Unser tägliches Brot (eBook)
341 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-7755-8 (ISBN)
Thomas von Waschberg wurde in Kroatien geboren und ist nach seinem Studium der Elektrotechnik nach Österreich ausgewandert. Dass er sein Leben lang einen technischen Beruf ausgeübt hat, hat ihn nicht daran gehindert, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Sein erster Roman 'Unser tägliches Brot' entstand als Ergebnis langer Überlegungen und als Ausflug in die Welt der Literatur. Thomas von Waschberg schreibt unter Pseudonym.
II
„Rocco! Wach auf. Es ist halb neun. Du bist schon wieder spät dran.“
Rocco versuchte die Augen zu öffnen, aber die angenehme Dunkelheit unter seinem Kopfkissen machte ihm ein unwiderstehliches Angebot, weiterzuschlafen. Er lag wie immer auf seinem runden Bauch mit dem Kopf unter dem Polster. Im Zimmer war es ziemlich hell, da die Jalousien mit der Zeit an Dichte verloren hatten. Es war ein Haus aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, das schon bessere Zeiten erlebt hatte. Für notwendige Reparaturen gab es nie genug Geld. Oder besser gesagt, es gab keine Einigkeit der Hausbewohner, gemeinsam in die Reparatur und Wartung zu investieren. Die goldenen Zeiten der Industrialisierung, als die Stadt San Ippolito ihren Höhenpunkt der architektonischen Entwicklung erlebt hatte, waren längst vorbei. Die Hauptstadt der Reggio Basso war eine geteilte Stadt, sowohl physisch, durch den Fluss, als auch durch ihre Bewohner und ihre unterschiedliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Der Osten der Stadt war industriell geprägt, mit halbleeren oder verwahrlosten Fabrikgeländen und -gebäuden, die der weltweiten Globalisierung zum Opfer gefallen waren, und der Westen war der bürgerliche Teil mit dem alten, historischen Kern. Aber nicht nur auf diese Weise wurde San Ippolito geteilt. Der politische Graben war noch tiefer und breiter als der Fluss. Emanuele Rizzo, der Bürgermeister, stammte nicht aus San Ippolito, sondern aus einer der am wenigsten entwickelten Regionen des Landes. Er war ein professioneller Politiker. Sein politischer Weg, voll Höhen und Tiefen, hatte ihm letztendlich den Posten des Bürgermeisters eingebracht. Die Alteingesessenen behaupteten, dass er seine Wählerschaft in all diesen Jahren gezielt und geplant erweitert hatte, indem er massenhaft Arbeitskräfte aus seiner Heimatgegend nach San Ippolito brachte. Sie arbeiteten in den Überresten der Fabriken, aber auch in der Stadtverwaltung. Rizzo hatte überall seine Leute positioniert. Die alten Beziehungen spielten dabei eine große Rolle und er hatte dadurch ein starkes und stabiles Wählerfundament aufgebaut. Der Bürgermeister wurde direkt gewählt und die Opposition war schon seit Jahren nicht im Stande gewesen, einen gemeinsamen Kandidaten zu bestimmen, der sich gegen Rizzo hätte durchsetzen können. Die Stadt und ihre Bewohner befanden sich zwischen diesen zwei Fronten und litten darunter. Man konnte nicht einmal sagen, dass es an Geld mangelte und deswegen alle größeren Kapital- oder Investitionsprojekte noch vor ihrem Beginn zum Scheitern verurteilt waren. Das Geld wurde schlicht und einfach in vollkommen falsche Projekte investiert, behaupteten die Kritiker des Bürgermeisters. Es war ein ständiger Kampf zwischen dem Bürgermeister auf der einen und der Opposition im Stadtrat auf der anderen Seite. Trotz alledem gelang es dem Bürgermeister immer wieder, Projekte zu realisieren, die eigentlich nur der politischen Werbung dienten. Böse Zungen behaupteten sogar, dass sie lediglich dazu da waren, das Stadtgeld abzuzweigen und zu entwenden. Der Bürgermeister war bekannt für seine populistischen und pompösen Auftritte in allen möglichen Medien und bei allen möglichen Veranstaltungen. Gut informierten Quellen zufolge hatte er ein breit ausgebautes Netz aus Privatfirmen, die nach dem Geschmack eines Normalsterblichen bzw. frei denkenden Bürgers viel zu oft mit verschiedenen öffentlich finanzierten Projekten beauftragt wurden. Es hatte aber nie Beweise für irgendwelche dunklen und illegalen Machenschaften gegeben. Eines der großangelegten Projekte war die Renovierung des Rathauses gewesen, eines mittelalterlichen Palastes im Zentrum der Stadt.
Das Gebäude, in dem der Commissario Rocco Francesco Capra lebte, war eines der vielen Opfer der Zeit und des politischen Klimas der Stadt: zweistöckig, mit einer desolaten Fassade, undichten Fenstern und Jalousien, die tagsüber verräterisch viel Licht ins Innere der kleinen Wohnung im obersten Stock durchließen. Es war eine Wohnung mit einem Wohnschlafzimmer, einer winzigen Küche und einem Bad, klein, aber für einen alleinlebenden Mann im besten Alter groß genug. Das Zimmer war einfach möbliert und zweckmäßig in zwei Einheiten getrennt. Im vorderen Teil, neben der Tür zum kleinen Vorzimmer, befand sich ein kleiner Esstisch mit zwei Stühlen. Es waren nur zwei, weil es keinen Platz für einen dritten gab. Im hinteren Teil, rechts vom Fenster zur Straße, stand eine niedrige Kommode, mit einer doppelten Tür unten und zwei breiten Schubladen nebeneinander im oberen Teil. Auf der Kommode befanden sich ein altmodischer Fernseher mit einer improvisierten Antenne aus Draht und ein Plattenspieler. Neben der Kommode, an sie direkt angelehnt, stand ein alter, massiver Schrank mit einer glänzenden Oberfläche aus lackiertem Holz. In der Ecke links vom Fenster fand eine ausziehbare Couch ihren Platz. Sie war weder ein ästhetisches Meisterstück noch ein praktisch zu handhabendes Produkt, wie es aktuell bei einem berühmten Möbelproduzenten des fernen europäischen Nordens zu finden wäre, aber sie leistete ihre Dienste Tag und Nacht, sowohl als Schlafplatz als auch als Sitzmöglichkeit. Zwischen der Couch und der Kommode stand ein leerer Couchtisch.
„Rocco! Wach endlich auf!“, drängte die ihm bekannte Stimme weiter und eine Hand zog ihm energisch das Kissen vom Kopf. Ein Lichtstrahl von der Stärke einer kleineren Atombombe traf ihn in die plötzlich ungeschützt gewordenen Augen und er zog automatisch die Decke über sein Gesicht.
„Rocco, Signor Monti hat angerufen. Du kommst wieder zu spät ins Büro. Er hat versucht, dich am Handy zu erreichen, aber du hast nicht geantwortet.“
„Ja, Mama“, sagte er nur und drehte sich zur Wand.
„Es ist dringend, hat er gesagt. Er hat dich nicht erreicht, daher hat er bei mir angerufen. Du musst sofort in die Questura.“
Rocco zog langsam die Decke von seinem Gesicht und versuchte die Augen zu öffnen. Das Erste, was er sah, war das vertraute Antlitz seiner Mutter. Es musste also wirklich schon halb neun sein, da sie jeden Tag um diese Zeit in seine kleine Wohnung kam. Das war ein Kompromiss zwischen den beiden. Sie brachte ihm etwas zum Essen und ein frisch gebügeltes Hemd für den nächsten Tag. Er wollte aber in der Früh seine Ruhe haben, die er in Anwesenheit seiner Mutter in dieser kleinen Wohnung sicher nicht hätte. Der Kompromiss war also, dass sie erst erschien, nachdem er schon gegangen war. Diese Abmachung klappte wunderbar, bis auf die Tage, an denen Rocco einfach seinen Wecker überhörte oder dieser gar nicht klingelte. Es war nämlich ein altmodischer Wecker zum Aufziehen, der eine gewisse Disziplin seines Besitzers verlangte. Und genau diese Disziplin war eine von Roccos Schwächen.
„Was wollte der Chef denn?“, fragte Rocco, noch immer gegen die Lichtstrahlen kämpfend.
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist irgendwo ein Mord passiert.“
„Mama, bitte. Seitdem ich bei der Polizei bin, gab es keinen einzigen Mord in San Ippolito“, gab er fast enttäuscht zurück. Rocco, offizieller Leiter der Mordkommission, die übrigens nur einen einzigen Mitarbeiter hatte, nämlich ihn selbst, kannte Morde nur aus theoretischen Vorträgen und den Medien. Er wusste nicht, ob das für ihn gut war oder nicht, aber er erwischte sich ab und zu bei dem Gedanken, sich einen guten und brutalen Mord zu wünschen. „Es muss also wie immer entweder eine dieser Wandschmierereien oder ein Einbruch irgendwo auf der anderen Seite gewesen sein.“ „Andere Seite“ war ein geläufiger Begriff für den Stadtteil jenseits des Flusses.
„Steh auf, geh duschen und frühstücke dann. Ich mache dir in der Zwischenzeit einen Kaffee.“
...Erscheint lt. Verlag | 6.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7534-7755-9 / 3753477559 |
ISBN-13 | 978-3-7534-7755-8 / 9783753477558 |
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