Das Leben in unseren Händen (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491423-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben in unseren Händen -  Eva Neiss
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Manchmal macht Liebe uns blind, und manchmal lehrt sie uns sehen. 1939: Mit einem der letzten Schiffe gelingt Hannah und Ada Rosenbaum die Ausreise aus Deutschland nach New York. Während Hannah davon träumt, Ärztin zu werden, ist ihre Schwester Ada schwanger, verheimlicht jedoch den Kindsvater. Kaum sind sie in New York angekommen, kommt Adas Tochter zur Welt - viel zu früh. Hannah kann ihre Nichte nur vor dem sicheren Tod bewahren, weil sie diese in die Obhut des berühmten Martin A. Couney übergibt, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Frühgeborene zu versorgen - ein umstrittenes Unterfangen. Während Hannah wochenlang um das Leben ihrer Nichte bangt, kann sie nicht umhin, die Arbeit von Mr. Couney zu bewundern. Als er ihr anbietet, in seinem Krankenhaus zu arbeiten, ergreift sie die Chance - und kommt ihrem Traum Stück für Stück näher.

Eva Neiss, geboren 1977, hat einen Magister in Literaturwissenschaften und einen Bachelor in Psychologie. Während ihres Studiums und jahrelanger journalistischer Arbeit entdeckte sie ihre Liebe zum ausgiebigen Recherchieren und Erkunden von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Leider kam zwischen all den Fakten das Erfinden von Geschichten zu kurz, weshalb sie sich dazu entschloss, beide Leidenschaften beim Schreiben historischer Romane zu verbinden. Heute lebt Eva Neiss glücklich zwischen Fiktion und Wirklichkeit sowie mit Mann und Sohn im Süden Hamburgs.

Eva Neiss, geboren 1977, hat einen Magister in Literaturwissenschaften und einen Bachelor in Psychologie. Während ihres Studiums und jahrelanger journalistischer Arbeit entdeckte sie ihre Liebe zum ausgiebigen Recherchieren und Erkunden von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Leider kam zwischen all den Fakten das Erfinden von Geschichten zu kurz, weshalb sie sich dazu entschloss, beide Leidenschaften beim Schreiben historischer Romane zu verbinden. Heute lebt Eva Neiss glücklich zwischen Fiktion und Wirklichkeit sowie mit Mann und Sohn im Süden Hamburgs.

Schmökerspaß!

Teil 1


Eine neue Welt

Kapitel 1


Ellis Island, New York, Mai 1939

Hätte jemand Hannah vor ihrer Abreise gefragt, wie sie sich ihre neue Heimat vorstellte, wäre ihr keine Antwort eingefallen. Die Bilder in ihrem Kopf waren zu verschwommen, um sie in Worte zu fassen. Doch eines hätte sie, ohne zu zögern, ausgeschlossen: dass ihr neues Leben seinen Anfang hinter Gittern nehmen würde. Aber genau das war geschehen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf die Flaggen mit den Sternen und Streifen über ihr, während eine höhnische Stimme in ihrem Kopf raunte: Willkommen im Niemandsland.

Sie saß fest. Die letzten sechs Wochen hatte sie in einem Gemäuer auf einer winzigen Insel verbracht. Auf den ersten Blick erinnerte es an einen französischen Palast, den man durch drei imposante Torbögen betrat. Sein roter Backstein wurde von den üppigen Verzierungen aus Kalk und Granit nahezu komplett verdeckt.

Im Innern des prächtigen Baus sah es weit weniger vielversprechend aus. Abend für Abend wurden sie ab halb acht zusammen mit einem Dutzend fremder Frauen und Kinder in die Schlafsäle verbannt. Dann wurden die Türen verschlossen und erst am nächsten Morgen um halb sieben mit dem Weckruf »Zeit aufzustehen!« wieder geöffnet. Und die Tage verbrachten sie eingepfercht mit Hunderten von weiteren Menschen im Aufenthaltssaal.

Hannah hätte all die glorreichen Erzählungen über Amerika längst als Märchen abgetan, hätte man ihr nicht schon die Wolkenkratzer unter die Nase gerieben, wie man dem Hund einen Knochen vorhält. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ada hatte sie auf dem Deck des Schiffes gestanden und die Silhouette Manhattans mit den Augen verschlungen. Dort entließ man die Reisenden der ersten und der zweiten Klasse in die Freiheit. Auch die Passagiere der dritten Klasse und des Zwischendecks verließen das Schiff, nur dass auf sie eine Fähre wartete, um sie schnellstmöglich abzutransportieren.

»Wir fahren nach Ellis Island«, hatte einer der Beamten angekündigt –, und ein Mitreisender erwiderte leise: »Die Insel der Tränen«. Niemand hatte die Schwestern vorgewarnt. Sie hatten auf das versprochene goldene Tor gehofft, das ihnen eine neue Welt eröffnen würde. Seither bezahlte Hannah den winzigen Moment der Trunkenheit, den sie angesichts der Stadt empfunden hatte, mit einem anhaltenden Kater. Die trostlose Anlage im Hudson River war kaum größer als ein Stadtpark. Jedes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer realen Welt jenseits des Wassers löste sich im Laufe der verlorenen Stunden im Wartesaal auf. Es gab nichts zu tun, außer abzuwarten, ob man sie für wert oder unwert erachtete, Amerikaner zu werden.

Nachdenklich betrachtete Hannah ihre Schwester. Sie folgte Adas Blick entlang der endlosen Tischreihen und überfüllten Bänke, empor zu den Fenstern, wo sie den Rumpf der Freiheitsstatue erkannte.

»Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, …« Ada seufzte. »Von wegen. So müde, wie ich bin, hätte sie mich begeistert in ihre Arme schließen müssen.« Ein Mitarbeiter der Hebrew Immigrant Aid Society hatte bei seiner Begrüßung die Inschrift auf dem Sockel des Wahrzeichens zitiert. Die HIAS half jüdischen Einwanderern, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden, und entsandte ihre Leute sogar bis nach Ellis Island. Genützt hatte es Hannah und Ada bislang nicht. Sie waren auf sich allein gestellt, seit sie sich in Frankfurt von ihren Eltern verabschiedet hatten. Selten war Hannah sich so verlassen vorgekommen wie angesichts der unzähligen Stufen voller Menschen vor ihnen. Die Treppe führte zum Registrierraum. Auf dem Weg hatte sich Ada immer wieder am Geländer abgestützt. »Wie weit müssen wir denn noch gehen?«

»Sicher sind wir gleich da«, hatte Hannah mit fester Stimme behauptet, als hätte sie eine genaue Vorstellung von dem »da«. Dabei wurde ihre Sicht auf den Anfang der Schlange von den vielen Schultern und Hüten versperrt.

Vor ihnen drehte sich eine ältere Frau um. Sie war von dem gleichen Schiff wie die Schwestern ausgespuckt worden und sprach deutsch mit ihnen. »Man bekommt kaum Luft, oder?«

Hannah nickte.

Der Blick der Frau senkte sich auf Adas Bauch. »Seid froh, dass es die medizinischen Untersuchungen nicht mehr gibt. Sonst hätte sie jetzt ein P auf der Schulter, und man würde sie hierbehalten.«

»Ein P?«, fragte Hannah nach, da Ada keine Anstalten machte, etwas zu erwidern.

Im müden Antlitz ihr gegenüber hoben sich die Mundwinkel wie unter großer Anstrengung. »Pregnant. Schwanger.«

Ada verzog das Gesicht und drehte sich weg, aber Hannah erwiderte das Lächeln. Sie erfuhr, dass die Frau vor einigen Jahren schon einmal an der gleichen Stelle gestanden hatte. Damals, als man die Menschen mit Kreide markiert hatte, sobald sie seelische oder körperliche Auffälligkeiten zeigten. »Auf den Mantel unseres jüngsten Sohnes malten sie ›Ct‹. Zuerst dachte ich nur, hoffentlich geht die Farbe wieder raus. Er hatte doch bloß den einen Mantel.« Dann erfuhr sie, dass die Buchstaben für ein Trachom standen, was zu der Zeit als eines der übelsten Gebrechen galt und eine sofortige Ausweisung nach sich zog.

»Augenerkrankung, unheilbar«, murmelte Hannah. So viel war ihr klar, selbst wenn sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester nur auf dem Papier beendet hatte.

»Ja. Und wäre er ein Jahr älter gewesen, hätten sie ihn ganz alleine nach Hause geschickt. Einen elfjährigen Jungen, stellen Sie sich das vor. Als hätte ich ihn jemals alleine gehen lassen. Er war doch mein Kleiner.«

Mit wehmütiger Miene versuchte die Frau, Adas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als erwarte sie von einer werdenden Mutter mehr Verständnis. Außenstehenden gelang es nur selten, in Adas schönem Gesicht zu lesen. Wie leicht war das winzige Zucken ihrer Lider zu übersehen. Mit Glück bemerkte die Fremde gar nicht die ungnädige Gereiztheit, die ihr entgegenschlug. Wieder sprang Hannah für ihre Schwester ein.

»Und nun wagen Sie einen zweiten Versuch?«

Die Frau nickte. »Heute wird man nur noch weggeschickt, wenn etwas mit den Papieren nicht stimmt, hat man mir gesagt.«

Dann haben wir es geschafft! Was die Dokumente anging, hatte ihr Vater ganze Arbeit geleistet. Hannah umklammerte die Ledermappe unter ihrem Arm.

»Und Ihr Junge?«

Sie waren oben angelangt und standen nun in einem Raum mit mahagonifarbenen Tischen, an denen Dokumente begutachtet und gestempelt wurden.

»Ist fast blind vor ein Auto gelaufen. Er ist gestorben.«

»Oh nein, das tut mir schrecklich leid.«

Die Frau nickte mit trauriger Miene. »Meine anderen Kinder sind mittlerweile alle erwachsen. Und mein Mann hat mir schon eine ganze Weile nicht mehr geschrieben. Ich hoffe, ich finde sie.«

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Hannah.

Ihre Gesprächspartnerin wurde aufgerufen, an einen der Tische heranzutreten, hinter denen auf erhöhten Stühlen die Inspektoren saßen. Sie drehte sich ein letztes Mal zu Hannah um. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

»Danke, das wünschen wir Ihnen auch.«

»Sprichst du jetzt für mich mit?«, fragte Ada, sobald die Frau außer Hörweite war.

»Sie hat mir leid getan.«

»Dann hast du heute noch viel zu tun. Ich denke, die meisten sind nicht hier, weil sie in Deutschland so ein schönes Leben geführt haben.«

»Und deshalb soll ich sie ignorieren?«, fragte Hannah sanft. Sie schob den Anflug von Gehässigkeit auf Adas Erschöpfung.

»Ich dachte, man sieht es mir noch nicht an«, sagte diese mit ihrer samtenen Stimme. Sie war schmerzlich schön, trotz oder wegen der dunklen Schatten, über denen das Grün ihrer Iris zu leuchten schien. Ada kam nach ihrer Mutter. Hannah hingegen hatte die hellblauen Augen ihres Vaters geerbt. Sie versuchte, ihre Schwester mit dem Blick einer Fremden zu mustern. Für sie selbst war die kleine Wölbung des Bauches unübersehbar, für weniger aufmerksame Betrachter bliebe sie vermutlich unter dem weiten Kleid verborgen.

»Sie stand direkt vor uns. Sonst hätte sie sicher nichts bemerkt.«

»Gut.« Ada stieß ihre Schwester sanft in die Seite. »Wir sind an der Reihe. Sprich du mit Ihnen, Streberin, dein Englisch ist besser.«

Hannah verdrehte gutmütig die Augen. Im Verlauf der vergangenen Monate hatte Ada keine Gelegenheit versäumt, ihre jüngere Schwester wegen ihres Eifers aufzuziehen. Trotz der langen Schichten in Frankfurts jüdischem Krankenhaus hatte Hannah in jeder freien Minute Vokabeln gelernt. Ihre Eltern hatten die Schwestern außerdem zu einem Lehrer geschickt, der angehenden Auswanderern kostenlose Englischstunden gab, doch Ada hatte sich regelmäßig vor dem Unterricht gedrückt, ohne dass die Eltern es erfahren hätten. Dass sie so wenig Interesse für die Sprache aufbrachte, war Hannah unbegreiflich. Seine Umgebung nicht zu verstehen, sich nicht verständigen zu können – hieße das nicht, sich wehrlos auszuliefern?

Doch auch wenn sie sich so ausgiebig auf diesen Moment vorbereitet hatte, pochte Hannahs Herz auf dem Weg zum Pult des Beamten nun immer schneller. Mit Mühe brachte sie die formvollendete Begrüßung über die Lippen, die sie zuvor in Gedanken unzählige Male geübt hatte. Der Inspektor sah nicht einmal von den Papieren hoch, sondern bedeutete dem Mann an seiner Seite mit einem Nicken, das Gespräch zu beginnen. Der stellte sich ihnen auf Deutsch als Übersetzer vor. Gemeinsam mit dem Inspektor glich er die Passagierliste mit den Reisepässen ab....

Erscheint lt. Verlag 15.12.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Ärztin • Aufbau-Reihe • Brigitte Riebe • Brutkasten • Coney Island • Die Schwestern vom Ku'damm • Flucht aus Deutschland • Frauen in Männerberufen • Frühchen • Frühgeborenen-Diagnostik • Frühgeburt • Inkubatoren • Katharina Fuchs • Lebensfreude • Lebensmut • Liebe in schweren Zeiten • Lili Beck • Luna Park • Martin Arthur Couney • mutige Frauen • Neonatologie • Neugeborene • New York • Schicksalsschlag • Schwestern • Schwesternliebe • Starke Frauen
ISBN-10 3-10-491423-0 / 3104914230
ISBN-13 978-3-10-491423-7 / 9783104914237
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