Gewissheiten (eBook)

(Autor)

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2021
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27182-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gewissheiten - Maria Tumarkin
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Maria Tumarkin schreibt »berauschende, wunderschöne Essays, über Traumata, die Kontinuität der Vergangenheit und die Unzulänglichkeit von Sprache.« (The New Yorker)
Neun Jahre ist Maria Tumarkin unterwegs, als Kulturkritikerin und Historikerin, vor allem als begnadete Zuhörerin. Sie spricht mit Familien, die mit den Folgen des Suizids ihrer Kinder leben müssen, mit einer Anwältin, die das Erbe kolonialer Macht im Justizsystem bekämpft, mit einer Großmutter, die gezwungen war, ihren Enkel zu entführen. Maria Tumarkin schreibt über das Jetzt und das Damals, darüber, wie unsere Vergangenheit, die eigene und die der Gesellschaft, unsere Gegenwart formt. Einfühlsam, furchtlos und mit überraschender Leichtigkeit führt sie uns an die dunkelsten Orte der Geschichte: in schwarz verhängte Klassenzimmer, Gefängnisse und Flüchtlingslager, mitten in uns selbst hinein.

Maria Tumarkin, geboren in der Ukraine, lebt als Schriftstellerin und Kulturhistorikerin in Melbourne, Australien. Sie schrieb bisher vier Bücher. Für Gewissheiten, ihren jüngsten Essay-Band, erhielt sie den 2018 Melbourne Prize for Literature's Best Writing Award und den hochdotierten 2020 Windham Campbell Prize.

Fünf Jahre lang schrieb Frances nur über ihre Schwester. Sie hatte mal ein Talent für trockenen Humor gehabt. Was war daraus geworden, und aus ihrem Sarkasmus? Sie war siebzehn gewesen, Katie sechzehn. Früher hatte ihre Mutter die beiden immer im Partnerlook angezogen, meistens in Jeanskleidern. Man hatte sie oft für Zwillinge gehalten.

In der zwölften Klasse schrieb Frances in einem Englischaufsatz

als ich an jenem Morgen ihr Zimmer betrat, spürte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Ihre Haltung wirkte unbeholfen, als würde sie der Schwerkraft trotzen.

Ein Jahr später an der Uni

kniend und vornübergebeugt, unfassbar reglos. Ich dachte, sie wäre in dieser schiefen Haltung eingeschlafen …

Mitten in einer Semesterabschlussarbeit im darauffolgenden Jahr

das Haar fiel ihr ins Gesicht und verbarg die Wahrheit. Überall auf ihrer Haut zeichneten sich blaue Adern ab, als würden sie ihren jungen Körper umklammern.

Nach fünf Jahren veränderte sich etwas. Die Fragen — Warum hat sie gerade mich angerufen und gebeten, sie zu wecken? Warum hätte sie sich wünschen sollen, dass ausgerechnet ich sie finde?, und die große Frage: War es Absicht? — brannten ihr nicht mehr auf der Zunge. Sie verwandelten sich für Frances allmählich in Aussagen.

SIE WOLLTE VON MIR GEFUNDEN WERDEN

ES WAR ABSICHT

Nach weiteren fünf Jahren hat Frances nicht mehr so oft das Bedürfnis, darüber zu sprechen, nur manchmal, mit manchen Menschen. Sie weiß, um welche Filme sie besser einen Bogen macht, und mit ihren Schwestern muss sie das Thema nicht mehr durchkauen. Hatte sich ihr Vater vielleicht ein Gespräch mit der ganzen Familie gewünscht, als er am zehnten Todestag »Auf Katie« sagte und alle das Glas hoben? Möglich. Sie wird ihn fragen.

Ich lerne Frances kennen, als die Veränderung gerade beginnt. Katies Tod drückt ihr nicht mehr ständig auf die Brust, rammt ihr nicht mehr das Knie in die Rippen und erschwert ihr jeden Atemzug. Ich war so verloren, als wir uns kennengelernt haben, erzählt sie mir später, so verwirrt und jung, vollkommen auf Katie fixiert.

Wir treffen uns, und ich frage Frances nach den Aufläufen. Jeder kennt diese Sache mit den Aufläufen. Jemand stirbt, und die Menschen, Nahestehende und praktisch Fremde, strömen scharenweise zum Haus des Verstorbenen und überreichen irgendeinen Auflauf. Manchmal gibt es sogar eine Liste, wer wann vorbeikommt. Dass die Aufläufe auf einmal auftauchen und ein paar Wochen später ebenso plötzlich wieder verschwinden, erinnert gewissermaßen an Vogelschwärme, die herabstoßen und wieder abheben. Wusch. In diesen Wochen und manchmal, wenn auch selten, Monaten ist die Familie oder wer auch immer sich in dem Haus befindet, lebendig begraben unter dieser geballten, pochenden und verzweifelten Aufmerksamkeit. Dann plötzlich nichts mehr. Schwer zu sagen, was schlimmer ist. Den Menschen, mit denen ich mich vor Frances unterhalten habe und die selbst einmal Aufläufe bekamen, ist die Nach-Auflauf-Zeit anscheinend lieber. In einer Straßenbahn auf der Elizabeth Street sprechen wir über die Wochen nach Katies Tod.

— Welche Phase? (Sie hat mich nicht verstanden; ich habe einen Akzent, und in der Straßenbahn ist es laut.)

— Die Auflaufphase.

— Ach, die war super. Hätte von mir aus noch viel länger andauern können. Die Auflaufphase wäre mir auch jetzt ganz recht.

All diese Menschen im Haus und kein Platz für noch mehr Blumen, das kam Frances vor wie das Gegenteil von brennender Einsamkeit. »Und dann«, sagt sie, »sind die Blumen verwelkt. Und die Leute gegangen. Und es blieb nichts, um die Leere zu füllen.«

Aus Frances’ Aufsatz in der zwölften Klasse, den sie zwanzig Tage nach Katies Suizid abgegeben hat

Den Geschmack ihres Mundes werde ich nie vergessen. Noch immer schmecke ich ihren letzten Atemzug.

Die Schule war klein, rund fünfhundertfünfzig Mädchen von der Vorschule bis zur zwölften Klasse. Einundzwanzig Jahre lang war Ann dort Lehrerin. Sie unterrichtete alle vier Schwestern. (Früher waren es vier Schwestern. »Drei sind normal, vier sind was Besonderes«, sagt Frances.) Während unseres zweistündigen Gesprächs sieht man Ann — gelassen, Lehrerin mit Leib und Seele, robust, Mutter soundso vieler Söhne und mittlerweile im Ruhestand — nur einmal die Bestürzung deutlich an. Warum kann sie die Tränen nicht zurückhalten, als wir auf die Aufsätze aus jenem Jahr zu sprechen kommen? Auf Frances’ Text und die Arbeiten zweier Mitschülerinnen, von denen eine in einer psychiatrischen Klinik lebt. »Wahrscheinlich, weil sie mich an ihrer Wahrheit teilhaben ließen. Ihren Eltern erzählen sie so etwas nicht. Oder ihren Freunden und Therapeuten. Solche Sachen machen sie mit sich selbst aus.«

Wenn man aus der osteuropäischen Fremde in diese Welt kommt (wobei es letztendlich kaum eine Rolle spielt, welche Fremde die Fremde ist), hat man nicht oft den Eindruck, als würden Worte in dieser australischen Welt viel Kraft besitzen. Das ist auch nicht weiter schlimm. Wir haben unseren Frieden damit gemacht, es fast schon dankbar akzeptiert, weil wir die (uns) wohlbekannte Alternative — eine Welt, in der Dichter und ihre Familien wegen zu bedeutender Worte verfolgt und getötet wurden — als wesentlich größeres Übel empfinden. Aber vielleicht hatte ich ein falsches Bild von dieser neuen Welt. Vielleicht habe ich an der falschen Stelle gesucht, nicht an Mädchen und Jungen gedacht, die über ihr Innerstes schreiben, über Dinge, denen Sprache ihrem Empfinden nach nicht gerecht wird, die ihr Herz in Schulaufsätzen ausschütten, aber alles unter Bergen der üblichen, hingeschmierten Belanglosigkeiten vergraben; ein Austausch vorbei am altbewährten Schulgrundsatz »Wörter gegen Noten«, denn was hier unerlaubterweise und im Verborgenen ausgetauscht wird, sind Geheimnisse, vertrauliche Nachrichten, Fragen und seelischer Schmerz. Und die Lehrkräfte, die die Worte ihrer Schülerinnen und Schüler mit sich herumtragen — auch an sie habe ich nicht gedacht. Und keiner weiß etwas davon. Natürlich nicht. »Den Elftklässlern raten wir: Wenn du eine wirklich besondere Geschichte zu erzählen hast, heb sie dir bis zur zwölften Klasse auf«, erzählt mir Ann. »Wenn du dann darüber schreibst, kommt die Botschaft an. Und daran halten sich tatsächlich die meisten.«

Ann ist klein, darum hat sie sich während ihrer Zeit an einer Jungenschule angewöhnt, leuchtende Farben zu tragen. (»Sonst sehen die dich nicht. Die rempeln dich einfach um.«) Sie hat sich angewöhnt, nicht im Sitzen zu unterrichten. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass man manchen Schülern die Handynummer geben will, ganz egal, was die Schulregeln besagen, und dass man ihnen vertrauen muss, auch wenn man das manchmal bereut, und — jetzt kommt das Knifflige/Offensichtliche — dass man vor den Schülern keine Angst haben darf.

Außer an Englisch bei Ann erinnert sich Frances an kein einziges Fach ihres Abschlussjahrs.

Damals nahmen sie Look Both Ways durch, einen Film darüber, dass das Leben aus zufälligen Begegnungen mit Tod und Trauer besteht, unter der Regie der (damals noch nicht) verstorbenen Sarah Watt, mit ihrem Mann William McInnes in der Hauptrolle. Jemand an der Schule kannte McInnes, und so wurde er eingeladen, mit den Zwölftklässlerinnen zu sprechen. Dann starb Katie, und es war zu spät, den Lehrplan zu ändern. Im folgenden Jahr, als Katies Klasse in die zwölfte Jahrgangsstufe kam, ließen sie von Look Both Ways gleich die Finger. Nach Katies Tod verstummte Frances’ Klasse, niemand sprach über den Film. Das restliche Jahr über war Ann für das Reden zuständig. Sie sagte Frances, sie könne, wenn nötig, den Unterricht jederzeit verlassen: Steh auf, geh raus, aber bleib auf dem Schulgelände. Doch Frances ging nie. Sie saß einfach da, vor Ann, mit tränennassem Gesicht. Regungslos. Ann reichte ihr Taschentücher und unterrichtete weiter.

Monique, Lehrerin in einer anderen Schule in Melbourne, verlor einen Elftklässler, den sie seit der siebten Klasse unterrichtet hatte. Frances und Monique kennen sich nicht. Ann kennt Monique nicht. Es war nicht Monique, die Bryns Leiche fand. Ein anderer Lehrer rief sie an und informierte sie. Als derselbe Lehrer sechs Jahre später zum ersten Mal wieder bei ihr anrief, weil er nach der Telefonnummer von jemandem fragen wollte, schlug Monique sofort das Herz bis zum Hals. Als stürzte die Erinnerung auf sie ein, so hatte sich das angefühlt. Folgendes erzählt mir Monique über Bryn: Er war Schulsprecher in der Grundschule, »eine ziemlich starke Persönlichkeit«, Einzelkind und einziger...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2021
Übersetzer Claudia Voit
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Alexijewitsch • Armut • Australien • Bunker • Empathie • Enkelkinder • Essay • Familie • Freundschaft • Garner • Geschichte • Geschwister • Großeltern • Helen • Hilfe • Holocaust • Interview • jamison • Justiz • Krieg • leslie • Maggie • Melbourne • Migration • Nelson • #ohnefolie • ohnefolie • Soziale • Staatsgewalt • Suizid • Swetlana • Trauerverarbeitung • Trauma • Ukraine • Ungerechtigkeit • Vergangenheit • Verlust • Zeit • Zusammenhalt
ISBN-10 3-446-27182-1 / 3446271821
ISBN-13 978-3-446-27182-1 / 9783446271821
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