Nordnacht (eBook)
608 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-27358-3 (ISBN)
Die Romane von John Gwynne sind nichts für schwache Nerven: In England und in den USA steht der Autor für ein intensives, brutales und viele tausend Seiten umspannendes Fantasy-Erlebnis, das auch zahlreiche deutsche Leser begeistert hat. Jetzt erscheint Gwynnes neue Saga, die ihm den Durchbruch beschert: In »Nordnacht« treten Leser*innen eine Reise in eine Fantasywelt an, die der skandinavischen Mythologie entlehnt ist: Unheimliche Wesen, die an Andrzej Sapkowskis Monster erinnern, bevölkern den Norden. Ausgerechnet drei sterbliche Menschen müssen in dieser grausamen Welt bestehen und der größten Bedrohung entgegentreten: den von den Toten wiederauferstandenen Göttern ...
Alle Bänder der Saga der Blutgeschworenen:
Nordnacht
Frostnacht (in Vorbereitung)
Blutnacht (in Vorbereitung)
John Gwynne studierte an der Brighton University, wo er später auch unterrichtete. Er spielte Kontrabass in einer Rock'n'Roll-Band, bereiste die USA und lebte in Kanada. Heute ist er verheiratet, hat vier Kinder und führt in England ein kleines Unternehmen, das alte Möbel restauriert. Nach seiner preisgekrönten Saga »Die Getreuen und die Gefallenen« und der daran angelehnten Reihe »Blut und Knochen« beginnt mit »Nordnacht« die nächste große Fantasy-Serie des SPIEGEL-Bestsellerautors: »Die Saga der Blutgeschworenen«.
KAPITEL EINS
ORKA
Im Jahr 297 von Friðaröld, Zeitalter des Friedens
»Der Tod ist ein Teil des Lebens«, flüsterte Orka ihrem Sohn ins Ohr.
Obwohl Breca mit dem Eschenspeer in seiner kleinen verkrampften Faust weit ausholte und auf das Rentier vor ihnen zielte, sah sie das Zögern in seinen Augen, bemerkte es an seinem verbissenen Kiefer.
Er ist zu weich für diese Welt des Schmerzes, dachte Orka. Sie wollte ihn schelten, doch eine Hand legte sich auf ihren Arm. Neben Brecas kleiner Faust war sie riesig und rau, im Gegensatz zu der weichen Haut des Jungen.
»Warte.« Thorkel stieß eine Atemwolke durch seinen geflochtenen Bart. Er stand neben ihr, groß und fest wie ein Fels.
Orkas Wangenmuskeln arbeiteten, und ihr lag eine harte Zurechtweisung auf der Zunge.
In dieser brutalen Welt braucht es deutliche Worte.
Aber sie blieb stumm.
Die Frühlingssonne sandte helle Tupfer durch die sanft schwankenden Zweige in Richtung Boden und funkelte auf vereisten Schneeflecken; der letzte Raureifkuss des Winters in diesem waldigen Bergland in eisiger Höhe. Ein Dutzend Rentiere äste auf einer Lichtung. Die Herde aus Kühen und Kälbern wurde von einem Bullen mit einem gewaltigen Geweih bewacht, während sie in Ruhe fraßen und Moos und Flechten von Bäumen und Felsbrocken kratzten.
Brecas Blick veränderte sich plötzlich, er holte tief Luft und hielt den Atem an, bevor er förmlich explodierte. Er drehte die Hüfte, und sein Arm schoss nach vorn. Das scharfe Eisen des Speers teilte zischend die Luft, und Stolz erfüllte Orkas Brust. Es war ein guter Wurf; schon in dem Augenblick, als sich Brecas Hand vom Speer löste, wusste sie, dass er sein Ziel treffen würde.
Doch im selben Herzschlag blickte das Rentier, auf das Breca seinen Speer schleuderte, von dem Stamm auf, an dem es Flechten gekaut hatte. Seine Ohren zuckten, und mit einem Satz sprang es vorwärts. Der Rest der Herde reagierte sofort. Die Tiere setzten über Baumstämme hinweg und flüchteten tiefer in den Wald. Brecas Speer schlug in den Baumstamm und blieb mit zitterndem Schaft stecken. Einen Moment später hörte man das Krachen von Zweigen aus östlicher Richtung, und eine Gestalt brach durch das Unterholz. Ein riesiges Tier mit schieferfarbenem Fell und langen Krallen stürmte auf die Lichtung. Die Rentiere flohen in alle Richtungen, als das Raubtier zwischen sie sprang, ohne jedoch auch nur auf sie zu achten. Blut quoll aus einer Reihe von Wunden, Geifer schimmerte auf den langen Zähnen, und seine rote Zunge hing ihm aus dem Maul. Im nächsten Moment war es im dämmrigen Wald verschwunden.
»Was … Was war das?« Brecas fragender Blick wanderte zwischen Vater und Mutter hin und her.
»Ein Woelven.« Thorkel lief los, denn an Verstohlenheit war jetzt nicht mehr zu denken. Er drängte sich durch die Zweige des Dickichts auf die Lichtung, den schweren Speer in der Faust. Orka und Breca folgten ihm. Thorkel ging auf ein Knie, zog mit den Zähnen einen Handschuh aus, tauchte die Finger in das Blut des Wolfs und fuhr damit über seine Zungenspitze. Er spuckte aus, richtete sich auf und folgte der Blutspur zum Rand der Lichtung. Dort blieb er stehen und spähte in die Dunkelheit.
Breca ging zu seinem Speer, dessen Blatt bis zur Hälfte in den Stamm einer Kiefer eingedrungen war, und versuchte ihn herauszuziehen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, die Waffe rührte sich nicht. Er blickte Orka an. Seine graugrünen Augen leuchteten in dem blassen schmutzigen Gesicht mit der geraden Nase und dem kräftigen Kinn, umrahmt von rabenschwarzem Haar. Er ähnelte so sehr seinem Vater und war so anders als sie – bis auf die Augen. Er hatte Orkas Augen.
»Ich hab ihn verfehlt.«
Orka packte den Schaft mit ihrer behandschuhten Rechten und zog den Speer heraus.
»Ja.« Sie gab Breca seinen Speer, der einen halben Arm kürzer war als ihrer und der von Thorkel.
»Das war nicht deine Schuld.« Thorkel stand immer noch am Rand der Lichtung und starrte in die Dämmerung. Ein dicker Zopf seines schwarzen, von grauen Strähnen durchzogenen Haares hing unter der Wollmütze heraus.
»Der Woelven hat sie erschreckt.«
»Warum hat er kein Rentier gerissen?«, fragte Breca, während er seinen Kurzspeer von Orka zurücknahm.
Thorkel hob die Hand und zeigte seine blutigen Fingerspitzen. »Er war verwundet und dachte nicht an sein Abendessen.«
»Wer kann einem Woelven so etwas antun?«, erkundigte sich Breca.
Die beiden Erwachsenen schwiegen.
Orka ging zum anderen Ende der Lichtung, den Speer stoßbereit, während sie das dunkle Loch in dem Dickicht untersuchte, aus dem der Wolf aufgetaucht war. Sie hielt inne und legte den Kopf schief. Ein schwaches Geräusch waberte wie Nebel durch den Wald.
Schreie.
Breca ging zu ihr, den Speer mit beiden Händen gepackt und in die Dunkelheit gerichtet.
»Thorkel«, sagte Orka gepresst und blickte über die Schulter zu ihrem Mann. Der starrte immer noch in die Richtung, in die der verletzte Wolf verschwunden war. Mit einem letzten Blick schüttelte er seine pelzbedeckten Schultern, drehte sich um und ging zu ihr.
Weitere Schreie ertönten, schwach und weit entfernt.
Orka und Thorkel wechselten einen vielsagenden Blick.
»Asgrims Gehöft liegt in dieser Richtung«, sagte sie.
»Harek.« Breca meinte Asgrims Sohn. Sie hatten zusammen am Strand von Fellur gespielt, wenn Orka und Thorkel die Siedlung besucht hatten, um Vorräte einzutauschen.
Wieder drang ein schwacher Schrei zwischen den Bäumen hindurch.
»Wir sollten nachsehen«, murmelte Thorkel. Orka brummte zustimmend.
Ihre Atemwolken umhüllten sie, als sie durch den Kiefernwald gingen. Der Boden war dicht mit Nadeln bedeckt. Es war Frühling, und in der Welt unten gab es die ersten Anzeichen neuen Lebens. Aber der Winter klammerte sich an die bewaldeten Hügel wie ein störrischer alter Krieger, der seine Vergangenheit nicht loslassen wollte. Sie gingen hintereinander, Orka an der Spitze. Ihr Blick glitt stetig von dem Wolfspfad, dem sie folgten, zu den tiefen Schatten um sie herum. Alter, vereister Schnee knirschte unter ihren Füßen, als der Wald sich lichtete und sie auf einen Kamm traten. Nach Westen fielen scharf steile Klippen ab, und Wolkenfetzen trieben am freien Himmel unter ihnen. Orka blickte hinunter. Dünne Rauchsäulen der Herdfeuer erhoben sich tief unten von Fellur. Das Fischerdorf lag am östlichen Rand eines tiefen blauschwarzen Fjords, dessen ruhiges Wasser in der blassen Frühlingssonne schimmerte. Möwen kreisten kreischend darüber.
»Orka«, sagte Thorkel. Sie blieb stehen und drehte sich um.
Thorkel entkorkte einen Wasserschlauch und gab ihn Breca, der trotz der Kälte rot im Gesicht war und schwitzte.
»Seine Beine sind nicht so lang wie deine.« Thorkel lächelte in seinen Bart. Die Narbe auf seiner Wange, die bis zum Kiefer reichte, verzerrte seinen Mund.
Orka blickte den Pfad zurück, dem sie folgten, und lauschte. Sie hatte jetzt schon eine Weile keine Schreie mehr gehört, also nickte sie Thorkel zu und griff nach ihrer eigenen Wasserflasche.
Sie setzten sich kurz auf einen Felsen und blickten über das grünblaue Land, wie Götter, die auf dem Scheitelpunkt der Welt saßen. Im Süden mündete der Fjord von Fellur ins Meer. Dort erstreckte sich eine zerklüftete Küstenlinie nach Westen und nach Süden, durchsetzt und vernarbt von tiefen Fjorden und Meeresarmen. Eisengraue Wolken ballten sich über dem Meer zusammen und verhießen Schnee. Weit im Norden zog sich eine bewaldete, schneebedeckte Bergkette über das Land. Sie erstreckte sich über den ganzen Horizont von Osten nach Westen. Ab und zu schimmerten blanke Felswände, die uralten Wurzeln der Berge. Aus dieser Entfernung waren sie nur graue Flecken.
»Erzähl mir noch mal von der Schlange Snaka«, bat Breca, als sie alle auf die Berge blickten.
Orka sagte nichts, sondern hielt ihren Blick auf die welligen Gipfel gerichtet.
»Würde ich dir jetzt diese Sagengeschichte erzählen, kleiner Mann, würden dir Nase und Finger erfrieren. Und wenn du aufstehst, um weiterzugehen, würden deine Zehen wie Eis abbrechen«, erwiderte Thorkel.
Breca sah ihn mit seinen graugrünen Augen nur an.
»Ach, du weißt genau, dass ich diesem Blick nichts abschlagen kann!« Thorkel stieß eine mächtige Atemwolke aus. »Also gut, dann die kurze Geschichte.« Er zog die nadelgebundene Wollmütze herunter und kratzte sich am Kopf. »Alles, was du vor dir siehst, ist Vigrið, die Ebene der Schlacht. Das Land der zerstörten Reiche. Auf jedem Flecken dieses Landes, zwischen Meer und Bergen und noch hundert Wegstunden dahinter, haben die Götter gekämpft und sind gefallen. Snaka war der Vater von allen; einige sagen, er war der Größte unter ihnen.«
»Er war ganz sicher der Größte.« Brecas Stimme und seine großen Augen waren ernst.
»Erzähle ich die Geschichte oder du?« Thorkel hob eine dunkle Braue.
»Du, Vater.« Breca senkte den Kopf.
Thorkel brummte. »Natürlich war Snaka der Größte. Er war der Älteste und der Vater der Götter. Sie nannten ihn Ältester, und er war ungeheuer groß. Das wärst du auch, wenn du dich jeden Tag, seit die Erde geboren wurde, sattgefressen hättest. Aber seine Kinder waren auch nicht zu verachten. Der Adler, der Bär, der Wolf, der Drache, und noch eine ganze Heerschar anderer. Familie kämpfte gegen Familie, bis Snaka von seinen Kindern getötet wurde und fiel. Sein Todessturz zerschmetterte die...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2021 |
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Reihe/Serie | Die Blutgeschworenen | Die Blutgeschworenen |
Übersetzer | Wolfgang Thon |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Shadow of the Gods (The Bloodsworn Saga 1) |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Andrzej Sapkowski • Bernhard Cornwall • Bloodsworn • Blut und Knochen • Bosheit • Der Hexer • Die Getreuen und die Gefallenen • Die Zeit der Finsternis • Die Zeit der Schatten • Die Zeit des Feuers • Drachen • eBooks • Fantasy • Fantasy für Erwachsene • High Fantasy • Jähzorn • Johan Egerkrans • John Gwynne • Macht • Märchenbuch • Neil Gaiman • Neuerscheinung 2021 • Nordische Fantasy • nordische Götter • nordische Mythen • Schildmaid • Spiegel Bestseller Autor • The last kingdom • The Shadow of the Gods • The Witcher • Ungnade • Vikings • Wikinger |
ISBN-10 | 3-641-27358-7 / 3641273587 |
ISBN-13 | 978-3-641-27358-3 / 9783641273583 |
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