Ich denke immer nur an Dich (eBook)
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2830-7 (ISBN)
Fjodor Dostojewski als großer Liebender
Der bewusst auf Stilisierung verzichtende Briefwechsel des Paares gewährt intime Einblicke in diese Künstlerehe - seine Eifersucht und Leidenschaft, vor allem aber den Halt, den er in seiner ebenbürtigen Gefährtin findet.
»Man ist darauf gefasst, einem Gott zu begegnen, und findet einen Menschen.« André Gide nach der Lektüre von Dostojewskis Briefen
Anna G. Dostojewskaja (1846-1918) war die zweite Ehefrau von Fjodor M. Dostojewski (1821-1881). Sie heiratete den Schriftsteller 1867, noch vor dem Höhepunkt seiner Karriere, und gestaltete sein privates und schriftstellerisches Leben aktiv mit. Das Paar hatte vier Kinder, unternahm zahlreiche Europatouren und kehrte immer wieder nach Sankt Petersburg zurück. Bis zu ihrem Tod galt ihr ganzes Engagement dem Werk und Andenken ihres Mannes.
1867
Nach Dresden
Bad Homburg, Freitag, 17. Mai 1867
½ 12 Uhr morgens
Sei gegrüßt, mein lieber Engel.
Ich umarme und küsse Dich fest, so fest. Die ganze Reise über habe ich an Dich gedacht.
Soeben bin ich angekommen. Jetzt ist es halb zwölf. Ich bin etwas müde und beginne einen Brief. Man hat mir Tee und Waschwasser gebracht. Unterdessen will ich Dir ein paar Zeilen schreiben. In Leipzig musste ich von ½ 6 bis 11 Uhr nachts warten, aber so ist das mit dem Schnellzug.1 Ich saß im Wartesaal, habe etwas gegessen und Kaffee getrunken. Ständig bin ich durch den riesigen Saal gelaufen, in dem der von Bierdunst durchtränkte Rauch in Schwaden wallte. Der Kopf schmerzte, und alles ging mir auf die Nerven. Immerzu dachte ich an Dich und fragte mich: Warum habe ich meine Anja verlassen? Ich rief mir Dich in Erinnerung, jede Regung Deiner Seele, jede Faser Deines Herzens, so wie Du die ganze Zeit über warst, seit Oktober, und begriff, dass ich einen so vollkommenen, lauteren, stillen, sanften, schönen, unschuldigen und an mich glaubenden Engel wie Dich gar nicht verdiene. Wie konnte ich Dich nur verlassen? Warum fahre ich? Wohin fahre ich? Gott hat Dich mir anvertraut, damit nichts von den Keimen und Reichtümern Deiner Seele und Deines Herzens verlorengeht, sondern alles reich und üppig gedeiht und erblüht; er gab Dich mir, damit ich meine schweren Sünden durch Dich sühne, indem ich Dich Gott darbiete als gebildet, zielstrebig, bewahrt, beschützt vor allem, was niedrig ist und den Geist abtötet; ich aber kann (obwohl mir dieser Gedanke ständig auch vorher gekommen war, besonders beim Beten), ich aber bringe es fertig, Dich zu verwirren mit so charakterlosen, unvernünftigen Dingen wie dieser meiner dummen Reise hierher. Schrecklich traurig war mir gestern zumute. So hätte ich Dich wohl auch umarmt, wenn Du bei mir gewesen wärst, aber umgekehrt bin ich nicht, obgleich mir der Gedanke kam. Sobald ich an all diese Wrangels, Latkins, Reislers und vieles andere denke, was wichtiger ist als sie, weiß ich weder ein noch aus und gerate ganz durcheinander. Eine Dummheit begehe ich, eine Dummheit, und vor allem eine Schlechtigkeit, und schwach bin ich, aber hier gibt es eine winzige Chance und … Doch hol’s der Teufel, ich höre auf!
Endlich stiegen wir ein und fuhren los. Der Wagen voll besetzt. Die Deutschen sind überaus höflich, wenngleich äußerlich schrecklich roh. Stell Dir vor: Nachts war es so kalt wie bei uns im Oktober bei schlechtem Wetter. Die Scheiben liefen an – und ich mit meinem leichten Mantel und in Sommerhose. Ich war ganz durchgefroren; etwa drei Stunden konnte ich schlafen – vor Kälte bin ich aufgewacht. Um drei Uhr trank ich, ganz steif vor Kälte, in einem Warteraum unterwegs eine Tasse Kaffee und wärmte mich zehn Minuten auf. Dann wieder in den Wagen. Gegen Morgen wurde es wesentlich wärmer. Die Gegend hier ist sehr schön, aber alles trübe, bewölkt, feucht und kalt, kälter als in Dresden. Man erwartet, dass es aufklart. In Frankfurt war ich keine zwei Minuten, ich fürchtete, den Zug hierher zu verpassen – und nun bin ich hier, im Hôtel Victoria. Das Zimmer kostet fünf Franken den Tag – offensichtlich sind es Gauner. Doch ich werde zwei Tage bleiben, allerhöchstens drei. Anders geht es nicht – selbst wenn ich Erfolg haben sollte.
Warum hast Du denn geweint, Anja, Liebling, als Du mich begleitetest? Schreibe mir hierher, mein Täubchen. Schreibe [ein Wort durchgestrichen] über jede Kleinigkeit, aber nicht zu lange Briefe (streng Dich nicht zu sehr an) und unterschreibe nicht mit Deinem vollen Namen (falls ich abreise und die Briefe hierbleiben).
Anja, mein Licht, meine Sonne, ich liebe Dich! Während einer Trennung fühlt und empfindet man alles und erkennt, wie stark man liebt. Nein, Du und ich, wir werden bereits eins.
Beruhige mich, vielleicht finde ich morgen einen Brief von Dir, kann sein, dass Du meinen auch morgen erhältst.
Schreib nicht, bevor du meinen (nächsten) zweiten Brief erhalten hast.
Leb wohl, meine Freude, leb wohl, mein Licht. Meine Nerven sind etwas angegriffen, aber ich bin gesund und nicht allzu erschöpft. Und wie geht es Dir?
Ganz der Deine, ich küsse Dich unzählige Male.
Dein Dich liebender Dostojewski
Nach Dresden
Bad Homburg, Sonnabend, 18. Mai 1867
10 Uhr morgens
Ich grüße Dich, mein Engel Anja, hier noch ein paar Zeilen an Dich – tägliche Mitteilungen. Ich werde Dir vorläufig jeden Morgen schreiben; das ist mir ein Bedürfnis, weil ich jeden Augenblick an Dich denke. Die ganze Nacht habe ich von Dir geträumt und auch, stell Dir vor, von Mascha, meiner Nichte, Fedjas Schwester. Wir haben uns im Traum versöhnt, und ich war sehr froh. Doch zur Sache.
Gestern war es kalt und sogar regnerisch; den ganzen Tag fühlte ich mich schwach und so mit den Nerven herunter, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Nur gut, dass ich im Zug noch recht und schlecht für etwa zwei Stunden eingeschlummert war. Am liebsten hätte ich gestern den ganzen Tag geschlafen. Aber da war das Spiel, von dem ich mich nicht losreißen konnte; du kannst Dir vorstellen, wie aufgeregt ich war. Denk dir: Ich hatte schon am Morgen angefangen zu spielen und gegen Mittag 16 Imperial verloren. Geblieben waren nur noch 12 und einige Taler. Nach dem Mittagessen ging ich mit dem Vorsatz hin, äußerst vernünftig zu sein, und habe Gott sei Dank die verspielten 16 zurück- und darüber hinaus 100 Gulden hinzugewonnen. Ich hätte 300 gewinnen können, ich hatte sie schon in den Händen, aber ich riskierte zu viel und habe sie vertan. Das ist meine endgültige Beobachtung, Anja: Wenn man vernünftig ist, d. h. wie aus Marmor, kalt und übermenschlich vorsichtig, kann man ganz gewiss, ohne jeden Zweifel, gewinnen, so viel man will. Aber man muss lange Zeit spielen, viele Tage, muss sich mit wenigem begnügen, wenn es nicht läuft, und darf sich nicht gewaltsam auf eine Chance stürzen. […] Kurz, ich werde mich bemühen, übermenschliche Kräfte aufzubieten, um vernünftiger zu sein, doch andererseits bin ich einfach nicht imstande, noch mehrere Tage hierzubleiben. Ohne Übertreibung, Anja: Mir ist all das so zuwider, d. h. schrecklich, dass ich am liebsten wegliefe, und wenn ich dann noch an Dich denke, drängt mein ganzes Wesen zu Dir.
Ach, Anja, ich brauche Dich, ich habe es gespürt! Wenn ich an Dein heiteres Lächeln denke, die freudige Wärme, die sich in Deiner Gegenwart in mein Herz ergießt, dann zieht es mich unwiderstehlich zu Dir. Anja, Du siehst mich gewöhnlich mürrisch, düster und launisch: Das ist nur äußerlich; so war ich immer, vom Schicksal gebrochen und verdorben, innen aber ist es anders, glaube mir!
Indessen hat dieser Gelderwerb ohne Gegenleistung wie hier (nicht ganz ohne Gegenleistung: man zahlt mit Pein) etwas Aufreizendes und Betäubendes, aber wenn ich überlege, wofür wir das Geld brauchen, wenn ich an die Schulden denke und an diejenigen, die es außer mir noch brauchen, dann fühle ich, dass ich nicht weggehen kann. Aber ich stelle mir meine Pein vor, wenn ich verliere und nichts ausrichte: So viel Scheußliches hätte ich vergebens auf mich genommen und müsste noch ärmer wieder abfahren, als ich gekommen bin. Anja, versprich mir, dass Du diese Briefe niemals jemandem zeigst. Ich möchte nicht, dass meine grässliche Lage zum Gegenstand von Gerede wird. »Ein Dichter ist eben ein Dichter.«
Ich umarme Dich, Anja, mein Licht. Vielleicht erhalte ich heute einen Brief von Dir, mein einziger Freund. Bis morgen. Morgen schreibe ich bestimmt. Jedenfalls werde ich auf keinen Fall lange hierbleiben.
Gestern ließ ich zur Nacht den Kamin heizen, der qualmte, und ich war davon ganz benommen. Nachts habe ich wie erschlagen geschlafen, obwohl mir der Kopf wehtat. Heute aber bin ich völlig gesund. Die Sonne scheint, und es ist ein wunderbarer Tag.
Leb wohl, meine Freude.
Ewig Dein F....
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Übersetzer | Brigitta Schröder |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Perepiska |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Schlagworte | Briefe • Brüder Karamasow • Der Spieler • Dostojewskaja • Dostojewski • Familienleben • Klassiker • Künstlerehe • Liebesbriefe • Russische Literatur • Schuld und Sühne |
ISBN-10 | 3-8412-2830-5 / 3841228305 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2830-7 / 9783841228307 |
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