Frankenstein oder Der moderne Prometheus (eBook)
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28268-4 (ISBN)
Nach Jahren des Experimentierens ist es dem ehrgeizigen Forscher Victor Frankenstein gelungen, einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Doch das Ergebnis seiner alchemistischen Versuche erschüttert ihn bis ins Mark, und entsetzt überlässt er das Wesen seinem Schicksal. Während dieses verzweifelt nach Nähe und Akzeptanz sucht, hinterlässt es Chaos und Verwüstung ...
Darf künstliche Schöpfung über die natürliche gestellt werden? Welcher moralischen Verantwortung unterliegen wir Menschen? Mit ihrem Erstlingswerk griff die 19-jährige Mary Shelley bereits 1818 grundlegende Fragen auf, die uns heute im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz, Algorithmen und Genforschung so aktuell erscheinen wie nie.
PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. - Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022
Mary Wollstonecraft Shelley (1797-1851) wurde im englischen Somers Town geboren. 1814 folgte sie dem Dichter Percy Bysshe Shelley auf den Kontinent und lebte dort mit ihm zusammen. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete sie ihn 1816. Gemeinsam mit Lord Byron unternahmen beide eine Schweizreise, während der der Roman »Frankenstein« entstand. Percy Shelley starb bereits 1822; daraufhin kehrte Mary Shelley nach England zurück und widmete sich ganz der Herausgabe der Werke ihres Mannes.
Erster Brief:
an Mrs. Saville, England
St. Petersburg, 11. Dezember 17**
Du wirst Dich über die Nachricht freuen, dass einem Unternehmen, hinsichtlich dessen Du so böse Vorahnungen hattest, bislang kein Unglück widerfahren ist. Ich bin gestern hier eingetroffen, und meine erste Pflicht besteht darin, meiner lieben Schwester zu versichern, dass es mir gut geht und dass mein Vertrauen in den Erfolg meines Vorhabens wächst.
Ich bin bereits weit nördlich von London. Während ich durch die Straßen von St. Petersburg spaziere, fühle ich den kalten Nordwind meine Wangen streicheln, der meine Sinne belebt und mich mit Entzücken erfüllt. Kannst Du dieses Gefühl nachempfinden? Diese Brise, die aus Regionen kommt, in die ich selbst vorstoßen werde, gibt mir einen Vorgeschmack auf jene eisigen Gefilde. Von diesem vielversprechenden Wind inspiriert, werden meine Tagträume ungestümer und lebhafter. Vergeblich versuche ich mir einzureden, der Pol sei ein Ort des Eises und der Einsamkeit. Ich stelle ihn mir immer als schöne und freudvolle Region vor. Dort, Margaret, scheint die Sonne immerzu, ihre volle Scheibe steht knapp über dem Horizont und verbreitet einen fortwährenden Glanz. Dort herrschen weder Schnee noch Eis, meine Schwester, wenn Du mir erlaubst, den Berichten früherer Seefahrer ein wenig Vertrauen zu schenken. Und nach einer Fahrt über ein ruhiges Meer könnten wir ein Land erreichen, dessen Wunder und Schönheiten alle Gegenden übertreffen, die bislang auf dem bewohnbaren Erdkreis entdeckt wurden.6 Seine Früchte und Eigenheiten sind womöglich so unvergleichlich wie die wohlbekannten Himmelserscheinungen und ähnliche Phänomene in jener unerforschten Einöde. Was darf man nicht alles von einem Land erwarten, in dem das Licht nie erlischt? Vielleicht entdecke ich dort jene geheimnisvolle Macht, die die Kompassnadel anzieht, und kann tausenderlei Himmelsbeobachtungen überprüfen, die nur dieser einen Reise bedürfen, damit sich aus angeblichen Ausnahmeerscheinungen feste Regeln ableiten lassen. Ich werde meine brennende Neugier durch die Erkundung eines Erdteils stillen, der nie zuvor besucht wurde, und Land betreten, auf das nie zuvor Menschen ihren Fuß setzten. Das ist es, was mich reizt, und hierfür werde ich jeglicher Furcht vor Gefahr und Tod trotzen und die mühselige Reise mit derselben Vorfreude auf mich nehmen, die ein Kind empfindet, wenn es mit seinen Sommergefährten in einem kleinen Boot zu einer Entdeckungsfahrt auf dem heimischen Fluss aufbricht. Sollten sich all diese Vermutungen hingegen als falsch erweisen, kann dennoch niemand bestreiten, dass ich der gesamten Menschheit bis hin zur letzten Generation einen unschätzbaren Dienst erweise, indem ich in der Nähe des Pols eine Durchfahrt zu jenen Ländern entdecke, die zu erreichen man gegenwärtig so viele Monate benötigt, oder indem ich das Geheimnis des Magneten lüfte; was, wenn überhaupt, nur durch ein Unternehmen wie das meine gelingen kann.
Diese Überlegungen haben die Unruhe vertrieben, in der ich meinen Brief begann, und ich fühle in meinem Herzen eine brennende Leidenschaft, die mich nach den Sternen greifen lässt; denn nichts vermag das Gemüt so sehr zu beruhigen wie ein fester Entschluss, ein Fixpunkt, an den die Seele ihr geistiges Auge heften kann. Die Expedition war der innigste Traum meiner Jugendjahre. Mit Begeisterung habe ich die Berichte der verschiedenen Reisen gelesen, die unternommen wurden, um den Nordpazifik über jene Meere zu erreichen, die den Pol umgeben. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass die Bibliothek unseres guten Onkels Thomas einzig und allein aus einer mehrbändigen Geschichte sämtlicher Entdeckungsreisen bestand.7 Man hat meine Bildung vernachlässigt, doch ein leidenschaftlicher Leser war ich trotzdem. Tag und Nacht studierte ich diese Bände, und meine Vertrautheit mit ihnen verstärkte das Bedauern, das ich als Kind empfand, als ich erfuhr, dass der Letzte Wille meines sterbenden Vaters meinen Onkel dazu verpflichtete, mir ein Leben auf See zu verbieten.
Diese Visionen verblassten, als ich zum ersten Mal auf jene Poeten stieß, deren Werke meine Seele verzückten und sie in den Himmel hoben. Ich wandte mich ebenfalls der Dichtkunst zu und lebte ein Jahr im Paradies meiner eigenen Schöpfung. Ich stellte mir vor, auch ich könnte eine Nische in jenem Tempel erobern, in dem die Namen Homers und Shakespeares verehrt werden. Mein Scheitern ist Dir wohlbekannt, und Du weißt, wie sehr ich unter der Enttäuschung gelitten habe. Doch dann erbte ich das Vermögen meines Vetters, und meine Gedanken wurden in ihre früheren Bahnen zurückgelenkt.
Sechs Jahre sind vergangen, seit ich mich zu meinem gegenwärtigen Unternehmen entschloss. Sogar jetzt kann ich mich noch an die Stunde erinnern, als ich mein Leben diesem großen Abenteuer weihte. Zunächst gewöhnte ich meinen Körper an die Strapazen. Ich begleitete die Walfänger auf verschiedenen Expeditionen ins Nordmeer. Freiwillig erduldete ich Kälte, Hunger, Durst und den Mangel an Schlaf. Tagsüber arbeitete ich oft härter als die gewöhnlichen Seeleute, und die Nächte widmete ich dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen Bereichen der Naturwissenschaften, aus denen ein Abenteurer auf See die größten praktischen Vorteile ziehen kann. Tatsächlich heuerte ich zweimal als Zweiter Offizier auf einem Grönland-Walfänger an und erledigte meine Pflichten zur allgemeinen Bewunderung. Ich muss gestehen, dass es mich ein wenig mit Stolz erfüllte, als der Kapitän mir den zweithöchsten Rang auf dem Schiff antrug und mich mit großem Nachdruck bat zu bleiben; so hoch schätzte er meine Leistungen.
Und habe ich es denn nicht verdient, ein großes Ziel zu erreichen, liebe Margaret? Ich hätte mein Leben auch in Sicherheit und Luxus verbringen können, doch ich bevorzugte den Ruhm vor allen Verlockungen, die mir der Reichtum zu Füßen legte. Ach, wenn mich nur eine ermutigende Stimme in meiner Absicht bestärken würde! Mein Mut und meine Entschlusskraft sind unerschütterlich, doch meine Hoffnungen schwanken, und ich fühle mich oft niedergeschlagen. Ich stehe kurz vor dem Aufbruch zu einer langen und mühseligen Reise, deren Strapazen mir all meine Kräfte abverlangen werden. Ich bin nicht nur verpflichtet, anderen Mut zu machen, sondern mir auch meinen zu bewahren, wenn meine Kameraden verzagen.
Dies ist die günstigste Jahreszeit für Reisen in Russland. In Schlitten saust man geschwind über den Schnee. Die Fahrt ist angenehm und meiner Meinung nach viel bequemer als in einer englischen Postkutsche. Die Kälte ist nicht unerträglich, wenn man sich in Pelze wickelt, eine Bekleidung, an die ich mich schnell gewöhnt habe, denn es ist ein beträchtlicher Unterschied, ob man über das Deck marschiert oder stundenlang still sitzt und keine Anstrengung das Blut davor bewahrt, in den Adern zu gefrieren. Ich finde es keineswegs erstrebenswert, mein Leben auf der Poststraße zwischen St. Petersburg und Archangelsk zu beenden.
In zwei oder drei Wochen werde ich mich auf den Weg zu letztgenannter Stadt machen, und dort möchte ich ein Schiff heuern, was sich leicht bewerkstelligen lässt, indem man dem Besitzer die Versicherungssumme bezahlt. Dann werde ich von jenen Matrosen, die als geübte Walfänger bekannt sind, so viele einstellen, wie ich es für nötig halte. Ich habe nicht die Absicht, vor Juni zu segeln; und wann ich heimkehren werde? Ach, liebe Schwester, wie kann ich diese Frage beantworten? Falls ich Erfolg habe, werden viele, viele Monate, vielleicht sogar Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen. Wenn ich scheitere, wirst Du mich bald sehen – oder nie wieder.
Lebe wohl, meine liebe, allerliebste Margaret. Möge der Himmel Dich segnen und mich beschützen, auf dass ich Dir immer wieder meine Dankbarkeit für Deine Liebe und Zuneigung beweisen kann.
Dein Dich liebender Bruder
R. Walton
Zweiter Brief:
an Mrs. Saville, England
Archangelsk, 28. März 17**
Wie langsam hier die Zeit vergeht, während ich von Eis und Schnee umgeben bin; doch ein zweiter Schritt ist gemacht, der mich meinem Ziel näher bringt. Ich habe ein Schiff gemietet und bin damit beschäftigt, meine Mannschaft zusammenzustellen. Auf die Männer, die ich bereits angeheuert habe, scheine ich mich verlassen zu können, und sie sind von unerschrockenem Mut beseelt.
Aber mir fehlt etwas, was ich bislang noch nicht finden konnte und dessen Abwesenheit mich überaus schmerzt. Ich habe keine Freunde, Margaret. Wenn ich vor Begeisterung über meinen Erfolg brenne, gibt es niemanden, mit dem ich mein Glück teilen könnte. Wenn mich Enttäuschungen übermannen, wird niemand sich die Mühe machen, mich vom Aufgeben abzuhalten. Natürlich werde ich meine Gedanken dem Papier anvertrauen, aber das ist keine besonders erfreuliche Art, sich über Gefühle zu äußern. Ich sehne mich nach der Gesellschaft eines gleich gesinnten Menschen, dessen Augen meinen Blick erwidern. Vielleicht hältst Du mich für einen Träumer, liebe Schwester, aber das Fehlen eines Freundes betrübt mich sehr. Es gibt niemanden in meiner Nähe, der sanft und doch mutig, der geistvoll und kultiviert ist, ohne engstirnig zu sein, der dieselben Neigungen hat wie ich, sodass er meine Pläne gutheißen oder verbessern könnte. Wie würde ein solcher Freund jeden Mangel Deines armen Bruders ausgleichen! Ich bin zu ungestüm bei der Umsetzung meiner Pläne und zu ungeduldig, wenn sich Schwierigkeiten ergeben. Doch es ist für mich ein noch größeres Übel, dass ich mir alles selbst beibringen musste. In den ersten vierzehn Jahren meines Lebens trieb ich mich in Wald und Flur herum und las nichts anderes als die Reisebücher meines...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Reihe/Serie | Manesse Bibliothek |
Penguin Edition | Penguin Edition |
Nachwort | Georg Klein |
Übersetzer | Alexander Pechmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Frankenstein |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Alchemie • eBooks • Genforschung • Gentechnik • Horror • junge literaturfans und ihre bücher • Klassiker • Künstliche Intelligenz • Künstlicher Mensch • Literarisches Quartett • Mensch Maschine • Moral • Penguin Edition • Schauerroman • Schöpfung • Thea Dorn • U21 • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-28268-3 / 3641282683 |
ISBN-13 | 978-3-641-28268-4 / 9783641282684 |
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