Anne auf Green Gables -  Lucy Maud Montgomery

Anne auf Green Gables (eBook)

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2021 | 1. Auflage
400 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-182-1 (ISBN)
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Sie ist quirlig, hat eine blühende Fantasie, hasst ihre roten Haare und findet für alles die richtigen Worte. Mit über 50 Millionen weltweit verkauften Exemplaren ist Anne auf Green Gables einer der größten Erfolge der kanadischen Literatur. Seit über 100 Jahren inspiriert das Mädchen, das sich selbst mit einem E am Ende schreibt, weil es 'so viel schöner aussieht', nicht nur Astrid Lindgren, sondern auch Millionen von Kindern auf der ganzen Welt. Jetzt erscheint der beliebte Klassiker in moderner Ausstattung und neu und ungekürzt übersetzt.

Lucy Maud Montgomery wurde am 30. November 1874 in Clifton geboren. Schon zu Lebzeiten war sie eine gefeierte Schriftstellerin und Dichterin. 1908 erschien der erste Band ihrer Anne auf Green Gables-Reihe, der sofort ein Bestseller wurde.

Lucy Maud Montgomery wurde am 30. November 1874 in Clifton geboren. Schon zu Lebzeiten war sie eine gefeierte Schriftstellerin und Dichterin. 1908 erschien der erste Band ihrer Anne auf Green Gables-Reihe, der sofort ein Bestseller wurde.

EINS Mrs. Rachel Lynde erlebt eine Überraschung


Mrs. Rachel Lynde lebte genau dort, wo die von Erlen und orange blühendem Springkraut gesäumte Hauptstraße von Avonlea durch eine kleine Senke führte. Der Bach, der diese Senke durchfloss, entsprang tief in den Wäldern der alten Cuthbert Farm, und es hieß, dass er in seinem Unterlauf wild und gewunden dahinströme, voller geheimnisvoller Tümpel und Wasserfälle. Aber hier, in Lynde’s Hollow, war er bereits ein braves kleines Rinnsal, denn an Mrs. Rachel Lyndes Haustür konnte nicht einmal ein Bach vorbeifließen, ohne auf Sitte und Anstand zu achten. Wahrscheinlich wusste er, dass Mrs. Lynde an ihrem Platz am Fenster alles im Auge behielt, was draußen vorbeikam – angefangen bei Bächen und Kindern –, und dass sie, wenn ihr irgendetwas merkwürdig oder ungewöhnlich vorkam, keine Ruhe geben würde, bis sie über das Wieso und Weshalb genau Bescheid wusste.

Es gab viele Menschen in und um Avonlea herum, die sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischten, indem sie ihre eigenen vernachlässigten. Aber Mrs. Rachel Lynde gehörte zu jenen tüchtigen Geschöpfen, die in der Lage sind, sich sowohl um ihre eigenen als auch um die Angelegenheiten anderer Leute zu kümmern. Sie war eine fleißige Hausfrau, der alles leicht von der Hand ging, sie leitete den Handarbeitskreis, half in der Sonntagsschule aus und war die wichtigste Stütze der Kirchengemeinde und des örtlichen Hilfsvereins der christlichen Auslandsmission. Trotzdem fand Mrs. Lynde noch genügend Zeit, um stundenlang an ihrem Küchenfenster zu sitzen und feine Baumwolldecken zu stricken (von denen sie bereits sechzehn Stück fertiggestellt hatte, wie die anderen Hausfrauen von Avonlea einander ehrfürchtig zuraunten). Dabei ließ sie die Hauptstraße nicht aus den Augen, die sich hinter der Senke den steilen Hügel hinaufwand. Da Avonlea auf einer kleinen spitzen Landzunge lag, die in den Sankt-Lorenz-Strom hinausragte, musste jeder, der in den Ort hinein- oder aus ihm herauswollte, diese Straße nehmen und sich dem scharfen Blick von Mrs. Lynde aussetzen.

Dort saß sie auch an einem Nachmittag Anfang Juni. Die Sonne schien hell und warm durchs Fenster, der Obstgarten unterhalb ihres Hauses leuchtete wie ein rosa-weißer Brautstrauß, und ein Heer von Bienen schwirrte summend über der Blütenpracht. Thomas Lynde – ein sanftmütiger kleiner Herr, der in Avonlea nie anders als »Rachel Lyndes Mann« genannt wurde – säte auf dem Hügelacker hinter der Scheune gerade seine Herbstrüben, und eigentlich hätte Matthew Cuthbert auf seinem großen Feld am Bach, drüben auf Green Gables, genau das Gleiche tun müssen. Mrs. Lynde wusste das, weil sie ihn am Vorabend in William Blairs Laden in Carmody zu Peter Morrison hatte sagen hören, dass er am Nachmittag Rüben säen wollte. Peter hatte ihn natürlich danach gefragt, denn Matthew Cuthbert hatte noch nie im Leben irgendetwas aus freien Stücken erzählt.

Nichtsdestotrotz fuhr Matthew Cuthbert nun am helllichten Nachmittag, um halb vier an einem Werktag, seelenruhig durch die Senke und den Hügel hinauf. Mehr noch: Er trug zudem ein weißes Hemd und seinen Sonntagsanzug, was klar bewies, dass er Avonlea verlassen wollte. Außerdem hatte er die Fuchsstute eingespannt und demnach einen weiten Weg vor sich. Aber wohin wollte Matthew Cuthbert, und was hatte er dort vor?

Bei jedem anderen Mann in Avonlea hätte Mrs. Lynde eins und eins zusammengezählt und vermutlich eine ziemlich gute Antwort auf beide Fragen gefunden. Aber Matthew verließ seinen Hof so selten, dass nur etwas sehr Dringendes und Ungewöhnliches dahinterstecken konnte. Er war der schüchternste Mensch der Welt und hasste es, Fremden zu begegnen oder sich irgendwohin begeben zu müssen, wo er womöglich den Mund aufmachen musste. Dass Matthew im weißen Hemd mit seinem Einspänner davonfuhr, kam nicht oft vor. Mrs. Lynde konnte grübeln, so viel sie wollte, ihr fiel einfach keine gescheite Erklärung ein, und das verleidete ihr die schöne Nachmittagsbeschäftigung.

»Ich gehe nach dem Tee einfach nach Green Gables hinüber und lasse mir von Marilla erzählen, wohin und warum er fortgefahren ist«, beschloss die gute Frau schließlich. »Normalerweise fährt er um diese Jahreszeit nicht in die Stadt, und Besuche macht er sowieso nie. Wenn ihm die Rübensamen ausgegangen wären und er Nachschub besorgen müsste, hätte er sich nicht so fein gemacht und die Kutsche genommen, und für einen Arztbesuch hatte er es nicht eilig genug. Trotzdem muss seit gestern Abend etwas passiert sein. Ich kann es mir einfach nicht erklären und finde keine Ruhe, bis ich weiß, was Matthew Cuthbert heute aus Avonlea fortgetrieben hat.«

Also machte sich Mrs. Lynde nach dem Tee auf den Weg. Sie hatte es nicht weit, denn das große, verwinkelte Haus der Cuthberts mit seinen weitläufigen Obstgärten drum herum lag keine Viertelmeile von Lynde’s Hollow entfernt. Allerdings zog sich der Fahrweg und ließ die Strecke um einiges länger wirken. Matthew Cuthberts Vater, der ebenso schüchtern und still gewesen war wie sein Sohn, hatte sich beim Bau seines Hauses so weit wie möglich von seinen Mitmenschen zurückgezogen, ohne ganz in die Wälder zu flüchten. Green Gables wurde am äußersten Rand des Landes errichtet, das er urbar gemacht hatte, und dort stand es noch und war von der Hauptstraße aus, an der sich die übrigen Häuser von Avonlea so gesellig nebeneinander aufreihten, fast nicht zu sehen. Mrs. Lynde mochte das Leben an einem derart entlegenen Ort kaum als Leben bezeichnen.

»Sie haben es dort recht einsam«, sagte sie sich, als sie den zerfurchten und von wilden Rosen gesäumten Grasweg entlangging. »Kein Wunder, dass Matthew und Marilla ein bisschen wunderlich sind, mit nichts als Bäumen zur Gesellschaft hier draußen. Bäume gibt es allerdings genug. Ich persönlich habe lieber Menschen um mich. Zufrieden wirken die beiden ja, aber wahrscheinlich sind sie’s nicht anders gewohnt. Wie heißt es so schön? Man kann sich an alles gewöhnen, sogar ans Sterben.«

Mit diesen Worten verließ Mrs. Lynde den Fahrweg und betrat das Farmgelände von Green Gables. Es war sehr grün und in makellosem Zustand, mit majestätischen Weiden auf der einen Seite und schmucken Pappeln auf der anderen. Jeder Stock und jeder Stein lagen am richtigen Platz, denn wenn es nicht so gewesen wäre, hätte Mrs. Lynde es sicher sofort bemerkt. Insgeheim war sie sicher, dass Marilla Cuthbert ihren Hof ebenso häufig fegte wie ihr Haus. Man hätte dort buchstäblich vom Boden essen können.

Mrs. Lynde betrat das Haus durch die Milchkammer, klopfte beherzt an die Küchentür und trat auf Marillas Aufforderung hin ein. Die Küche von Green Gables war ein freundlicher Raum – besser gesagt, er wäre es gewesen, wenn er nicht so schrecklich sauber ausgesehen und dadurch eher an eine ungenutzte gute Stube erinnert hätte. Die beiden Fenster schauten nach Osten und Westen, wobei letzteres den Hof überblickte und nun von der warmen Junisonne durchströmt wurde. Das Ostfenster hingegen, durch das man die weiß blühenden Kirschbäume im Obstgarten zur Linken sah und die schlanken, wippenden Birken unten in der Senke am Bach, war von wildem Wein überwuchert. Hier saß Marilla Cuthbert, wenn sie sich überhaupt einmal hinsetzte, denn sie hegte ein gewisses Misstrauen gegen Sonnenschein, der ihr für diese ernste Welt zu beschwingt und unbekümmert erschien. Hier saß sie auch jetzt und strickte. Der Esstisch hinter ihr war bereits für das Abendbrot gedeckt.

Mrs. Lynde hatte die Tür noch nicht richtig geschlossen, als sie auch schon alles erfasste, was auf dem Tisch stand: Marilla hatte drei Teller hingestellt; also ging sie davon aus, dass Matthew jemanden zum Abendessen mitbrachte. Allerdings hatte sie das Alltagsgeschirr genommen, nur ein Glas Apfelkompott und auch nur einen kleinen Kuchen aufgetischt; der erwartete Gast konnte also niemand Besonderes sein. Aber warum dann Matthews weißes Hemd und die Fuchsstute? Mrs. Lynde wurde ganz schwindelig von diesen ungewohnten Geheimnissen im ruhigen und gänzlich ungeheimnisvollen Green Gables.

»Guten Abend, Rachel«, sagte Marilla heiter. »Das ist ein wirklich schöner Abend, nicht wahr? Willst du dich nicht setzen? Wie geht es deiner Familie?«

Obwohl oder gerade weil sie so verschieden waren, bestand zwischen Marilla Cuthbert und Mrs. Lynde seit jeher etwas, das man, in Ermangelung eines anderen Wortes, Freundschaft nennen könnte.

Marilla war eine hochgewachsene, dünne Frau ohne Rundungen oder Kurven. Ihr dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen und stets zu einem kleinen Knoten gebunden, den sie mit zwei spitzen Haarnadeln am Hinterkopf befestigte. Sie sah aus wie eine Frau mit begrenzter Welterfahrung und strengen Grundsätzen, was auch beides zutraf, doch um ihren Mund gab es einen Zug, der, wenn er sich auch nur ein klein wenig hätte entfalten dürfen, einen gewissen Sinn für Humor erahnen ließ.

»Uns geht es gut«, erwiderte Mrs. Lynde. »Nur hatte ich Angst, dass bei euch etwas nicht stimmt, als ich Matthew heute vorbeifahren sah. Ich dachte schon, er holt den Doktor.«

Marillas Lippen zuckten wissend. Sie hatte mit Mrs. Lyndes Kommen gerechnet, denn ihr war klar gewesen, dass der Anblick des so unerwartet davonfahrenden Matthew ihre Nachbarin neugierig machen würde.

»O nein, mir geht es gut, obwohl ich gestern schlimme Kopfschmerzen hatte«, sagte sie. »Matthew ist nach Bright River gefahren. Wir nehmen einen kleinen Waisenjungen aus Nova Scotia auf. Er kommt mit dem Nachmittagszug an.«

Hätte Marilla behauptet, Matthew wäre nach Bright River gefahren, um ein australisches Känguru abzuholen, hätte Mrs. Lynde nicht erstaunter sein können....

Erscheint lt. Verlag 17.11.2021
Übersetzer Bettina Münch
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Abenteuer • Anne Shirley • Anne with an E • Astrid Lindgren • Farm • Kanada • Klassiker • rote haare • Starke Mädchen • Waisenkind
ISBN-10 3-03792-182-X / 303792182X
ISBN-13 978-3-03792-182-1 / 9783037921821
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