Die Toten vom Gare d'Austerlitz (eBook)

Kriminalroman | Paris, von den Nazis besetzt: Doch Inspecteur Giral hat einen Mord aufzuklären

Thomas Wörtche (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
473 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76819-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Toten vom Gare d'Austerlitz -  Chris Lloyd
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Freitag, 14. Juni 1940: An dem Tag, als die Nazis in Paris einmarschieren, werden an der Gare d'Austerlitz vier Polen ermordet aufgefunden, und ein weiterer begeht kurz darauf Selbstmord. Inspecteur Éduard Giral beginnt gegen alle Widerstände zu recherchieren. Sehr bald mischen sich in seine Ermittlungen Wehrmacht, Gestapo und Geheime Feldpolizei ein, während im Hintergrund der enigmatische, skrupellose Major Hochstetter von der Abwehr die Strippen zieht und ihm mal als Gegenspieler, mal als Verbündeter begegnet.

Als unvermittelt Girals verlorener Sohn Jean-Luc auftaucht, der seinen Vater für einen Opportunisten und Feigling hält, muss er multivektorales Überlebensschach spielen, mal mit der einen, mal mit der anderen der beteiligten Gruppen (schein)paktieren, um seinen Sohn irgendwie aus der Schusslinie zu schaffen und letztendlich seinen Job als Polizist zu machen und die Morde aufzuklären.



Chris Lloyd studierte Spanisch und Französisch, lebte über 20 Jahre in Katalonien, später in Grenoble, im Baskenland und in Madrid, wo er Englisch unterrichtete und für einen Schulbuchverlag sowie als Reiseschriftsteller arbeitete. Heute lebt er als Übersetzer und Schriftsteller in Südwales.

1


Zweierlei geschah am 14. Juni 1940.

Vier Unbekannte starben in einem Bahndepot, ein fünfter Mann sprang vom Balkon.

Es geschah noch mehr am 14. Juni 1940.

Die Soldaten der Panzerjäger-Abteilung 187 wollten beim Einmarsch in Paris möglichst gut aussehen, also wuschen sie sich im trüben Wasser des Ourcq-Kanals, sechs Kilometer vor der Stadt. Beim Wettlauf um die besten Quartiere bezog Generalmajor Bogislav von Studnitz das Hôtel de Crillon, und deutsche Offiziere legten ihre verstaubten Uniformen auf die edelste Bettwäsche der Stadt. Und in der Sommersonne tröteten endlose Wehrmachtskapellen die menschenleeren Champs-Élysées entlang, bis schließlich ein riesiges Hakenkreuz über dem Grabmal des unbekannten Soldaten entrollt wurde – für den Fall, dass in Paris noch immer irgendwem nicht klar sein sollte, dass wir verloren hatten.

In meiner Welt aber starben vier Unbekannte in einem Bahndepot, und ein fünfter Mann sprang vom Balkon.

»So ein verdammter Gestank«, fluchte Auban.

»Respekt vor den Toten, wenn ich bitten darf«, sagte ich zu ihm. Ermittler Auban, ein Rabauke vom rechten Rand, der sich durch die dreißiger Jahre geschlagen hatte, war ein harter, muskulöser Bursche. Um das zu betonen, trug er sogar in der zunehmenden Hitze eines Sommervormittags eine schwere Lederjacke und ein weißes Hemd, so eng geschnitten, dass es die Brust betonte. Er funkelte mich an und wandte sich ab.

»Hier entlang, Inspektor Giral«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen; Angst überwog unübersehbar seine sonst so anmaßende Frechheit. Ein kurzer Blick nach rechts und links verriet mir, warum.

Längs der Gleise standen reihenweise deutsche Soldaten – ein Spalier anonymer Gestalten, die reglos zugesehen hatten, wie ich über die rußverschmierten Schwellen des Depots zu Auban ging. Die Männer rechts verdeckten zum Teil die tiefstehende Sonne; ihre langen Schatten fielen auf das Öl und den Dreck des Depots, und sie musterten uns genau. Links dagegen starrten harte junge Gesichter teilnahmslos. Aus kaum fünfzig Metern Entfernung fixierte mich ein Offizier mit ausdrucksloser Miene. Das waren die ersten Deutschen, die ich an diesem Tag sah, sie gehörten zur Vorhut, die in die Stadt einmarschiert war. Sie beobachteten uns stumm, ihre Maschinenpistolen wiesen zu Boden, das Feldgrau ihrer Uniformen sog die dunklen Wolken vom Himmel.

»Sind die schon die ganze Zeit hier?«, fragte ich Auban. Er nickte.

Wir stießen zu sechs Schutzpolizisten, die neben drei Güterwagen auf uns warteten. Das sonst so betriebsame Depot südlich des Gare d'Austerlitz war ungewöhnlich still. Keine Zugbewegungen. Wir bahnten uns entlang der Gleise einen Weg durch den Müll. In den Straßen ringsum und überall in der Stadt war er wochenlang nicht abgefahren worden, während die Deutschen auf Paris vorgerückt und Abfälle die geringste Sorge gewesen waren.

Auban hatte Recht: Es stank. In der Luft lag der Geruch von Tod und Verwesung. Ob er vom Tatort kam, der auf mich wartete, oder von der Stadt, konnte ich nicht entscheiden. Unter dem wachsamen Blick der deutschen Soldaten passierten wir im Durcheinander der Gleise einen toten Hund; die geschwollene Zunge hing ihm aus dem Maul, seine Augen waren panisch geweitet. Fliegen schwirrten auf und setzten sich wieder auf das verwesende Fleisch. Ich zögerte kurz. Da war noch ein Geruch, schwach, aber beißend – wie bittere Ananas in schwarzem Pfeffer. Nur dass er etwas anders war als damals. Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden.

Ein Polizeisergeant eilte am Gleis entlang auf uns zu. Mir stockte der Atem, und fast wäre ich getaumelt, was Auban indes, wie ein Seitenblick zeigte, nicht bemerkt hatte. Nur mühsam konnte ich angesichts des heranhetzenden Mannes meine Panik unterdrücken. Eine schwere Gasmaske verunstaltete sein Gesicht, und der Geruch, der am Rand meines Sensoriums gelauert hatte, flutete endlich mein Gedächtnis.

Mit dumpfer Stimme hielt der Sergeant uns Gasmasken hin. »Die müssen Sie aufsetzen, Eddie.«

Mit etwas zittrigen Fingern griff ich nach einer Maske. Es war das übliche Heeresmodell. Nicht viel besser als die, die wir hatten tragen müssen, als Deutschland zuletzt gegen uns in den Krieg gezogen war. Ich versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu halten und nicht wieder die dunkle Panik zu durchleben wie vor einem Menschenleben, als ich zuletzt so eine Maske getragen hatte. Ich erinnerte mich an einen anderen Morgen, damals, als ich kurz Gas in Nase und Augen brennen spürte, ehe ich noch rechtzeitig die Maske aufbekam und durch den gelben Nebel die Unglücklichen sah, die zu lange mit dem Aufsetzen gewartet hatten und nun qualvoll am Boden eines Schützengrabens starben.

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, hörte ich den Sergeanten sagen. »Das Gas hat sich bestimmt schon verflüchtigt, aber wir gehen besser auf Nummer sicher.«

Er führte uns zu sechs Schutzpolizisten, die eng zusammenstanden und Masken trugen.

»Guten Morgen, Eddie«, sagte der einzige Zivilist zu mir. »Zuschauer haben wir ja nicht jeden Tag.«

Bouchard, der Gerichtsmediziner, war – obwohl nur ein paar Jahre älter als ich – immer im altmodischen Cutaway unterwegs und trug seine grau melierten Haare nach hinten gekämmt wie ein Philosoph der Belle Époque. Obwohl auch sein Gesicht unter einer Maske steckte, beruhigte mich seine Gegenwart.

»Schwieriges Publikum. Ich lasse Sie nachher den Hut rumreichen.«

Der Sergeant winkte uns, ihm zu folgen. Wortlos führte er uns zu drei Güterwagen auf einem Nebengleis, deren Schiebetüren geschlossen waren. Er zeigte auf den mittleren Waggon. Das Belüftungsgitter knapp unterm Dach war mit Lumpen verstopft. Ein kleines Loch zeigte, wo sich die Füllung gelockert hatte. Ich nickte dem Sergeanten zu, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte.

Wir drei gingen zum Waggon. Auban blieb zurück. Das Schloss war bereits geöffnet; eine Metallstange, offenkundig verkeilt, um die Tür versperrt zu halten, lag am Boden. Vorsichtig schob der Sergeant sie auf, beugte sich vor, erklomm die Metallstufe, zog sich hoch und wies auf etwas an der Wand gegenüber: ein Häufchen dunkle Glasscherben und ein Fleck, der auf dem Holzboden kaum zu sehen war. Gelblicher, vom Sergeanten aufgewirbelter Staub schwebte im spärlichen Licht und sank langsam wieder auf die rohen Bretter.

»Chlor«, sagte er mit verzerrter Stimme.

Ich kletterte hinein, Bouchard mir nach. Meine Augen mussten sich kurz an das Halblicht gewöhnen – und an den unwirklichen Anblick des trüben Innenraums durchs billige Glas der Maske. Ich wünschte, sie hätten es nicht getan. Ein Mann, dessen Hand noch zur Tür wies, lag zusammengesunken an der Wand gegenüber. Er war gestorben, als er das Schloss hatte aufbrechen wollen. Erneut sah ich die verzweifelten, vorquellenden Augen und die geschwollene Kehle, von denen ich gehofft hatte, sie nie wieder zu sehen. Der gleiche durchsichtige Speichel war vom Kinn auf die Brust geflossen. Ich atmete flach unter der engen Maske.

Der Sergeant wies nach links. Auch dort Glasscherben am Boden. An der Wand darüber zeigte ein feuchter Fleck, wo die Flasche am Holz zerbrochen war. Unter dem Gitter lag ein zweiter Mann, in der Hand etwas von der Füllung; auch sein Gesicht war rot und geschwollen. In seinen Zügen standen die gleiche Qual und Panik. Hinter ihm lagen noch zwei Männer. Kratzspuren auf den Planken zu ihren Füßen zeigten, dass sie vor dem Gas hatten fliehen wollen, ihre Köpfe waren in letzter Ergebung gegen die Wand geschmiegt. Ich hatte Schützengräben voller Männer gesehen, die so dalagen, doch selten war ihr Anblick so verzweifelt gewesen wie in diesem schmutzigen Güterwagen auf einem Nebengleis am ersten echten Morgen meines neuen Krieges.

Ich spürte eine Beklemmung nach meiner Brust greifen, die nicht vom Gas kam, sondern von dem Gefühl, die Maske kralle sich in mein Gesicht. Keine Sekunde konnte ich sie ...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2021
Reihe/Serie Eddie Giral
Übersetzer Andreas Heckmann
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Besatzung von Paris durch Nazis • Ermordete Flüchtlinge in Paris • Französischer Widerstand • Historischer Kriminalroman • Kriminalroman • Nazis in Paris • neues Buch • Paris • restistance • Spannung • ST 5258 • ST5258 • suhrkamp taschenbuch 5258 • Untergrund • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-76819-0 / 3518768190
ISBN-13 978-3-518-76819-8 / 9783518768198
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