugezogen.Rae klopfte noch einmal. Einen Moment später ging die Tür gerade so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Ihr Bruder blieb im Schatten stehen. Ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, schaltete sie das Licht an. Schon besser. Das Haus wirkte sofort wärmer und gemütlicher. Alles sah aus wie immer - bis auf ihren Bruder. Normalerweise war er tadellos gekleidet; sie hatte ihn nur selten in Jogginghose gesehen.Rae stellte ihre Handtasche auf den Tisch bei der Garderobe und zog die Jacke aus, dann hielt sie inne und sah Alan forschend an. Seine Augen waren blutunterlaufen und er hatte sich nicht rasiert.»Du konntest nicht schlafen«, stellte sie fest.Er schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Wie sollte ich auch?«»Oh, Alan.« Sie umarmte ihn, wie es nur eine Schwester konnte. Ohne seine Arme loszulassen, trat sie einen Schritt zurück. »Ich nehme an, du hast die Polizei benachrichtigt?«Er schüttelte ihre Hände ab und rieb sich den Nacken. »Ja, ich habe sie bei der Polizei als vermisst gemeldet. Sie wollten natürlich wissen, ob wir uns gestritten haben oder ob sie so etwas schon öfter gemacht hat.« Er schaute Rae vielsagend an.Vor Jahren war Zoey schon einmal für mehrere Tage verschwunden, aber damals war sie noch nicht mit Alan verheiratet gewesen.»Wie lang ist sie schon fort?« Vielleicht brauchte Zoey einfach eine kleine Auszeit. Sich um ein Kind mit besonderen Bedürfnissen zu kümmern, konnte kräftezehrend sein.Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zu lange. Callie bedeutet Zoey alles. Uns beiden.«Rae nickte. »Zoey würde sie nie verlassen. Sie würde dich nie verlassen. Erzähl mir, was passiert ist.«»Also, Zoey hat Callie morgens um neun zur Verhaltenstherapie gebracht. Um eins hat mich die Therapeutin angerufen. Ich habe Callie abgeholt und dachte, Zoey hätte sich nur hingelegt und den Wecker nicht gehört. Ich habe sie auf ihrem Handy anzurufen versucht und ihr eine Nachricht geschrieben. Aber sie hat nicht geantwortet.« Sie waren in den offenen Ess- und Wohnbereich hinübergegangen, wo Alan nun nervös auf und ab lief. Regale mit Büchern für Leseanfänger und Ratgebern über Kinder mit Autismus säumten die Wände. »Ihr Auto war auch nicht da.« Tiefe Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn. »Ihr Handy war zuletzt hier zu Hause eingeloggt, aber wie man sieht, ist sie nicht hier. Entweder ist ihr Akku leer oder sie hat das Handy ausgeschaltet, keine Ahnung. Ich habe gewartet, dass sie nach Hause kommt oder sich bei mir meldet. Erst habe ich natürlich noch geglaubt, sie würde zurückkommen und eine vernünftige Erklärung haben. Ich habe ihre Freundinnen angerufen. Ich habe dich angerufen. Schließlich habe ich die Polizei kontaktiert und ihnen klarzumachen versucht, dass Zoey ihre Tochter niemals zurücklassen würde.«Warum hatte Alan sich nicht früher bei ihr gemeldet? Sie bemühte sich, nicht verletzt zu reagieren. Sie kannte die Antwort: Alan hatte gehofft, Zoey würde doch noch zurückkommen, und Rae nicht alarmieren wollen. Sie hatte ihn gewarnt und er wollte auf keinen Fall ihr »Ich habe es dir ja gleich gesagt« hören.»Die einzige gute Nachricht ist, dass mich die Polizei jetzt endlich ernst nimmt, da Zoey über Nacht fortgeblieben ist. Ich wollte dich informieren, bevor du es aus den Nachrichten erfährst.«»Hast du die Nachbarn gefragt, ob sie etwas gesehen haben?«»Natürlich! Was denkst du denn?«Sie hatte ihn nicht verärgern wollen, aber sie verstand natürlich, dass er durch den Wind war. Rae ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Sie bezweifelte, dass Alan etwas gegessen hatte. Sie schaute in den Kühlschrank. Eier. Toastbrot. Marmelade. Kein Speck.»Was machst du da?«»Na, F

Erscheinungsdatum
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel Don't Keep Silent
Maße 135 x 205 mm
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte Bodyguard • Christlich • DEA-Agent • Drogenhandel • Entführung • Ermittlungen • Glaube • Journalismus • Menschenhandel • Schnee • Ski • Stalking • Zwangsprostitution
ISBN-10 3-96362-216-4 / 3963622164
ISBN-13 978-3-96362-216-8 / 9783963622168
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