Der Scharlatan (eBook)

Der unveröffentlichte Roman aus dem Nachlass des Nobelpreisträgers
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-76872-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Scharlatan -  ISAAC BASHEVIS SINGER
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New York in den 1940er Jahren: Während in Europa der Krieg wütet, sucht Hertz Minsker, selbsternannter Philosoph, Lebemann und chronisch pleite, sein Glück in Amerika. Bronja, seine vierte Frau, hat für ihn ihren Ehemann und ihre Kinder in Warschau zurückgelassen, jetzt schlagen sich die beiden mehr schlecht als recht durchs Leben. Unterstützung erhalten sie von Morris Calisher, einem Freund aus Jugendtagen, der mit Immobilien reich geworden ist. Dieser ahnt allerdings nicht, dass Hertz längst eine leidenschaftliche Affäre mit seiner Frau Minna begonnen hat ...

Der Scharlatan zeichnet ein eindrückliches Bild vom Leben der emigrierten Juden im New York der 1940er Jahre, das trotz der düsteren Grundstimmung immer wieder Momente voller Lebensfreude und Liebe bereithält.



<p>Isaac Bashevis Singer wurde am 21. November 1902 in Polen geboren. In seinen Jugendjahren gab er den 14. Juli 1904 als offizielles Geburtsdatum an, eine vorsichtige Richtigstellung erfolgte im Alter. Singer wuchs in Warschau auf und emigrierte 1935 in die USA. Er lebte in New York und geh&ouml;rte dort bald zum Redaktionsstab des <em>Jewish Daily Forward</em>. 1978 wurde ihm f&uuml;r sein Gesamtwerk der Nobelpreis f&uuml;r Literatur verliehen. Er starb am 24. Juli 1991 in Miami.</p>

1.


Anfangs sagten sie alle das Gleiche: Amerika, das ist nichts für mich. Aber nach und nach richteten sie sich ein und lebten nicht schlechter als in Warschau.

Mosche – oder Morris – Calisher versuchte sich in Immobilien und begriff schnell, dass man hier nicht mehr davon verstehen musste als in Warschau. Man kaufte ein Haus und kassierte die Mieten. Mit einem Teil der Einkünfte zahlte man das Darlehen ab, finanzierte, was man zum Leben brauchte, und hatte dann immer noch genug übrig für eine Anzahlung auf ein zweites Haus. Man musste nur einen Anfang machen, und Morris Calisher hatte seine erste Immobilie schon 1935 gekauft. Sein Glück hatte ihn nicht verlassen.

Die Flüchtlinge sagten, Morris Calisher sei beim Geschäftemachen in seinem Element wie der Fisch im Wasser. Er schrieb immer noch gern Zahlen auf Tischtücher und Adressen auf seine Manschetten. Er zog sich immer noch an wie gerade ins Land gekommen. Steife Kragen, Hemden mit gestärkten Manschetten, Schuhe mit Gamaschen – sogar im Sommer – und eine Melone, obwohl sie längst aus der Mode war. In seiner schwarzen Krawatte steckte eine Nadel mit einer Perle. So hatte er auf seine Art angefangen, Warschau in New York wiederaufzubauen.

Statt im Café Bristol oder im Lurs zu sitzen, wurde Calisher Stammgast in einer Cafeteria. Er trank seinen schwarzen Kaffee aus einem Glas statt einem Becher. Er fand sogar jemanden, der ihm servierte, weil er es hasste, Tabletts herumzutragen wie ein Kellner. Er rauchte eine Zigarre, kratzte sich mit einem Zahnstocher im Ohr, schlürfte seinen schwarzen Kaffee, und dabei schwirrten ihm Pläne durch den Kopf. Ja, es stimmte – in Amerika waren die Straßen mit Gold gepflastert. Man musste nur verstehen, es aufzuklauben.

Amerika stand am Rand eines Krieges. Die Preise für Waren schnellten in die Höhe, und Bankkredite konnte man sich mühelos verschaffen. Morris Calisher rechnete sogar damit, dass die Aktien früher oder später steigen würden. Englisch sprechen konnte er noch nicht, aber die Zeitungen hatte er gelesen und sich eine Vorstellung von dem verschafft, was an der Wall Street vorging. Er sagte zu seinem Freund Hertz Minsker: »Hör mir zu und vergiss deine Narreteien. Werde Geschäftsmann wie alle anderen Juden. Denk dran: Du musst nur den ersten Schritt machen. Von Freud kannst du nicht leben.«

»Du weißt ganz genau, dass ich kein Freudianer bin.«

»Wo ist der Unterschied? Freud-Schmeud, Adler-Schmadler, Jung-Schmung. Das Zeug ist doch keinen Pfifferling wert. Für einen Ödipuskomplex kannst du dir gar nichts kaufen.«

»Wenn du nicht aufhörst, von Psychoanalyse zu faseln, sind wir geschiedene Leute.«

»Schon gut, ich will mich nicht in deine Wissenschaft einmischen. In diesen Dingen bin ich ein Ignorant, stimmt, aber ich bin ein praktischer Mensch. In Amerika muss man sich ändern. Hier muss sogar ein Rabbi Geschäftsmann werden. Du könntest ein neuer Aristoteles sein, aber wenn du in einer Wohnung verrottest, die nicht deine ist, kräht kein Hahn nach dir. Und selbst wenn der Messias nach New York käme, müsste er vorher in der Zeitung Reklame für sich machen.«

Morris Calisher war gedrungen, breitschultrig, seine Hände und Füße waren zu groß, und in Polen hätte man gesagt, sein Kopf sei ein Wasserkopf. Auf dem kahlen Schädel sprossen ein paar Haarbüschel. Er hatte eine hohe Stirn, eine krumme Nase, dicke Lippen und einen kurzen Hals. An der Kinnspitze hatte Morris Calisher ein symbolisches Bärtchen stehen lassen – ein Zeichen, dass er sein Judesein nicht ganz aufgegeben hatte. Seine Augen waren groß, schwarz und vorquellend – Kalbsaugen.

Er stammte aus einer chassidischen Familie und hatte in seiner Jugend in der Jeschiwa von Gora und am Hof des Sochaczéwer Rabbis gelernt. Er hatte die Tochter reicher Eltern geheiratet, die nach ein paar Jahren gestorben war und ihm einen Sohn hinterließ, den er Leibele nach seinem Großvater väterlicherseits genannt hatte, und eine Tochter, der er den Namen Feigele Malka ihrer Großmutter mütterlicherseits gab. Aber selbst nannten sie sich Leon und Fania. Leon studierte in der Schweiz. Er stand in Zürich kurz vor seinem Examen als Elektroingenieur. Fania war zweiundzwanzig, hatte zunächst an der Warschauer Universität studiert und sich jetzt für ein paar Kurse an der Columbia University eingeschrieben. Da sie sich mit ihrer Stiefmutter nicht verstand, war sie aus dem Haus ihres Vaters ausgezogen und wohnte in einem Hotel. Sie hatte ihren Namen amerikanisiert und hieß jetzt Fanny.

Morris Calishers zweite Frau, Minna, schwor, dass sie Fania besser behandle, als die eigene Mutter es hätte schaffen können. Sie habe ihr Leben für das Kind geopfert, aber das Mädchen habe Gutes mit Bösem vergolten. Morris wusste, dass das stimmte. Das Mädchen war übellaunig erwachsen geworden und hatte etwas von einer jüdischen Antisemitin. Ihrem Vater begegnete sie mit offenem Spott. Sie hatte ihn schon vorgewarnt: Sie würde keinen Juden heiraten, und zum ersten Mal hatte Morris Calisher sie geschlagen. Nicht lange danach war sie ausgezogen. Er schickte ihr jede Woche einen Scheck mit der Post.

Er redete auf Hertz Minsker ein: »Wenn du nicht Geschäftsmann wirst, mach eine Praxis auf. In New York gibt’s reichlich Verrückte.«

»Dafür brauchst du – wie sagt man – eine Lizenz.«

»Schließlich hast du studiert. Du bist Freuds Schüler.«

»Man muss eine Prüfung bestehen.«

»Na und, das schüttelst du doch aus dem Ärmel.«

»Das Englische fällt mir schwer. Außerdem will ich mich nicht den Damen aus der Park Avenue ausliefern.«

»Was willst du denn? Den Mond und die Sterne?«

»Lass mich in Ruhe. Ich kann nicht mitten in einer Weltkatastrophe eine Karriere anfangen. Dieser Hitler ist kein Witz. Der ist der Teufel selbst, der Erzfeind Asmodäus, der gekommen ist, den letzten Lichtfunken zu löschen von der einen Seite und Stalin – möge sein Name ausgelöscht sein – von der anderen. Es ist der Krieg zwischen Gog und Magog – wenn du Vergleiche magst. Noch sind keine Steine vom Himmel gefallen, aber was sind Bomben? In Polen sind die Juden in furchtbarer Gefahr. Wer weiß, was da passieren wird? Ich kann nicht mitten in dieser Katastrophe sitzen und den Klagen irgendeiner amerikanischen Yenta zuhören, die mit siebzig bedauert, dass sie vor vierzig Jahren ihren Ehemann nicht betrogen hat! Ich flehe dich an: Nenn mich nicht Psychoanalytiker. Das ist die größte Kränkung für mich. Das ist, als würdest du mir ein Messer ins Herz stoßen.«

»Gott behüte, ich will nicht, dass du dich grämst. Du weißt, wie viel ich von dir halte. Es ist nur, dass mir deine Frau leidtut. Das ist kein Leben für sie. Schließlich ist sie Luxus gewohnt.«

»Ich hab sie nicht gezwungen. Sie hat von vornherein gewusst, worauf sie sich einlässt.«

»Trotzdem, Männer sind robuster. Wir haben unsere Ambitionen, unsere Fantasien, unsere – Dummheiten, sagen wir mal. Frauen sind abhängig von Kleinigkeiten. Deine Fenster blicken auf eine Mauer. Und ich hab dich tausend Mal gebeten, in diese Wohnung in meinem Haus zu ziehen. Inzwischen ist da alles vermietet.«

»Ich will nicht, ich will nicht. Sie wollte auch nicht. Du hast uns geholfen, herüberzukommen, und das reicht. Ich will kein Nassauer werden. Übrigens ist sie heute arbeiten gegangen.«

»Oh? Wohin denn?«

»In eine Fabrik.«

»Nicht gut. Das ist nichts für sie.«

»Ich hab sie nicht dazu gezwungen. Sie hat es selbst gewollt. Ich habe sie davor gewarnt. Was kann man mehr tun als jemanden warnen? Alles weiß man sowieso nicht. Gestern habe ich von einer grässlichen Explosion geträumt und dass alle Wolkenkratzer krachend zusammengestürzt sind. So realistisch, als wäre es tatsächlich passiert. Das Empire State Building schwankte wie ein Baum im Sturm. Das war nur ein Traum, aber er hat mir keine Ruhe gelassen.«

»New York werden sie schon nicht zerstören.«

»Warum nicht? Auch...

Erscheint lt. Verlag 18.4.2021
Übersetzer Christa Krüger
Sprache deutsch
Original-Titel The Charlatan
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1940er Jahre • 2. Weltkrieg • Amerika • Emigration • Glücksucher • Judentum • Liebe • neues Buch • New York • ST 5263 • ST5263 • suhrkamp taschenbuch 5263
ISBN-10 3-633-76872-6 / 3633768726
ISBN-13 978-3-633-76872-1 / 9783633768721
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