Die Sackgasse -  Hans K. Stöckl

Die Sackgasse (eBook)

Vom Leben und Sterben einer Wiener Straßenhure
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2021 | 1. Auflage
564 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1181-1 (ISBN)
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Das tragische Schicksal einer jungen Frau aus dem Wiener Kleinbürger- und Arbeitermilieu der 1970er-Jahre: Lena hat den Werkzeugmacher Andi geheiratet - aus Liebe, wie sie beide sagen. Doch im Grunde suchen sie nur Sicherheit. Bald kommt es zu ersten Spannungen. Das dumpfe Unbehagen steigert sich zur blinden Aggression, es kommt wegen alltäglicher Nichtigkeiten zu selbstzerstörerischen Fehden. Schließlich lassen sie sich scheiden. Lena ist nun mit ihrer kleinen Tochter auf sich selbst gestellt und schlägt sich mit einem Hungerlohn als Friseurin durch. Das Schicksal scheint ihr einen Ausweg zu bieten, als ihr eine Kundin einen Posten als Bardame in einem Nachtlokal anbietet. Sie willigt ein und erliegt sehr rasch der Möglichkeit, »leicht« Geld zu verdienen - und wird ein Strichmädchen. Lena gerät in das Milieu der Dirnen, Zuhälter und kleinen Ganoven. Und nur zu bald muss sie erkennen, dass auch hier keine »Freiheit« zu finden ist. Im Gegenteil: Hier regiert noch viel offener Gewalt und Brutalität - ein Leben, dem Lena auf die Dauer nicht gewachsen ist. Lebendig und dynamisch zeichnet der Autor Charaktere und Milieu. Er schildert ein Stück Leben, farbig und deprimierend zugleich - und provoziert zur echten Auseinandersetzung mit einem Thema, das in der Literatur oft mit allzu vielen Klischees behaftet ist. Hans Karl Stöckl hat sich ausführlich mit dem Thema dieses Buches auseinander gesetzt und grundlegende Milieu- und Charakterstudien betrieben. Sachlich und intensiv schildert er die Ursachen einer sozialen Misere.

"Man spricht über ihn, den "stillen Künstler", dessen Werke man abgebildet in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern findet und der sich selbst so unscheinbar im Hintergrund verhüllt. Hans K. Stöckl ist nicht nur bildender Künstler, Autor, bedeutender Karikaturist wie Illustrator, sondern auch ein herausragender Satiriker und Bildhauer. Am 21.2.1945 in Großebersdorf/Niederösterreich geboren, lebt und arbeitet der Künstler heute in Hohenruppersdorf, circa 50 km von Wien. In mehr als 60 Büchern findet man seine Illustrationen und unzählige Magazine und Zeitschriften schmücken sich mit seinen Cartoons und Karikaturen. Ein Mann, den man vorstellen muss. Es finden sich viele signifikante Eigenschaften des Hans K. Stöckl, doch keine käme auch nur annähernd dem gleich was auszudrücken es gelte. Nicht nur sein künstlerisches Geschick besticht, sondern ferner sein intellektueller Scharfsinn mit Blick für das Wesentliche. Ein Mensch, der nicht hinnimmt, sondern hinterfragt, politisch wie gesellschaftskritisch beäugt und mit seiner Kunst den Worten Ausdruck verleiht. Hans Karl Stöckel, ein Grandseigneur offenen Blickes, bemerkenswerten Talents und großem Herzen, der nicht nur eine Bereicherung in der Welt der Künste, sondern auch als Charakter darstellt." (Cornelia Kerber, Mitglied des deutschen Fachjournalistenverbands, Kunst und Kultur)

Dagmar überlegte, ob wohl alle Friedhöfe in den Großstädten so aussähen wie der Wiener Zentralfriedhof.

Als sie in den Weg einbog, der zur Aufbahrungshalle führt, erblickte sie vor dem Eingang des Gebäudes eine Gruppe Wartender.

Sie kannte sie alle.

Sie pflegten fast jeden Abend in demselben rauchigen Kaffeehaus zusammenzusitzen.

Morgen würden sie um eine weniger sein.

Dagmar versuchte, sich das Gesicht Lenas in Erinnerung zu rufen.

Während sie auf die Gruppe schwarz gekleideter Menschen zuging, sah sie in Gedanken noch eine andere Gestalt.

Mollig. Nicht sehr groß. Und blond. Das Haar gefärbt.

Aber so sehr sie es auch versuchte und sich darauf konzentrierte, den Rahmen aus blondem Haar wollte kein Gesicht ausfüllen.

»Oval«, schoss es ihr durch den Kopf, und die dritte Seite ihres Reisepasses blitzte kurz in ihrem Gedächtnis auf.

»Besondere Kennzeichen: Keine.«

Ein kleiner Ministrant rannte um die Ecke und versuchte, ein Eichhörnchen zu erhaschen. Es hatte sich aber an der anderen Seite des Baumes festgekrallt, und der Knabe konnte es nicht sehen. Er blieb noch eine Weile gespannt vor dem Baum stehen und trollte sich schließlich wieder.

Dagmar war inzwischen bis auf wenige Schritte herangekommen, und die Aufmerksamkeit der Leute konzentrierte sich auf sie.

Sie versuchte, sie alle zu grüßen, indem sie eine Bewegung mit der Hand ausführte, musste aber feststellen, dass diese Geste nicht verstanden wurde.

Sie sagte: »Grüß euch...«

Sie nickten und nahmen sie in ihren Kreis auf.

Dagmar wollte eine Zigarette rauchen, ließ es aber sein und verschränkte die Arme, und die Handtasche baumelte vor ihrem Bauch herunter.

Der Zeremonienmeister ging gebeugt und zerknittert vorbei und vermied es, die Trauergäste anzusehen.

»Wie eine Maus«, dachte Dagmar. Dabei fiel ihr die kleine weiße Maus ein, die ihr Bruder einmal nach Hause gebracht hatte und über die ihre Mutter so entsetzt gewesen war. Und dass es schließlich die Mutter gewesen war, die das Tier, als es verendete, in eine Holzschatulle bettete und im Garten begrub.

Ihr Bruder hatte sehr geweint. Sie nicht, sie besaß zu dieser Zeit bereits einen Goldhamster.

Lena hatte zu Tieren keine besondere Beziehung gehabt.

Dagmar erinnerte sich noch an Lenas Bemerkung, als sie einmal ihren Kater Wenzel mitgebracht hatte: »Kannst ihn nicht draußen lassen, der zerkratzt mir den ganzen Teppich.«

Dann hatten sie Pizza gegessen.

Lena hatte eine Vorliebe für italienische Speisen. Und eigentlich für alles, was mit Italien zusammenhing.

Sie schwärmte auch andauernd von Venedig und von den Italienern im allgemeinen. Natürlich fuhr sie einen Fiat 128.

Dagmar wunderte sich, dass in dem Rahmen aus blondem Haar noch immer kein Gesicht erscheinen wollte.

Gedämpfte Stimmen umgaben ihre Gedanken.

»Heiß is’s...« sagte eine der Stimmen.

In der Tat fühlte Dagmar Feuchtigkeit in ihren Achselhöhlen.

Die Stimme gehörte einem schlanken, jungen Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug mit feinem Nadelstreif.

Sein Haar war nach hinten gebürstet und ringelte sich ölig über dem blütenweißen Hemdkragen im Nacken.

Ein kleines, schmales Bärtchen klebte wie gemalt auf seiner Oberlippe. Auf dem Zeigefinger der rechten Hand prunkte ein riesiger Siegelring mit einem quadratischen, schwarzen Stein.

Wenn der Mann die Arme hob, konnte man an seinen Manschetten große, goldene Manschettenknöpfe sehen.

Er hieß Peter Vachalovsky.

Die versammelten Trauergäste nannten ihn jedoch »Burli«.

Auch die alte Dame, die soeben aus einem Taxi stieg, nannte ihn so. Allerdings tat sie es stets mit einer gewissen Ironie.

Nein, eigentlich war es mehr eine Art von Geringschätzung, mit der sie ihm begegnete.

Das kam daher, dass sie Peter Vachalovsky im stillen immer mit ihrem verstorbenen Mann verglich, und da schnitt Burli denkbar schlecht ab. Die alte Dame hatte keine Ahnung davon, dass der junge Mann, der immer wieder davon gesprochen hatte, ihr Schwiegersohn werden zu wollen, nichts weiter war als ein schmieriger, kleiner Möchtegern-Ganove. Sie hielt ihn für einen Reisenden in Sachen Elektrogeräte, wie er ihr erzählt hatte.

Von ihrer Tochter wusste sie, dass sie in einem Nachtcafé als Serviererin gearbeitet hatte.

Niemand hatte ihr jemals diesbezüglich die Wahrheit gesagt. Eine solche Wahrheit wäre ein schwerer Schock für die alte Dame gewesen.

Sie war in einer Welt geboren, aufgewachsen und erzogen worden, in der das Prinzip »arm, aber sauber« ein heiliges Gebot bedeutete. Wer es brach, war unweigerlich »schmutzig«.

In ihrer Gegenwart hätte niemand gewagt, einen vulgären Witz zu erzählen oder Zigarettenasche auf den Teppich zu streuen.

Die Sauberkeit, die in der kleinen Welt der alten Dame herrschte, wurde von jedermann, der in diese Welt eintrat, stillschweigend akzeptiert, und niemand verlor darüber auch nur ein Wort, weil die alte Dame ein Musterbeispiel für eine Verhaltensnorm war, von der die meisten Menschen in diesem Land noch immer beeinflusst sind.

So war es auch zu verstehen, dass sie mit dem Umgang ihrer Tochter des öfteren nicht einverstanden war und heftige Kritik an dem einen oder anderen Besucher geübt hatte.

Selbstverständlich niemals in dessen Gegenwart.

Mutter und Tochter hatten sich von dem Zeitpunkt an, da der Vater nicht mehr sein Regiment ausübte, stillschweigend beobachtet und umkreist wie zwei Katzen, die einander noch nicht kennen. Beide ahnten, dass es eine immer höher werdende Mauer zwischen ihnen gab, an der sie selbst, ohne es zu wissen, am fleißigsten bauten. Es war natürlich nicht zuletzt ein Generationsproblem, aber das war es nicht allein.

Man konnte auch nicht sagen, dass die elterliche Umwelt mit ihren Vorurteilen und mitunter unnatürlichen Benimmgesetzen die größte Schuld an der Abkehr der Tochter von der Mutter gehabt hätte. Diese Faktoren bildeten lediglich den oberflächlichen Hintergrund für den ideologischen Exodus der Tochter, der einige Jahre nach Vaters Tod auch zum leiblichen Exodus geworden war.

An dem Lebenswandel der Tochter, der schließlich all die folgenschweren Ereignisse ausgelöst hatte, trug aber weder die alte Frau noch deren Weltanschauung irgendwelche Schuld.

Sie geleiteten die alte Dame soeben in das Innere des Gebäudes, wo vor einem schwarzen Samtvorhang, der die ganze hintere Wand von der Decke bis zum Fußboden und von der linken Seitenwand bis zur rechten Seitenwand bedeckte, in einer Glasvitrine der Sarg stand.

Ein nahezu unübersehbarer Haufen von Kränzen und Blumenbuketts umgab die Vitrine, und in kurzen Zeitabständen wurden immer neue »Letzte Grüße« hereingebracht. Der schwarz gekleidete Mann mit dem federgeschmückten Zweispitz auf dem Kopf hatte es längst aufgegeben, die Kränze in eine gewisse Ordnung zu bringen.

Unter dem Schleier der alten Dame konnte man, immer wenn einer der großen und sicher sündteuren Kränze niedergelegt wurde, ein krampfartiges Zucken der Gesichtsmuskeln beobachten.

Jemand hatte ihr ein Taschentuch mit schwarzem Rand in die Hand gedrückt, aber sie benutzte es nicht.

Irgend etwas hinderte sie daran, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie hatte inzwischen auf einem der bereitstehenden Stühle Platz genommen. Rechts neben dem Sarg.

Langsam begann sich der Raum mit Trauergästen zu füllen.

Auch Dagmar war eingetreten und hatte einen flüchtigen Blick auf den hellbraunen Eichensarg geworfen.

Sie vermied es, länger hinzusehen.

Der Gedanke, dass dort in der unpersönlichen, maßlos fremden Kiste ein Mensch, oder was von ihm übrig war, liegen sollte, war ihr einigermaßen unangenehm.

Der Raum strahlte eine pflichtgemäße Kühle aus, und Dagmar wunderte sich, dass sie dennoch schwitzte.

Ein Mann trat auf die alte Dame zu, streckte ihr die Hand hin und murmelte: »Beileid...«

Sie ergriff mechanisch die Hand, und es war ziemlich sicher, dass sie den Mann gar nicht kannte.

Er war groß und massig und wirkte so, als hatte er keinen Hals. Dagmar dachte, dass ihr dieses Detail zum ersten Mal an ihm auffiel. Der Mann hieß Franz und noch etwas, was aber keiner wusste, und besaß ein Kaffeehaus nahe dem Westbahnhof.

In gewissen Kreisen war er bekannt dafür, dass er oft Waren einkaufte, deren Besitzer gar nicht wussten, dass die Waren verkauft werden sollten. Die Polizei interessierte sich seit langem für ihn, konnte ihm aber niemals auch nur das Geringste nachweisen, was zu einer Art Hassliebe zwischen der Polizei und dem Herrn Franz geführt hatte. Er pflegte in seinem Lokal die »Herren vom Kommissariat« freundlich zu bewirten, rechnete jedoch peinlich genau mit ihnen ab und gab ihnen, wie gesagt, auch sonst niemals einen Anhaltspunkt.

Verschiedentlich wurde sogar geflüstert, er hätte im Kommissariat einen wohlmeinenden Gönner sitzen, was aber sicher nicht den Tatsachen...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7534-1181-7 / 3753411817
ISBN-13 978-3-7534-1181-1 / 9783753411811
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