Laudatio auf eine kaukasische Kuh (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-0410-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Laudatio auf eine kaukasische Kuh -  Angelika Jodl
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Olga hat es fast geschafft: Die Tochter georgischer Migranten wird Ärztin, mit Kollege Felix hat sie zudem den Mann fürs Leben gefunden. Glaubt sie zumindest, bis Lebenskünstler Jack in ihr Leben platzt. Jack findet alles an Olga toll, auch ihre Herkunft, die sie selbst am liebsten verschweigen würde. Als sie nach Georgien reist, folgt er ihr. Doch es braucht noch eine Kuh in Nöten, eine Hochzeitsfeier mit gezückten Pistolen und die Aufklärung alter Familienlügen, ehe Olga erkennt, wer der Richtige für sie ist.



Angelika Jodl unterrichtet Studierende aus aller Welt in Deutsch. Außerdem schreibt sie Geschichten, hält Vorträge zum deutschen Satzbau und sammelt Orchideen sowie die eine oder andere Fremdsprache. Ihr erster Roman, Die Grammatik der Rennpferde, begeisterte Leser:innen und Kritiker:innen gleichermaßen und wurde ein großer Erfolg. Angelika Jodl lebt mit Mann, Sohn und vielen Tieren in München.

Angelika Jodl unterrichtet Studierende aus aller Welt in Deutsch. Außerdem schreibt sie Geschichten, hält Vorträge zum deutschen Satzbau und sammelt Orchideen sowie die eine oder andere Fremdsprache. Ihr erster Roman, Die Grammatik der Rennpferde, begeisterte Leser:innen und Kritiker:innen gleichermaßen und wurde ein großer Erfolg. Angelika Jodl lebt mit Mann, Sohn und vielen Tieren in München.

1. LOB DER BESTÄNDIGKEIT


»FRAU DOKTOR, SIE heirate ich vom Fleck weg«, sagt der Patient am Fenster. Das blasse, mit spärlichen Barthärchen gesprenkelte Männergesicht nimmt einen hungrigen Ausdruck an. »Sie müssen bloß Ja sagen!«

Olga lächelt nachsichtig, als hätte sie ein überdrehtes Kind vor sich, setzt sich auf den Bettrand und streift die Gummihandschuhe über. Noch darf sie ohne begleitenden Arzt keine Untersuchungen durchführen oder Diagnosen stellen. Noch ist sie bei den morgendlichen Visiten die Letzte in der Reihe von Chef-, Ober- und Assistenzärzten, so etwas wie der Spatz am Ende einer Staffel großer, weißer Schreitvögel. Sie befindet sich im so genannten »Praktischen Jahr«, ein Jahr noch, ein letztes Staatsexamen, dann ist sie, was sie seit zwölf Jahren werden will: Ärztin.

Der Mann vor ihr stemmt sich erwartungsvoll aus den Kissen. »Oberkörper frei machen, Frau Doktor?«

Die Stationsschwester, die am Bett gegenüber Kissen aufschüttelt, erstarrt leicht in der Bewegung, dann klatscht sie noch einmal laut gegen das Polster. MeToo im Krankenhaus ist ein Thema, es soll Männer geben, die die Schwestern auf Station ohne Unterhose empfangen oder gar mit prächtig erhobenem – na ja, Olga mag das zweisilbige Wort nicht, das an diese Stelle passt, sie will es nicht mal denken – und dazu noch unverschämte Bemerkungen machen. Sofort eins auf die Pfote!, sagen die Schwestern. Und recht haben sie natürlich!

Andererseits muss man das mal objektiv betrachten: Da steht eine Frau, kerngesund und frei beweglich, der Mann dagegen liegt auf Höhe ihrer Hüften und ist dazu verdonnert, alles zu schlucken, was ein Arzt ihm verordnet. Da stellt sich bei Olga ein gewisses Mitleid ein, in dem Fall besonders, weil sie nach allem Gesehenen und Gehörten zu dem Schluss gekommen ist, dass es um diesen Patienten schlimmer steht, als die Stationsärzte (und er selbst) glauben.

»Erstens«, sagt Olga also stetig weiter lächelnd, »bin ich noch kein Doktor, und zweitens …«, bedeutsam wedelt sie mit dem Stauschlauch. Sie nimmt den Arm des Patienten, sprüht Desinfektionsmittel in die Armbeuge und beäugt die Vene, die sich blassblau und beweglich unter der trockenen Haut seiner Armbeuge zeigt, während sie die Schutzkappe von der Nadel zieht. »Das pikst jetzt leicht«, verkündet sie mit der lauten Fröhlichkeit, die Ärzte immer an den Tag legen, wenn Unangenehmes bevorsteht. Empathie – erst heute wieder gehört im Seminar der Ethikbeauftragten –, die wichtigste Grundlage für ein vertrauensvolles Verhältnis von Arzt und Patient! Entschlossen durchsticht sie die Haut und drückt die Nadelspitze im flachen Winkel noch einen Millimeter tiefer in die Vene. Sofort läuft Blut in den dünnen Schlauch, das Röhrchen füllt sich.

»Ehrlich, Frau Doktor«, sagt der Patient, »von Ihnen lasse ich mich überallhin piksen! Weil Sie die schönste, netteste, schärfste …« Ein Hustenanfall unterbricht ihn.

Olga hält seinen Arm fest und hofft, dass ihre Nadel durch die Erschütterung nicht weiteres Gewebe verletzt hat. Wer sie zum Zustand dieses Patienten befragen würde, bekäme als Antwort, dass er höchstwahrscheinlich an COPD leidet, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung; dass die Risiken von kardiovaskulären Erkrankungen bis zum Bronchialtumor reichen; dass er, vorausgesetzt, ihre Vermutung stimmt, Medikamente bräuchte, die die Bronchien erweitern, möglicherweise Cortison. Aber natürlich fragt keiner von den großen Vögeln einen Spatz, was im Normalfall ja auch ganz richtig ist.

Olga zieht das Röhrchen heraus und will gerade das nächste anstöpseln, als sie die heiße, schwitzige Hand spürt, die sich auf ihrem Knie niederlässt. Verschiedene Möglichkeiten: Ignorieren. Sofort eins auf die Pfote. Nur mit der Hand, oder sollte sich die Nadel zwischen den Fingern auch beteiligen? Eine halbe Sekunde braucht Olga. »Na, na, na, Herr Kiesler!«, sagt sie dann gelassen und schiebt mit Nachdruck die Männerhand beiseite, während sie gleichzeitig das neue Röhrchen festklemmt.

Mit ausdruckslosem Gesicht glotzt der Patient zur Zimmerdecke. Bitte sehr, denkt Olga zufrieden, während sie zur Tür schreitet, geht auch ohne Blutvergießen. Doch gerade als sie die Tür hinter sich schließen will, kehrt der Kampfgeist zurück in den Mann im Bett. »Nix für ungut, Frau Doktor«, kräht er, »Sie schauen mir bloß so aus, als ob Sie mal einen richtigen Kerl im Bett brauchen könnten!«

Hat sich gerade der klägliche Krankenhausduft nach Billigkaffee und Waschlotionen angereichert mit dem Geruch männlicher Sexualhormone? In Olgas Seele erheben sich ein paar zornig brummende Hummeln – sie kennt sie gut aus alten Tagen –, und eine Sekunde lang steht ihr die Vision vor Augen, wie sie dem Kerl mit einem Schrei doch noch die Nadel in den Oberschenkel rammt. Doch sie reißt sich zusammen, strafft ihre Schultern im richtigen Tonus und schafft es, die Tür in perfekter Neutralität zu schließen – weder eingeschüchtert lautlos noch mit empörtem Knall. Draußen lehnt sie sich gegen die Tür und atmet drei Mal durch.

Mit einem Wägelchen voll scheppernder Gläser und Röhrchen kommt eine Kollegin den Gang entlang, Lena Krebs, PJlerin wie sie selbst. »Olga? Ist was?«

»Nein, nein, alles gut.«

»Wirklich?«

»Es ist alles in Ordnung«, erklärt Olga stur. Neulich hat sie sich im Sozialraum mit der Kollegin auf ein Gespräch über ihre »Wurzeln« eingelassen und gleich darauf alles Gesagte bereut.

Auch Lena scheint sich daran zu erinnern. »Hör mal, wegen vorgestern. Das hat wirklich keiner anders als neutral gemeint. Außerdem sind von den Ärzten hier sowieso mindestens fünfzig Prozent keine Deutschen mehr.«

Die Erinnerung an den von allen als Missstand empfundenen hohen Ausländeranteil an der Klinik wirkt auf verschwommene Weise gleichzeitig aufmunternd und bedenkenträgerisch. Jetzt fehlt noch, dass sie mir zu meinem guten Deutsch gratuliert, denkt Olga, die auf dem Gymnasium Schulbeste beim bayerischen Vorlesewettbewerb war und sich selbst als so deutsch wie ein Bamberger Hörnchen definiert.

»Ich meine, ich sitze ja selbst im Glashaus mit meinen skandinavischen Roots. Doch, wirklich! Meine Oma spricht heute noch perfektes Dänisch. Ach, was solls, letztlich sind wir alle einfach Individuen, jeder für sich …« Es sind beinahe exakt die Worte, die die Ethikbeauftragte den beiden PJlerinnen heute Morgen mit auf den Weg gegeben hatte: dass in den Augen von Ärzteschaft und Pflegepersonal jeder Patient ein Individuum sei, ein einzigartiger, unverwechselbarer Mensch.

Am Ende des Gangs tauchen im abendlich ruhigen Kliniktrakt zwei Stationsärzte auf. In einem der beiden erkennt Olga einen Hoffnungsträger – bei der Frühbesprechung hat er ihr in Aussicht gestellt, sie morgen zu einer Untersuchung am Kernspintomografen mitzunehmen. Nicht dass der Mann es vergisst.

»Entschuldige bitte«, sagt sie zu Lena, nicht unfroh über die Unterbrechung, »aber ich müsste kurz …« Sie fliegt fast den Gang hinunter. »Herr Dr. Steinmetz!«

Die beiden Ärzte sind vor einer Tür stehen geblieben. Der Angesprochene wendet den Kopf: »Ja?«

»Der Termin morgen früh. Die Untersuchung …«

»Ah ja, Frau … äh … Ev… Evge…«, er runzelt die Stirn, versucht, den Namen auf dem Schildchen an ihrem Kittel zu erfassen. »Diese Kniesache, oder?«

»Genau. Am Kernspin.«

»Stimmt, jetzt fällts mir ein! Das – ähm – hab ich grad vorhin schon erledigt. Tut mir leid, stressiger Tag heute.« Ist ihm ihre Enttäuschung bewusst? Die Hand bereits auf der Türklinke, fügt er hinzu: »Sprechen Sie mich ruhig noch mal an, wir finden bestimmt demnächst was für Sie.« Er wendet sich wieder dem Kollegen zu, und Olga hört: »PJlerin schon wieder. Und dann die Namen immer! Neulich kommt doch da einer aus der Mongolei daher, Dschalalaba-Irgendwas, also den hab ich ja gleich umgetauft in Dschingis Khan!« Der Mensch, das unverwechselbare Individuum.

Vollkommen überrascht hat Olga die Gedankenlosigkeit des Stationsarztes nicht, ihre Vorgänger im Praktischen Jahr haben sie gewarnt: Spärlich seien die Kollegen, die ihre Arbeit mit einem wissbegierigen PJler belasten wollten, gering der Eifer, den medizinischen Nachwuchs bei der Ausbildung zu begleiten. Allen geht das so, dass sie sich zu Beginn ihres Praktischen Jahres darauf freuen, endlich in der Praxis zu lernen, wovon sie bisher nur theoretische Kenntnisse hatten: Herztöne unterscheiden, Rückenmarkspunktion, Lunge perkutieren. Was man dann tatsächlich und ausschließlich macht, ist Blut abnehmen. Seit zehn Wochen nimmt Olga täglich einer unendlich scheinenden Anzahl von Patienten Blut ab, ein weiß gewandeter, beruhigend intensiv desinfizierter Vampir.

Aber jammern hilft ja nichts. Es gibt solche Dinge, da nützt kein Klagen, die müssen einfach sein. Freudlose Zeiten an einem Gymnasium etwa, wo man sich durchschuftet bis zur erwartbar glanzvollen Abiturnote. Es gibt Dinge, die muss man aushalten. Die beiden endlosen Jahre im Vorklinikum. Die vielen Stunden in eiskalten, riesigen Sälen, wo man an den schamhaft »Körperspender« genannten Leichen das Präparieren lernte: Haut öffnen, Muskeln freilegen, das gelbe Fettgewebe verwerfen (später würde es mit dem Rest des Spenders zusammen in einen Sarg gebettet und nach einer kleinen Feier in der Campuskapelle bestattet werden), all die Zeit umgeben vom fürchterlichen Gestank des Formaldehyds, in dem gelblich die »Körperspender«...

Erscheint lt. Verlag 30.4.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Aberglaube • Arzt • Chaos • Culture Clash • Deutschland • Die Grammatik der Rennpferde • Familie • Georgien • Hochzeit • Humor • Integration • Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch • Liebe • Migranten • My big fat greek wedding • Religion • Sonstige Belletristik • Tiflis • Toni Erdmann • Wladimir Kaminer
ISBN-10 3-7517-0410-8 / 3751704108
ISBN-13 978-3-7517-0410-6 / 9783751704106
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