Schuld und Sühne (eBook)

Roman in sechs Teilen mit einem Epilog
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
727 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2841-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schuld und Sühne -  Fjodor Dostojewski
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

»Der ganze psychologische Prozess eines Verbrechens.« Fjodor Dostojewski  

Der Student Rodion Raskolnikow begeht den perfekten Mord. Doch dann scheitert er an seinen Schuldgefühlen. Raskolnikow ist der große Neurotiker des 19. Jahrhunderts. Der Roman stand Woody Allens »Match Point« und Alfred Hitchcocks »Cocktail für eine Leiche« Pate.  

»Bei Dostojewki geht es immer um das große Ganze.« Wladimir Kaminer



Fjodor Dostojewski (1821-1881) wurde in Moskau als Sohn eines Militärarztes und einer Kaufmannstochter geboren. Er studierte an der Petersburger Ingenieurschule und widmete sich seit 1845 ganz dem Schreiben. 1849 wurde er als Mitglied eines frühsozialistischen Zirkels verhaftet und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor der Erschießung wandelte man das Urteil in vier Jahre Zwangsarbeit mit anschließendem Militärdienst als Gemeiner in Sibirien um. 1859 kehrte Dostojewski nach Petersburg zurück, wo er sich als Schriftsteller und verstärkt auch als Publizist neu positionierte. Wichtigste Werke: 'Arme Leute' (1845), 'Der Doppelgänger' (1846), 'Erniedrigte und Beleidigte' (1861), 'Aufzeichnungen aus einem Totenhaus' (1862), 'Schuld und Sühne' (1866), 'Der Spieler' (1866), 'Der Idiot' (1868), 'Die Dämonen' (1872), 'Der Jüngling' (1875), 'Die Brüder Karamasow' (1880).

Erster Teil


1


Anfang Juli, bei brütender Hitze, trat gegen Abend ein junger Mann aus seiner Kammer, die er in der S.-Gasse zur Untermiete bewohnte, hinaus auf die Straße und begab sich langsam, wie unentschlossen, in Richtung K.-Brücke.

Eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe hatte er glücklich vermeiden können. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach eines hohen, fünfgeschossigen Hauses und glich eher einem Schrank als einem Zimmer. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer inklusive Beköstigung und Bedienung vermietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer, in einer separaten Wohnung, und jedesmal, wenn er aus dem Haus ging, mußte er notgedrungen an ihrer Küche vorbei, deren Tür zum Treppenhaus fast immer sperrangelweit offenstand. Und jedesmal, wenn er vorbeiging, durchzuckte ihn schmerzhaft ein Gefühl der Feigheit, deretwegen er sich schämte und die Stirn runzelte. Er hatte nämlich einen Haufen Schulden bei der Wirtin und fürchtete sich, ihr zu begegnen.

Nicht daß er derart feige und verängstigt gewesen wäre, ganz im Gegenteil; aber seit einiger Zeit war er in einem gereizten und erregten Zustand, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich so in sich selbst versenkt und von allen abgekapselt, daß er jede Begegnung fürchtete, nicht nur die mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn erdrückt; aber selbst seine bedrängte Lage hatte er in letzter Zeit nicht mehr als Last empfunden. Er hatte völlig aufgehört, sich um seinen Lebensunterhalt zu kümmern, und verspürte auch keine Lust dazu. Im Grunde fürchtete er sich überhaupt vor keiner Wirtin, ganz gleich, was sie gegen ihn im Schilde führen mochte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, sich allen möglichen Unsinn anzuhören über den lästigen Alltagskram, der ihn ganz und gar nicht interessierte, all die Mahnungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen, und sich herauswinden, entschuldigen und lügen zu müssen – nein, dann schon lieber wie eine Katze die Treppe hinunterschleichen und vorbeihuschen, damit ihn niemand sah.

Als er diesmal auf die Straße hinaustrat, wunderte er sich allerdings, daß er vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin Angst gehabt hatte.

Da nehme ich mir so eine Sache vor und fürchte mich vor solchen Lappalien! dachte er mit einem sonderbaren Lächeln. Hm … ja … alles liegt in der Hand des Menschen, und er läßt es sich vor der Nase wegschnappen – einzig und allein aus Feigheit … Eine typische Erscheinung … Interessant, was die Menschen wohl am meisten fürchten? Am meisten fürchten sie, einen neuen Schritt zu machen, ein neues, eigenes Wort zu sprechen. Aber ich rede zuviel. Daher tue ich auch nichts, weil ich rede. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: Ich rede, weil ich nichts tue. Das habe ich mir im letzten Monat so angewöhnt, herumzureden, während ich tagelang in meiner Ecke liege und über Gott und die Welt nachdenke. Warum gehe ich jetzt eigentlich los? Bin ich denn überhaupt dazu fähig? Habe ich das wirklich ernsthaft vor? Ganz und gar nicht. Das ist doch nur ein Spiel meiner Phantasie; ja, Spielereien sind das, nichts als Spielereien.

Auf der Straße war eine schreckliche Hitze; dazu eine Schwüle und ein Gedränge, überall Kalk, Gerüste, Ziegel, Staub und jener besondere sommerliche Mief, den jeder Petersburger, der sich nicht ein Sommerhaus auf dem Lande mieten kann, nur zu gut kennt; das alles zerrte mit einemmal an den ohnehin gereizten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank der in diesem Stadtteil besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, die einem auf Schritt und Tritt begegneten, obwohl es mitten in der Arbeitszeit war, rundeten das abstoßende und traurige Bild ab. Ein Ausdruck tiefsten Ekels zuckte über das feingeschnittene Gesicht des jungen Mannes. Er sah übrigens bemerkenswert gut aus, hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war mehr als mittelgroß, schlank und wohlgebaut. Doch bald versank er in eine tiefe Nachdenklichkeit und schritt, eher schon wie geistesabwesend, dahin, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, ja ohne sie wahrnehmen zu wollen. Nur hin und wieder brummte er etwas vor sich hin, gemäß seiner Vorliebe für Selbstgespräche, die er sich soeben eingestanden hatte. Im gleichen Augenblick wurde ihm bewußt, daß sich seine Gedanken manchmal verwirrten und daß er sehr erschöpft war: Schon den zweiten Tag hatte er fast nichts gegessen.

Er war so schlecht angezogen, daß ein anderer, selbst wenn er daran gewöhnt gewesen wäre, sich geschämt hätte, tagsüber in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Freilich konnte man in diesem Stadtviertel durch seinen Aufzug wohl kaum jemanden in Staunen versetzen. Durch die Nähe des Heumarkts, die riesige Anzahl gewisser Häuser und die vorwiegend aus Fabrikarbeitern und Handwerkern bestehende Bevölkerung, die sich in diesen Straßen und Gassen im Stadtkern Petersburgs ballte, war das Gesamtbild manchmal von derartigen Subjekten bunt gesprenkelt, daß es sonderbar gewesen wäre, sich beim Anblick einer solchen Gestalt zu wundern. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel bitterböse Verachtung angesammelt, daß er, ungeachtet all seiner mitunter sehr jugendlichen Empfindlichkeit, am allerwenigsten daran dachte, sich seiner Lumpen auf der Straße zu schämen. Etwas anderes war es, wenn er einem Bekannten oder früheren Kommilitonen begegnete – was er überhaupt nicht mochte … Als jedoch ein Betrunkener, den man gerade Gott weiß warum und wohin in einem riesigen Fuhrwerk, mit einem riesigen Lastgaul davor, durch die Straße kutschierte, ihm im Vorbeifahren zurief: »He, du mit deinem deutschen Deckel!« und aus vollem Halse grölend mit dem Finger auf ihn zeigte, blieb der junge Mann plötzlich stehen und faßte krampfhaft nach seiner Kopfbedeckung. Es war ein hoher, runder Hut von Zimmermann, aber schon völlig schäbig und verschossen, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und auf der einen Seite gräßlich eingebeult. Doch nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, fast Entsetzen, packte ihn.

»Hab ich’s doch gewußt«, brummte er fassungslos, »hab ich mir’s doch gedacht! Das ist das Allerschlimmste! Irgend so eine Dämlichkeit, die banalste Kleinigkeit kann das ganze Vorhaben zum Scheitern bringen! Wie dieser zu auffällige Hut … Er ist lächerlich und fällt daher auf … Zu meinen schäbigen Lumpen brauche ich unbedingt eine Mütze, und sei’s irgendein alter Deckel, aber nicht dieses Ungetüm von Hut. Kein Mensch trägt so was, auf einen Kilometer weit bemerkt man ihn und erinnert sich daran … das ist die Hauptsache, man erinnert sich später daran, und schon hat man einen Beweis. Man muß möglichst unauffällig sein … Die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind am wichtigsten! Sie sind es, die immer alles verderben.«

Er mußte nicht weit gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertdreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er völlig in seinen Träumen befangen war. Damals wollte er diesen Träumen selbst noch nicht glauben und ärgerte sich nur über ihre abscheuliche, aber aufreizende Dreistigkeit. Jetzt, einen Monat später, sah er sie schon anders und hatte sich – ungeachtet aller höhnischen Selbstgespräche über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit – sogar unwillkürlich daran gewöhnt, den »abscheulichen« Traum bereits als reales Vorhaben zu betrachten, obwohl er sich selbst immer noch nicht glaubte. Er war jetzt sogar unterwegs, um einen Versuch seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt wurde seine Aufregung immer größer.

Mit stockendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich dem riesengroßen Gebäude, das mit einer Seite an den Kanal, mit der anderen an die … – Straße grenzte. Es bestand aus lauter kleinen Quartieren, deren Bewohner allen möglichen Gewerben nachgingen – Schneider, Schlosser, Köchinnen, verschiedene Deutsche, Mädchen, die sich selbst aushielten, kleine Beamte und ähnliches Volk. Durch die beiden Haustore und über die beiden Höfe kamen und gingen ununterbrochen Menschen. Drei oder vier Hausknechte taten hier Dienst. Der junge Mann war höchst zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte unbemerkt vom Haustor gleich rechts zur Treppe. Das Treppenhaus war finster und schmal, eine richtige »Hintertreppe«, aber er kannte sich bereits aus und hatte die Örtlichkeit genau studiert, und sie gefiel ihm: In solch einer Finsternis war selbst ein neugieriger Blick ungefährlich. Wenn ich jetzt schon solche Angst habe, was würde erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat kommen sollte, dachte er unwillkürlich und stieg zum vierten Geschoß hinauf. Hier versperrten ihm ausgediente Soldaten den Weg, die Möbel aus einer Wohnung hinaustrugen. Er wußte bereits, daß dort ein deutscher Beamter mit seiner Familie lebte. Offensichtlich zieht der Deutsche gerade aus, und in dieser Etage, in diesem Aufgang und auf diesem Treppenabsatz ist für einige Zeit jetzt nur das Quartier der Alten bewohnt. Das ist gut … für alle Fälle … dachte er und läutete an der Wohnungstür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Messing. In all den winzigen Wohnungen dieser Häuser sind fast überall solche Türglocken. Er hatte ihren Klang schon vergessen, und nun schien der besondere Ton ihn an etwas zu erinnern und es ihm deutlich vor Augen zu führen … Er zuckte zusammen, seine Nerven waren für diesmal schon allzu sehr strapaziert. Kurz darauf wurde die Tür einen winzigen Spaltbreit geöffnet: Durch diesen Spalt musterte die Wohnungsinhaberin den Ankömmling mit offenkundigem Argwohn, und man sah nur ihre winzigen Augen aus der...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2021
Reihe/Serie Dostojewski Sämtliche Romane und Erzählungen
Übersetzer Margit Bräuer, Rolf Bräuer
Sprache deutsch
Original-Titel Пресупление и наказание
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dostojewski • Klassiker • raskolnikow • Roman • Russische Geschichte • Russische Gesellschaft • Russische Literatur • Sankt Petersburg • St. Petersburg • Verbrechen und Strafe • Weltliteratur
ISBN-10 3-8412-2841-0 / 3841228410
ISBN-13 978-3-8412-2841-3 / 9783841228413
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Iris Wolff

eBook Download (2024)
Klett-Cotta (Verlag)
18,99